Es bleibt nur eine Alternative: Lula
ALAI: Wieder wird Brasilien von Korruptionsgeschichten erschüttert, diesmal sind Parlamentarier darin verwickelt. Wohin kann all dies führen?
L.E. Greenhalgh: Die Lage im Land ist sehr ernst, wir sind in einer Sackgasse. Die Korruption hat mit der Absetzung von Collor nicht aufgehört, sondern ist noch schlimmer geworden, nachdem nun auch Parlamentarier und Richter in Verdacht gekommen sind.
Das Land ist gelähmt, und alle Blicke sind nur auf die Korruptionsskandale gerichtet. Die Regierung regiert schon nicht mehr, die Streitkräfte tun so, als sei nichts, das Parlament verabschiedet keine Gesetze, seit es die Überarbeitung der Verfassung unterbrochen hat, die Justiz erfüllt ihre Funktion nicht mehr, und das Volk ist empört. Das alles hat eine politische Situation geschaffen, die den Zeitplan für die Verfassungsreform durcheinandergebracht hat. Es gibt möglicherweise vorgezogene Wahlen, und man kann auch Putschpläne nicht mehr ganz ausschliessen.
Präsident Itamar Franco persönlich hat geklagt, auf ihn werde Druck ausgeübt, einen Staatsstreich nach Fujimori-Art durchzuführen. Wie wahrscheinlich erscheint Ihnen eine solche Entwicklung?
Hätte Itamar die politische Macht, hätte er bereits den Kongress geschlossen und einen Staatsstreich wie Fujimori gemacht, aber er hat keine Macht. Er wurde Präsident, weil Collor abgesetzt wurde, ernannte Männer mit guten Absichten zu Ministern, aber die Regierung bewegt nichts, diese Leute treten auf, reden viel, aber sie tun nichts. Zum Beispiel der Finanzminister ist ein angesehener Mann, der sich hier verausgabt, denn das brasilianische Volk möchte, daß die Inflation von monatlich 40 Prozent gestoppt wird, aber das schafft er nicht. Hätte er die Inflation eingedämmt, wäre die Regierung Itamars aus dem Skandal im Parlament gestärkt hervorgegangen, aber da er es nicht konnte, haben sie keine politische Kraft und können keinen Putsch à la Fujimori wagen.
Meiner Ansicht nach gibt es in Brasilien nur eine Alternative: die von Lula, die im Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens besteht, mit dem Wirtschaft und Politik gesunden können. Es wird keine linke Regierung, keine sozialistisch-revolutionäre, aber es wird eine revolutionäre Regierung in Bezug auf die Lage, in der Brasilien sich befindet. Eine Regierung, die die Agrarreform im Griff hat, den Reichsten Steuern auferlegen kann, die Straflosigkeit beendet, Ausbildung und Gesundheitsversorgung verbessert und ein wenig die Inflation kontrollieren kann. Wenn das alles in Brasilien geschieht, können wir schon von einer Revolution sprechen: Für Brasilien gibt es keine andere Möglichkeit, es gibt nur eine, und das ist Lula.
Seit einiger Zeit scheint es, als ob in einigen Staaten separatistische Bewegungen an Bedeutung gewinnen…
Meiner Meinung nach ist diese Welle von separatistischen Bewegungen in der Welt eine der Folgen des Endes des Kalten Krieges. Die Erde war lange in zwei Lager gespalten mit dem Ost-West-Konflikt. Aber nachdem diese Polarisierung verschwunden ist, verlagern sich die Gewichte auf die Regionen, und nun sehen wir die separatistischen Bewegungen mitten in Europa aufkommen und ebenso in Südamerika, in Brasilien, in Argentinien, in Chile. Ich glaube, daß das Ende der Bipolarität der Welt die regionale Bipolarität hervorgebracht hat.
Darüber hinaus gibt es in Brasilien wirtschaftliche Bedingungen, die die separatistischen Bewegungen besonders im Süden des Landes fördern, denn die brasilianische Wirtschaft spielt sich größtenteils im Süden ab. Und da entsteht ein Gefühl, daß der Süden dafür arbeitet, die Last des ganzen Landes zu tragen und daß das nicht gerecht ist; sie denken, daß sie weiter entwickelt sein könnten, wenn es nicht die große Asymmetrie zwischen dem Norden und besonders dem Nordwesten und dem Süden gäbe.
Die Situation verschärft sich, denn die Regierung kann nicht damit umgehen. Sie möchte das Gesetz über die Nationale Sicherheit umarbeiten, um es auf die Führer der Separatistenbewegungen anwenden zu können. Wenn sie dieses Gesetz anwenden können, kann die Regierung solche Gruppen politisch verfolgen. Die Regierung von Itamar ist eine dumme Regierung. Ich glaube, wenn Brasilien seine “finanzielle Gesundheit” verbessert, dann werden diese Bewegungen wieder an Bedeutung verlieren.
So unglaublich es klingt, aber Lula ist eine der ganz wenigen Personen, die die moralische Autorität besitzen, das Land zu einen auf der Basis einer Zukunftsplanung, und damit wird er die nationale Einheit fördern.
