Bolivien | Nummer 380 - Februar 2006

¡Evo Presidente!

Historischer Wahlsieg von Evo Morales und der Bewegung zum Sozialismus

Mit dem Amtsantritt des Kokabauern, Gewerkschaftsführers und Parteichefs Evo Morales am 22. Januar begann für Bolivien eine neue Epoche. Erstmals wird das Land von einem Präsidenten regiert, der nicht der weißen Oberschicht entstammt. Evo Morales steht indes vor großen Herausforderungen, was sowohl die ungelösten Themen des Landes, als auch die interne Organisation und Regierungsfähigkeit seiner Partei Bewegung zum Sozialismus betrifft.

Marc Zackel

Am Abend des 18. Dezember ist die Überraschung perfekt: Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) wurde bereits im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Die letzten Meinungsumfragen vor dem Wahlgang sagten Evo Morales einen nur knappen Vorsprung vor dem Vertreter der rechten Partei Demokratische und soziale Kraft (PODEMOS), Jorge „Tuto“ Quiroga, vorher, was eine Stichwahl im Kongress erforderlich gemacht hätte. Doch nur wenige Stunden nach den ersten Hochrechnungen verschlug es den WählerInnen die Sprache. Auf die MAS entfielen mehr als 50 Prozent der Stimmen, damit war Evo Morales bereits im ersten Wahlgang gewählt – bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 84,5 Prozent. Obwohl in Bolivien Wahlpflicht besteht, hatte die Wahlbeteiligung in der jüngeren Vergangenheit lediglich zwischen 70 und 75 Prozent gelegen.

Mythos Morales

Das Land hat einen neuen Präsidenten und es gibt keine wochen- oder gar monatelangen zermürbenden Verhandlungen und Intrigen darüber, wen der Kongress in einer Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten zum Präsidenten wählen würde. Riesenfreude bei den AnhängerInnen der MAS, Bestürzung bei der rechten PODEMOS und ein Aufatmen bei weiten Teilen der Bevölkerung: Die Pattsituation zwischen den Lagern wurde aufgebrochen, das Land hat eine klare Richtungsentscheidung getroffen, man sieht nach den Jahren des politischen Durcheinanders Regierbarkeit wieder in greifbare Nähe gerückt.
Doch eigentlich ist noch immer nicht klar, wer denn eigentlich dieser Evo Morales ist, welche Politik von ihm zu erwarten sein wird. Es gibt mit Evo viele Sieger, denn Evo hat nicht nur mehrere Gesichter – Kokabauer, Gewerkschaftsführer und Parteivorsitzender – sondern dient für mindestens ebensoviele Projektionen – Indígena, Führer der sozialen Bewegungen, Sozialist, Stimme der Armen und Unterdrückten.
Auch wenn die Presse weltweit den „ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas“ feiert, stimmt das so nicht uneingeschränkt. Politisch gesehen entstammt Evo der kämpferischen linken und sozialistischen Gewerkschaftstradition und nicht etwa der seit 1990 immer stärker organisierten indigenen Bewegung Boliviens. Die MAS ist zwar Partei, aber im wesentlichen ein Zusammenschluss verschiedener sozialer und gewerkschaftlicher Gruppierungen insbesondere des ländlichen Raums (s. Kasten). Die Elemente eines indigenen Diskurses sind bei der MAS eher jüngeren Datums und werden noch immer in viel größerem Maße von außen auf Evo projiziert.
Mehr als ein Indígena ist Evo Morales kulturell gesehen ein Mestize, der besser Spanisch spricht als Aymara und dessen Lebensstil dem westlichen viel näher steht als dem der indigenen Gemeinschaften in Bolivien. Außerhalb des Wahlkampfes tritt Evo beispielsweise nie in traditioneller indigener Kleidung auf. Mit einem Poncho bekleidet sieht er genauso fremd aus wie in Anzug und Krawatte.
Es ist vielmehr ein anderes Phänomen, das zentrale Bedeutung hat bei der Person des neuen Präsidenten: Evo Morales verkörpert in vielerlei Hinsicht den authentischen Bolivianer, der ein Produkt seiner Geschichte ist, mit Elementen zweier Kulturen und allen entsprechenden immanenten Widersprüchlichkeiten ausgestattet. Dies ermöglicht es einem breiten Gesellschaftsspektrum, sich mit diesem Präsidenten zu identifizieren. Die Gesichtszüge eines Aymara zeichnen Evo natürlich als Indígena aus, seinem Sprachgebrauch und seiner Sozialisation nach aber darf man ihn eher dem dominanten spanischsprachigen Teil der Gesellschaft zurechnen.
Der Sieg Evo Morales’ ist der Ausdruck des Bankrotts der semi-feudalen, korrupten Bourgeoisie Boliviens. Die politische Rechte ist atomisiert, das „Projekt Tuto“, die Modernisierung des Diskurses ohne Veränderung der Machtstrukturen und Verteilungsmechanismen, ist an den Wahlurnen begraben worden. Die Wähler haben einem wie auch immer gearteten „Weiter so“ eine klare Absage erteilt.

