Musik | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

Escucha la música

LN

Eine verrückte Idee, diese Reise durch die lateinamerikanische Musik. Wie eine Route finden, so wird gefragt von den Mitreisenden. Wie entscheiden, wo es sich lohnt zu bleiben. Wie weitergehen, wenn eine Stimme oder der Klang einer Trommel lockt? Wie einen Weg finden in diesem musikalischen und kulturellen Tohuwabohu, das keiner Landkarte gehorcht. Auf Papier festhalten, was der Kopf nicht zu begreifen imstande ist? Du mußt ihn fühlen, den sabor der salsa, die rumba. Du mußt sie fühlen, die samba, dich loslassen im Rhythmus, sagt mir mein Latino-Freund.
Vielleicht ist es das, was uns in Europa oder Nordamerika so fasziniert, diese fast unheimliche Synthese von Klang und Bewegung, Musik und Tanz. Nirgendwo wird sie so deutlich wie bei den rumbas in den Hinterhöfen Havannas. Der Quintero, der Musiker mit der kleinsten Trommel, folgt mit seinen Schlägen den Bewegungen des Tänzers, nicht – wie für uns so selbstverständlich – umgekehrt.
Vielleicht ist es aber auch die Vitalität und die Energie, die von dieser Musik ausgehen. Die großen Gefühle, die glänzenden Augen und die stillen Versprechen. “Die Deutschen stehen gerade deswegen so auf Tango”, so der Verkäufer in einem lateinamerikanischen Plattenladen in Berlin, “weil sie hier ein erotisches Spiel spielen dürfen, das ansonsten tabusiert ist.” Ob Tango, Salsa, Merengue oder Samba, die Tänze sind austauschbar, und die Ansicht des Plattenverkäufers ist eine unter Latinos weit verbreitete. Neue Nahrung erhält sie in den vielen multimusikalen Salsa-Tango-Merengue-Samba-Tanzschuppen, die in Deutschland seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen.
Aber auch die andere Seite produziert ihre ganz eigenen Bilder: Zum Beispiel das von der lateinamerikanischen Musik als einer unermüdlichen Partymaschine. Die Überflieger-CD auf den Grabbeltischen der großen muisc-stores verspricht uns heiße Nächte, und macarena schiebt auch den letzten Muffel auf die Tanzfläche. Die Reduzierung lateinamerikanischer Musik auf die fiesta ist durchaus im Zeitgeist. Musik und Party lagen noch nie so eng beieinander wie heute.
Musikalische Klischees aus der Welt schreiben zu wollen, ist wider die Regeln des globalen (Musik-)Marktes und somit Kampf gegen unternehmerische Windmühlen. Deshalb war das auch nicht der Impuls für diesen Schwerpunkt. Eine Reise durch die Höhen und Tiefen lateinamerikanischer Musik sollte es stattdessen werden, und wie bei jeder Reise bleibt das eine oder andere unbesichtigt – zumindest für dieses Mal.
Mein Latino-Freund sagt: Du willst darüber schreiben – schreiben lassen wohl eher – worüber Du nichts weißt, schlimmer noch, was nicht in Dir ist. Einfach eine verrückte Idee, diese Reise, sagt er, aber ich bin gespannt.

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