In Bezug auf Amazonien hört man, daß es einen Plan geben soll, die brasilianische Armee zurückzuziehen, um eine internationale Kontrolle dieser Region einzurichten. Wie steht die PT dazu?
Ein Hauptpunkt in den Gesprächen der PT mit den Militärs wird Amazonien sein und besonders das Projekt Calha Norte [Calha Norte war ursprünglich ein militärisches Projekt zur Sicherung der Grenze Amazoniens; s. LN 180.], nicht, um etwas mit den Militärs auszuhandeln, sondern um einen Dialog über ihre mögliche Rolle in einer demokratischen, an den Interessen des Volkes orientierten Regierung zu beginnen.
Die PT und die Militärs haben seit jeher sehr verschiedene Grundauffassungen. Die PT wurde während der Militärregierung verfolgt. Im Demokratisierungsprozeß haben die Militärs nie das Gespräch mit der PT gesucht. Jetzt wollen die Militärs mit der PT sprechen, denn es besteht eine reale Möglichkeit, daß wir die Regierung stellen. Die Militärs erkennen an, daß die PT die einzige Partei mit einem Programm ist, das einen Ausweg für Brasilien aufzeigt. Deshalb versuchen beide Seiten, sich gegenseitig ernstzunehmen.
Außerdem reden wir mit den Militärs, um zu wissen, was ihre Vorstellungen und Schwerpunkte sind. Ihr erster Schwerpunkt, so sagen sie, ist die Professionalisierung der Armee, die nie stattgefunden hat, da die Regierungen dafür keinen Etat hatten. Sie sagen, daß jedenfalls theoretisch die Streitkräfte umso weiter von der Politik entfernt sind, je professionalisierter sie sind.
Ihre zweite Aufgabe ist die Verteidigung des nationalen Territoriums und der Grenzen. Die Doktrin der Nationalen Sicherheit, die einen äußeren und einen natürlichen inneren Feind voraussetzt, ist überholt. Deshalb sind die Militärs anderer Meinung wie Brizola, der möchte, daß die Militärs den Drogenhandel bekämpfen. Nach Ansicht der Militärs ist das Sache der Polizei, der Militärpolizei und der Milizen, und nicht der Armee. Sie wollen keine Außenstelle des Pentagons oder des US-Heeres sein.
Außerdem ist ihnen die Notwendigkeit bewußt, das nationale Territorium in Amazonien zu erhalten. In diesem Sinne wollen sie das Projekt Calha Norte diskutieren. Die Gespräche laufen gut, wir respektieren uns gegenseitig, wir reden frei, klar und ohne Angst, damit sie wissen, was wir von ihnen erwarten, und sie von uns.
Vom Standpunkt der nationalistischen Interessen Brasiliens aus werden wir das Projekt Calha Norte unterstützen, soweit es die Erhaltung Amazoniens beinhaltet, jedoch mit einigen Einschränkungen.
Welche sind die Einschränkungen? Was zum Beispiel sagen Sie zu der Kontrolle der Bevölkerung, die dieser Plan enthält?
Unsere Einwände betreffen die sozialen Auswirkungen. Wir haben uns schon ausgesprochen gegen ACISO (Acción Civica Social), mit deren Hilfe ganze Gemeinschaften unterdrückt und kontrolliert wurden. Wir wollen die Verteidigung der Grenzen, die Verteidigung der territorialen Integrität Amazoniens als Teil Brasiliens.
Heißt das, Sie würden die Freizügigkeit der indigenen Bevölkerung respektieren, denn es gibt ja Völker wie die Yanomami, deren Gebiet bis nach Venezuela reicht…
Das Territorium der Indígenas gehört ihnen, in dieser Hinsicht ist die Staatsgrenze eine Fiktion. Eine Regierung Lula würde die Grenzen im indigenen Territorium nicht festlegen, im Interesse der Einheit der indigenen Nation. Es entsteht auch ein Dialog zwischen den Indígenas und den Militärs, denn die Militärs beklagen sich, daß sie keinen Zugang zur Staatsgrenze haben, die zu schützen ihre Aufgabe ist, weil sie auf Stammesterritorium liegt. Wir ermöglichen Verhandlungen, ziehen auch CIMI und CNBB hinzu und das Justizministerium, damit die Militärs das Gebiet nicht besetzen, sondern das Gebiet nur betreten und durchqueren im Interesse der Verteidigung, ohne die Lebensweise und die Bräuche der Indígenas zu stören.
Sprechen wir von den anstehenden Wahlen. Wie stehen Sie diesem Prozeß des Bündnisses gegenüber?
Es gibt eine Meinungsverschiedenheit innerhalb der PT darüber, ob das Bündnis die PSDB (Partido Social Democrático de Brasil) miteinbeziehen soll oder nicht: 40 Prozent unserer Partei ist der Meinung, daß die PSDB nicht Teil des Bündnisses sein darf. 60 Prozent dagegen meint, daß das Bündnis auch die PSDB umfassen sollte und einige Teile der PMDB. Das ist die offizielle Position unserer Partei.