Letzte Bastion der regionalen Eliten

Gleichzeitig mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fanden die Wahlen der PräfektInnen der neun Departments statt. Erstmals in der Geschichte des Landes werden die PräfektInnen nicht vom Präsidenten eingesetzt, wie es die Verfassung eigentlich vorschreibt. Es bedurfte eines juristischen Kunstgriffs, um die unter dem Druck des Departments Santa Cruz von Ex-Präsident Carlos Mesa verfügte direkte Wahl der PräfektInnen zu legitimieren. Dieser argumentierte, sie würden ja nach ihrer Wahl vom Präsidenten eingesetzt und vereidigt – so wie die Verfassung es vorschreibt.
Die Wahlergebnisse geben Aufschluss über die politischen Verhältnisse im Land. In jeweils drei Departments gewannen die beiden gegnerischen Parteien MAS und PODEMOS das Präfektenamt; in drei Departments siegten verschiedene BürgerInnenbewegungen. In den andinen Departments Oruro, Potosí und Chuquisaca setzte sich die MAS zum Teil mit deutlichem Vorsprung gegen ihre Konkurrenten durch.
Im traditionellen Viehzüchter- und Großgrundbesitzer-Department Beni im amazonischen Tiefland sowie im kleinen Pando an der brasilianischen Grenze im Norden des Landes bleiben die Machtverhältnisse vorerst unverändert. PODEMOS wird den Präfekten stellen.
Den dritten PODEMOS-Präfekten stellt José Luís Paredes in La Paz mit knappem Vorsprung vor seinem MAS-Konkurrenten. Doch hier muss wohl eher von einer taktischen Wahlallianz ausgegangen werden und es ist nicht zu erwarten, dass sich der populäre ehemalige Bürgermeister von El Alto zukünftig als Zugpferd für ein rechten Projektes einspannen lassen wird.
In Cochabamba gewann mit dem Ex-Parteichef der Neuen Republikanischen Kraft (NFR) Manfredo Reyes Villa ebenfalls ein ehemaliger Bürgermeister, diesmal allerdings als Kandidat einer vermeintlichen BürgerInnenallianz.
In Tarija ging die Präfektur mit dem ehemaligen Politiker der Nationalen Revolutionären Bewegung (MNR) und Präsidenten des Abgeordnetenhauses Mario Cossío an einen Vertreter der lokalen Eliten – ebenfalls mit einer so genannten „Bürgervereinigung“.

30 Prozent in Santa Cruz

Was Anfang 2005 als großer Aufbruch der Elite von Santa Cruz zu regionaler Autonomie aussah (siehe LN 369), ist trotz des deutlichen Wahlsieges ihres Vertreters Rubén Costas praktisch zum Erliegen gekommen. Die MAS erlangte dort überraschend erstaunliche 30 Prozent der Stimmen, was sie zur zweitstärksten politischen Kraft macht und die vermeintliche Hegemonie der autonomistas in Frage stellt.
Der Wahlsieg von Evo Morales auf nationaler Ebene ist mit über 50 Prozent der Stimmen weit deutlicher ausgefallen. Evo Morales wird als Präsident – so ist anzunehmen – mit Vehemenz die privaten Gewinne aus dem Erdgasgeschäft für die gesamte Nation einfordern und damit den Kungeleien zwischen regionaler Elite und Ölunternehmen entgegentreten. So wäre die wichtigste Stütze der Autonomie-Bestrebungen von Santa Cruz erheblich geschwächt. Es ist nun kaum mehr anzunehmen, dass ein Referendum über regionale Autonomie unabhängig von der Erarbeitung der neuen Verfassung stattfinden wird.

Weltweiter Ruhm …

Während Evo Morales sich nach der Wahl zum Präsidenten umgehend auf eine längere Auslandsreise begeben hat, regt sich in Bolivien eine breite Diskussion um die Zukunft des Landes.
Bisher blieben – wie im Nachbarland Argentinien geschehen – die Plünderung der Dollarkonten, der Verkauf von Immobilien und eine Flucht der Reichen ins Ausland aus. Die WählerInnen warten nun auf die ersten konkreten Schritte der Regierung von Evo Morales, während vielerorts eine gewisse Faszination und gespannte Neugier für den Weltreisenden im gestreiften Pullover auszumachen ist. Es ist jedenfalls beeindruckend, wer alles den noch nicht vereidigten zukünftigen Präsidenten Boliviens bereits empfangen hat.

