Bolivien | Nummer 440 - Februar 2011

Fünf Jahre „Regierung der sozialen Bewegungen“

Evo Morales hat nach einer halben Dekade an der Macht viele Fortschritte erzielt – aber auch Widersprüche hervorgerufen

Im Januar 2006 wurde Evo Morales der erste indigene Präsident Boliviens. Der Gewerkschafter konnte die sozialen Bewegungen des Landes hinter sich vereinigen. Seine Regierung führte die Universalrente ab 60 ein und brachte eine neue Verfassung auf den Weg, die zu einer heftigen Kontroverse über regionale Autonomie führte. Heute droht ihm Ärger von einer ganz anderen Seite.

Börries Nehe

Menschenmassen in ponchos und polleras, Jeans und Pullovern, füllten die Straßen von La Paz, als Evo Morales Ayma im Januar 2006 als erster indigener Präsident Boliviens vereidigt wurde. Fünf Jahre später fließen wieder Menschenströme durch das Zentrum von La Paz. Doch statt Jubelstimmung herrscht diesmal Empörung über die Entscheidung der Regierung, die Subventionen für Treibstoffe aufzuheben (siehe Artikel Seite 10). Der Konflikt zeigt, dass sich die Regierung in zentralen Fragen schon weit von den Bedürfnissen der Bevölkerung entfernt hat. So haben die sozialen Bewegungen Boliviens nach fünf Jahren Evo Morales ihre eigene Bilanz gezogen und den gasolinazo für eine grundlegende und notwendige Klarstellung genutzt: die präsidiale Macht reicht nur so weit, wie sie es zulassen.
Trotz gegenläufiger Wahrnehmungen in der internationalen Presse und der bolivianischen Opposition waren und sind Morales und seine Partei, die Bewegung zum Sozialismus (MAS), nicht die zentralen treibenden Kräfte hinter den politischen und sozialen Transformationen der letzten Jahre. Fünf Jahre Evo sind undenkbar ohne die Dekade anti-neoliberaler Politik von unten, die im Januar des Jahres 2000 mit dem „Wasserkrieg“ ihren Anfang fand. Damals konnte die Bevölkerung Cochabambas die Privatisierung der Wasserversorgung abwehren. In den darauf folgenden Jahren gelang es den sozialen Bewegungen Boliviens ein ums andere Mal, den neoliberalen Konsens auszuhebeln: die Kokabauern und -bäuerinnen besetzten Straßen, die indigenen Organisationen des bolivianischen Tieflandes marschierten gen La Paz, die Aymaras kesselten den Regierungssitz ein und die Bevölkerung El Altos nahm ihn mehrmals ein. Gemeinsam stürzten die Bewegungen so zwei Präsidenten und verhinderten den Export ihrer Bodenschätze zu Dumpingpreisen. In diesem Mosaik verschiedenster Organisationen war die „Oktober-Agenda“ der Rahmen politischer Artikulation: basierend auf den im „Gaskrieg“ vom Oktober 2003 gestellten Forderungen sah sie die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen sowie die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) vor. Hinzu kam die von den indigenen und Bauernorganisationen geforderte radikale Landreform.
Dass dieser kollektive Wille nach tief greifenden Transformationen schließlich in dem historischen Wahlsieg von Evo Morales und der MAS seinen Ausdruck fand, war weniger effizienter Parteiarbeit oder dem Charisma von Morales geschuldet, sondern basierte vielmehr auf den nachbarschaftlichen, gewerkschaftlichen und indigenen Organisationen. Diese nutzten die Partei als Vehikel, als „politisches Instrument“ zur Eroberung der staatlichen Institutionen. Von der Wahl Evos Morales‘ und der MAS, die Ende 2005 mit 54 Prozent der Stimmen die Parlamentsmehrheit bildete, erhofften sich die UnterstützerInnen die Einleitung radikaler Reformen, die nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ möglich machen sollten.
Nur anderthalb Monate nach der Vereidigung des neuen Präsidenten verabschiedete die Regierung Morales das Gesetz zur Einberufung der VV. Dabei beging sie allerdings nicht nur schwerwiegende strategische Fehler, sondern blieb auch weit hinter den Erwartungen der sozialen Bewegungen zurück. So band das Gesetz die Wahlen der Abgeordneten der VV an ein Referendum über die Autonomierechte der Departamentos, eine Forderung, die sich die äußerste Rechte des bolivianischen Tieflandes auf die Fahnen geschrieben hatte. Nachdem im Tiefland ein Großteil der Bevölkerung für die Autonomie gestimmt hatte, war die VV gezwungen, sich mit einem von Unternehmern und Großgrundbesitzern entwickelten Autonomieprojekt auseinander zu setzen, welches den Interessen der Basisbewegungen diametral entgegen steht.