Das Problem ist, daß die PSDB “eine schwierige Liebe” ist. Sie erklären sich, zeigen Ihre Absichten, möchten mit ihr reden, verhandeln und sie bei der Hand nehmen, und die PSDB will nicht, ist Jungfrau und Puritanerin und sträubt sich. Also wäre es sehr kompliziert, müßte Lula als potentieller Wahlsieger weiterhin die PSDB umwerben, die sich ihrerseits nicht entscheidet. Die Haltung der PT ist folgende: Wir bleiben weiterhin mit der PSDB im Bündnis, wenn es jedoch nicht hält, ist das nicht die Schuld der PT sondern der PSDB.
Die PSDB hat keine Massenbasis aber sie hat Führungskräfte. Die PT hat eine Massenbasis, jedoch nur wenige Kader; also könnten wir uns zusammentun, was einen Machtwechsel in Brasilien garantieren würde. Mit Lula an der Spitze und einem der PSDB als Stellvertreter können wir im ersten Wahlgang diese Wahlen gewinnen, aber die PSDB macht alles kompliziert.
Worauf ist es zurückzuführen, daß sich die Glaubwürdigkeit nun im Bereich der Zivilgesellschaft befindet?
Es ist in Brasilien nichts Neues, daß die Zivilgesellschaft glaubwürdig ist, das war schon immer so. In der Zeit der Militärdiktatur gab es zwei politische Parteien, die eine war Instrument der Diktatur und hieß ARENA, die andere, die MDB, war in der Oppositon, d.h. die Diktatur ließ sie Opposition sein.
Wir sagten im Scherz, der Unterschied zwischen den beiden Parteien bestehe darin, daß die ARENA “Ja, mein Herr” und die MDB nur “Ja” sage. Aber wer das Land aus der Diktatur herausholte, das war das Volk, die Zivilgesellschaft, die StudentInnen, die Menschenrechtsorganisationen, etc..
Der erste große Kampf, der gegen die Diktatur geführt wurde, war der Kampf für die Amnestie. Und der wurde nicht von den Parteien ausgelöst, sondern von Persönlichkeiten und von der organisierten Zivilgesellschaft. Danach, mit Einsetzen der Amnestie, betreten die politischen Parteien die Szenerie und fangen dort wieder an, wo sie vor dem Militärregime aufgehört hatten. Die einzige Neuerscheinung ist die PT.
Nachdem sich die Parteien rekonstruiert hatten, waren Direktwahlen für die Präsidentschaft notwendig. Wer macht die Wahlkampagne für die Direktwahlen? Die Parteien und die Zivilgesellschaft. Danach kommt die verfassungsgebende Versammlung, die Parteien wählten ihre Abgeordneten, aber es war die Zivilgesellschaft, die die Anträge für die Verfassung einreichte. Anschließend fand die Kampagne gegen Collor statt. Wer die Kampagne zu seiner Entlassung veranlaßte, war die Zivilgesellschaft. Und erst danach stiegen die Parteien mit ein.
Also hat die Zivilgesellschaft in Brasilien eine herausragende Position. Heutzutage, da sich das Land in einem Zustand der Auflösung befindet ist die Kampagne gegen den Hunger das einzige, was sich bewegt. Sie wird zwar von der Regierung unterstützt, aber von der Zivilgesellschaft getragen. Diese Kampagne, die von Betinho angeführt wird, bezieht den Bürger und die Bürgerin als politisches Wesen mit ein. Sie ist die einzige zur Zeit ernstzunehmende Bewegung in Brasilien.
Es gibt Komitees gegen den Hunger in Stadtvierteln, Gemeinden und Regionen. In einer gemeinsamen Organisation wäre dies die größte Volksmacht, die es in unserem Land je gegeben hat. Betinho ist ein guter Drahtzieher für die Kampagne, aber ein schlechter Organisator. Wenn er ein guter Organisator wäre, würde er als Ergebnis der Kampage gegen den Hunger die größte Volksmacht in Brasilien aufbauen.
Aber außerdem existieren noch andere Komitees, für Ethik, StaatsbürgerInnen, BürgerInnenrechte … wir arbeiten am Konzept des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin. Gegen Ende der Diktatur in Brasilien setzten wir uns für Menschenrechte ein. Aber die Charta der Vereinten Nationen spricht nur von individuellen Menschenrechten. Wir müssen damit beginnen, die kollektiven, kommunalen und Gruppenmenschenrechte einzufordern, wie zum Beispiel das Recht auf Wohnung, auf Erziehung und Gesundheit. Bald werden wir erreichen, daß diese Rechte in der Bundesverfassung verankert sind. Dann muß die Bevölkerung die Verfassung in die Hand nehmen und sagen: Wir sind brasilianische StaatsbürgerInnen, und hier haben wir unsere Rechte. Dieses ist der beste Abwehrmechnanismus gegen einen Putschversuch und die beste Garantie für den Demokratisierungsprozeß.