… und nationale Herausforderungen

Was das Regierungsprogramm betrifft, so hat die MAS bisher lediglich einen programmatischen 10-Punkte-Katalog vorgestellt, an dessen vorderster Stelle die Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasvorkommen und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung stehen. Beides sind zentrale Forderungen der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften des Landes und Punkte, die maßgeblich für den Sturz von „Goni“ Sánchez de Lozada im Oktober 2003 und den Rücktritt von Carlos Mesa im Juni 2005 verantwortlich waren. Bei der Frage der Verstaatlichung von Erdöl und Erdgas wird sich zeigen, inwieweit die neue Regierung in der Lage ist, einen tragfähigen Kompromiss zwischen den Maximalforderungen der Basis und dem Druck des weltweiten Kapitalismus zu erreichen.
Die verfassungsgebende Versammlung muss ebenfalls den oftmals viel zu hohen Erwartungen nach sofortigen radikalen Änderungen auf der einen Seite und dem Bestreben nach Erhaltung des Status quo auf der anderen Genüge tun. Gleichzeitig birgt sie die Gefahr, eine Art tatsächliche Parallelregierung darzustellen.
Weitere Punkte im Regierungskatalog sind die Frage der regionalen Autonomie, die produktive Entwicklung, der Kampf gegen die Korruption, ein staatliches Einsparungsprogramm, ein Gesetz zur produktiven Landnutzung, öffentliche Sicherheit, „soziale Souveränität“ sowie Änderungen des Gesetzes über die Erziehungsreform.
Eine der zentralen Fragen aber, die in ihrer praktischen ökonomischen und politischen Bedeutung weit über ideologische Standpunkte hinausgeht, betrifft die Gestaltung des zukünftigen Verhältnisses zu den USA. Knackpunkt dürfte, wie auch schon in der Vergangenheit, der Koka-Anbau in Bolivien sein.

Koka-Politik

Mit der Legalisierung des Koka-Anbaus im Chapare, der Entkriminalisierung auf internationaler Ebene und der Industrialisierung im Land hat die MAS drei Eckpunkte ihrer Koka-Politik benannt. Hinzu kommen die Durchführung einer Marktstudie, welche die EU maßgeblich finanzieren wird, sowie die Änderung des von den USA 1988 diktierten „Gesetz 1008“, welches eine repressive Anti-Koka-Politik definiert.
Es bleibt abzuwarten, wie diese Punkte angesichts massiver Vorbehalte der USA umgesetzt werden. Evo jedenfalls hat dem großen Nachbarn aus dem Norden Gesprächsbereitschaft signalisiert – um über den „Kampf gegen den Drogenhandel“ und den „Drogenkonsum“ zu reden.
Auf der anderen Seite steht die Frage nach der Regierungsfähigkeit der indigenen und sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. Wird es gelingen nach Jahrzehnten des Widerstandes gegen Diktaturen, ökonomische Ausbeutung und Versuche der kulturellen Assimilation in die Rolle des Gestalters überzugehen, Vorschläge und Visionen für das Land im Dialog zu entwickeln, diese zu verteidigen und in einem demokratischen Rahmen umzusetzen? Oder werden sich die einzelnen Sektoren weiterhin mit radikalen Forderungen nach sofortiger Realisierung dieser oder jener Maßnahme auch gegen eine Regierung aus ihren eigenen Reihen wenden? Gelegentlich beängstigt der Rückblick auf die Zeit der linken Regierung der Volkseinheit (Unidad Popular) Anfang der 80er Jahre, bei der genau das geschah, und welche letztlich maßgeblich an ihren nicht gelösten inneren Widersprüchen scheiterte.
Die zentrale Frage betrifft die Rolle des Staates: Ist von diesem weiterhin nur Negatives zu erwarten, dem man sich wahlweise entzieht oder machtvoll entgegenstellt? Oder sieht man sich nun mittels der Regierung des „Instrumentes des Volkes“, wie die MAS sich als Partei definiert, selbst als der Staat, der die Geschicke des Landes bestimmt?
Wenn es Evo Morales gelingt, jenseits der Forderungen einzelner Sektoren und sozialen Bewegungen mit einem eigenen Regierungsprogramm und einer gemeinsam agierenden Regierungsmannschaft zu regieren, besteht tatsächlich große Hoffnung für die Erneuerung des Landes. Auch wenn der Weg steinig ist: Evo hat derzeit sehr viel Rückenwind.

