Exil im eigenen Land
Nascimento verläßt Rio de Janeiro
Nascimento hat seit Ende der 80er Jahre nicht aufgehört, die Hintermänner von Todesschwadronen zu ermitteln und mit Namen zu nennen. Begonnen hat er mit dieser Recherche-Arbeit, als 1986/87 in 19 Monaten 21 Kinder und Jugendliche aus seiner Straßenkindergruppe ermordet wurden und daraufhin das von ihm initiierte Zentrum in der Favela do Lixao geschlossen werden mußte.
Die Recherche und Öffentlichkeitsarbeit machten Nascimento bekannt, vor allem aber kamen die Strukturen der mörderischen Kartelle der Macht ans Tageslicht, die Verquickung von legaler und extralegaler Repression.
“Wer die Macht angreift, der bleibt nicht ungestraft” – nach diesem Motto war das Delikt schnell konstruiert, von eben jenen Richtern (Rubem Medeiros, Luíz Cesar Bittencourt, Renato Simoni und Mario dos Santos Paulo), die in die Strukturen der Todesschwadronen verwickelt sind: Üble Nachrede – gegenüber denjenigen, die die Macht haben.
Asyl in Europa keine Alternative
Nascimento hätte sich der Verhaftung durch Flucht entzogen, denn Gefängnis bedeutet für ihn den sicheren Tod. Als er in diesem Frühjahr nach Europa reisen konnte, als das Europäische Parlament zu seinem Fall und den Morden an Straßenkindern eine Resolution abfaßte, machte sich Nascimento nochmals Hoffnungen: Er hätte sich in Brasilien in eine Botschaft geflüchtet und politisches Asyl beantragt. Aber die Reise in die Festung Europa hat ihn in jenem Monat vor Augen geführt, was politisches Asyl heißt, hätte er es überhaupt bekommen. Die Internierung in ein Lager, wie es nach deutscher Norm mittlerweile in der EU üblich wird, hielt er nach genauen Erkundigungen für derart unmenschlich, daß er diese Alternative verworfen hat. Er fuhr zurück nach Rio de Janeiro, in Erwartung der Urteilsbestätigung. Und Davi, seinen jüngsten, wenige Tage alten Sohn, hatte er noch nicht gesehen.
Anfang Juli 1994: Viele ErzieherInnen und Straßenkinder-Engagierte hat Nascimento von seinem neuen Wohnsitz aus zu einem Fortbildungs-Seminar geladen, Thema: Wie können die rechtlichen Möglichkeiten in der Kinder- und Jugendarbeit voll ausgeschöpft werden. Zu dem Seminar reisten mehr als hundert Personen an, viele von ihnen direkt bedroht wegen ihres mutigen Engagements für die Straßenkinder. Aber das war nicht Thema des Seminars.
Ein Nachsatz, eine Überlegung: Ist es eine lateinamerikanische Besonderheit, daß man sich der staatlichen und parastaatlichen Bedrohung – der Drohung, umgebracht zu werden – durch Ortswechsel entziehen kann? Durch Verlassen der Konflikte in der Großstadt? Oder ist es ein Anzeichen für die neue lokale Aufteilung der Macht, der zersplitterten Einflußbereiche von bewaffneten halbstaatlichen Banden und Milizen, wie es mehr und mehr auch in einigen Teilen von Europa zu beobachten ist?