Kasten:

Movimiento al Socialismo – MAS

Vor wenigen Jahren war die Bewegung zum Sozialismus (MAS) noch eine Splittergruppe, nun ist sie die wichtigste politische Kraft Boliviens. Nach den Wahlen im Dezember des vergangenen Jahres sind es die traditionellen Parteien, welche während der letzten 25 Jahre das politische Leben in Bolivien bestimmt hatten, die zu Splittergruppen verkommen oder ganz verschwunden sind. Diese Entwicklung ist zum einen mit dem katastrophalen Auftreten der traditionellen Parteien in den letzten Jahren zu erklären, zum anderen aber auch mit der Eigenschaft der MAS, gleichzeitig Partei und soziale Bewegung zu sein.
Bereits bei ihrer Gründung im Jahre 1987 war die MAS als „politisches Instrument“ der von Cochabamba ausgehenden Bewegung zur Souveränität der (indigenen) Völker gedacht, und noch heute trägt sie das Kürzel ISIP („Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos“) im Namen. Die Teilnahme an demokratischen Wahlen wurde also von Anfang an nur als ein möglicher Weg von vielen angesehen, um für die Rechte der Bevölkerung zu kämpfen. Und tatsächlich wurde in den letzten Jahren immer wieder ganz offen auf Straßenblockaden zurückgegriffen, um politische Forderungen durchzusetzen.
Als soziale Basisbewegung ist die MAS in der Tradition der andinen Indígenas im sindicato-System organisiert, welches nach der Agrarreform 1953 durch die damalige Regierungspartei MNR eingeführt wurde. Die sindicatos kombinieren indigen-andine Elemente der Selbstorganisation mit Organisationsformen, die in der Kolonialzeit entstandenen sind, und funktionieren ähnlich einem Rätesystem. Auf lokaler Ebene von der „Basis“ gewählte Vertreter bestimmen in Versammlungen jeweils regionale, überregionale und schließlich nationale Vertreter. Der Aufstieg von Evo Morales begann in einem solchen sindicato als Sportsekretär.
Die Wurzeln der MAS liegen im durch das Anti-Koka-Gesetz (Ley 1008) „illegalisierten“ Koka-Anbaugebiet Chapare, wo die Partei mit den sindicatos fest verbunden ist. Der Aufstieg der MAS zu einer nationalen Kraft gelang bei den Parlamentswahlen 2002, in denen sie sich in einem höchst professionellen Wahlkampf als Anwältin der armen Bevölkerungsteile präsentierte. Dank ihrer radikalen Opposition gegen eine US-diktierte Kokapolitik gewann sie Popularität und wurde schließlich zweitstärkste Partei. Inzwischen sind in weiten Teilen des Landes wichtige dirigentes gleichzeitig MAS-Gefolgsleute (z.B. Román Loayza als Chef des Bauernverbandes CSUTCB), in anderen Fällen kam es vor den jüngsten Präsidentschaftswahlen zu Allianzen, wie beispielsweise mit der Vereinigung der Nachbarschaftsräte FEJUVE aus El Alto.
Die Organisationsgewalt des sindicato kann allerdings auch für die MAS selbst gefährlich werden, wie Ende Dezember z.B. Román Loayzas mit Drohungen unterlegte Forderung nach vier Ministerien für Vertreter des Bauernverbandes zeigte.
Der sindicato-Fraktion, der eindeutig auch Evo Morales zuzurechnen ist, stehen innerhalb der Partei die Linksintellektuellen der Mittelschicht gegenüber, denen es zwar häufig an Rückhalt in der Basis fehlt, die dafür aber großen Einfluss auf das politische Programm nehmen und der Partei außerdem Unterstützung im städtischen Milieu und in der Mittelschicht sichern. Der neue Vizepräsident Alvaro García Linera ist zwar erst vor wenigen Monaten zur MAS gestoßen, ist aber als studierter Mathematiker und autodidaktischer Soziologe, Ex-Guerillero, Essayist und redegewandter politischer Analyst eine der herausragenden Persönlichkeiten Boliviens. García Linera ist politisch der äußeren, aber undogmatischen Linken zuzuordnen und fordert einen „andinen Sozialismus“, also eine Wirtschaftsform, in welcher traditionelle Familienbetriebe eine zentrale Rolle einnehmen. Überhaupt liegt ihm eine Staatsform am Herzen, welche indigene Organisationsformen und westliche Demokratie kombiniert – was sich eigentlich recht gut mit den Ideen der sindicato-Fraktion decken müsste.

Robert Müller

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