Die Kritik der sozialen und indigenen Bewegungen zielte jedoch vor allem darauf, dass entgegen ihrer seit Jahren verteidigten Forderung nach autonomer Repräsentation der verschiedenen Gruppen und Organisationen das Gesetz diese explizit ausschloss. Es sah stattdessen ausschließlich die Partizipation von Parteien und so genannten Bürgervereinigungen vor. Das hieß für die Delegierten der Basis, dass eine Teilnahme an der VV nur möglich war, wenn sie sich der MAS oder anderen Parteien anschlossen und sich deren Logik unterordneten. Bei den Wahlen zur VV erzielte die MAS dann mit 51 Prozent zwar mit Abstand die meisten Stimmen und kontrollierte fortan den Großteil der Basisdelegierten – doch sollte sie für diesen parteipolitischen Schachzug noch teuer bezahlen. Denn statt einer zentralen Instanz zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme war die VV von Anfang an Schauplatz permanenter Auseinandersetzungen.
Die Arbeit der Versammlung scheiterte über Monate hinweg an formalen Fragen, die Fronten verhärteten sich zusehends und die Opposition trug ihren Widerstand auf die Straße. Die Regierung sah schließlich keinen anderen Ausweg, als die letzte Sitzung der VV von Sucre nach Oruro zu verlegen, wo der Text ohne Präsenz der Opposition abgesegnet wurde. Nachdem der Kongress sich dann weigerte, das Gesetz zum Verfassungsreferendum zu verabschieden, ging die Regierung auf Verhandlungen mit der Opposition ein, in denen ein Viertel der insgesamt vierhundert Verfassungsartikel kurzerhand umgeschrieben wurden. Dabei erreichte die politische Rechte nicht nur die Schwächung indigener und die Stärkung departamentaler Autonomierechte, sondern verhinderte auch die Einführung einer Obergrenze für Landbesitz. Bestehender, zumeist illegal erworbener Großgrundbesitz wurde damit de facto legalisiert. Die als „Agrarrevolution“ im August 2006 in Angriff genommene Landpolitik der Regierung basiert somit weiterhin auf den traditionellen, in den vergangenen Jahren allerdings sukzessive gestärkten Instrumenten, die dem Staat zur Enteignung und Umverteilung unproduktiven Landbesitzes zur Verfügung stehen.
Dabei wäre ein solcher Kompromiss wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen. Denn als die Regierung sich mit den VertreterInnen der Opposition zu einer Neuverhandlung des Verfassungstextes hinreißen ließ, war der harte Kern des Widerstands schon an seiner eigenen Unfähigkeit gescheitert, ein mehrheitsfähiges Alternativmodell zu Evos Kurs zu entwerfen. Während sie sich im öffentlichen Diskurs als Opfer des zentralistischen Staatswesens präsentierte, konnte die Autonomiebewegung ihre Macht im Innern der als „Halbmond“ bezeichneten Departamentos des Tieflandes nur durch eine brutale und rassistisch durchsetzte Repression gegen Gewerkschafter, indigene AktivistInnen und Mitglieder der MAS durchsetzen.
Etwa einen Monat nachdem Morales und sein Vizepräsident Álvaro García Linera im August des Jahres 2008 im ersten Abberufungsreferendum der Geschichte des Landes auf knapp 70 Prozent Zustimmung kamen, versuchten die oppositionellen autonomistas sich in einer als „Zivilputsch“ bekannten Erhebung. Im „Halbmond“ wurden die Flughäfen besetzt und die zentralstaatlichen Institutionen in Brand gesetzt, in Santa Cruz attackierte die Jugendorganisation der Autonomisten das Migrantenviertel. Am 11. September wurden im nördlichen Departamento Pando mehr als zehn campesin@s ermordet. Die indigenen und Bauernorganisationen von Santa Cruz antworteten darauf mit der Einkesselung der Hauptstadt ihres Departamentos, und die sozialen Bewegungen des Hochlandes drohten ihre Anreise an. Die Regierung ließ den Präfekten in Pando sowie einige weitere Personen festnehmen.
Obwohl der Putschversuch damit im Keim erstickt war und sich gezeigt hatte, dass die Autonomiebewegung für die außerparlamentarische Schaffung von Tatsachen nicht den nötigen Rückhalt der Bevölkerung genoss, stimmte die Regierung der Neuverhandlung der Verfassung mit den Präfekten und anderen Oppositionspolitikern zu. Dass es seitdem still um den „Halbmond“ geworden ist, liegt zum einen an der unmissverständlichen Warnung der Landbevölkerung Santa Cruz‘ gegenüber den Autonomisten sowie an der konsequenten Verfolgung der Oppositionspolitiker durch die Justiz; zum anderen an den weit reichenden Zugeständnissen hinsichtlich Autonomie und Landbesitz. Eine Lösung der grundlegenden sozialen Probleme dieses Teils Boliviens ist deswegen noch weit entfernt.
Die schließlich im Januar 2009 per Referendum angenommene neue Verfassung Boliviens ist trotz ihrer alles andere als widerspruchsfreien Geschichte in vielerlei Hinsicht zukunftsweisend. Der Text definiert den bolivianischen Staat als plurinational und interkulturell und tritt zentrale Kompetenzen an verschiedene Autonomieebenen ab. Die Verfassung erkennt die Existenz indigener Völker sowie deren eigene politische und rechtliche Strukturen an, wobei diese den staatlichen in vielerlei Hinsicht klar untergeordnet bleiben. Außerdem wurden sehr weit reichende soziale und Bürgerrechte im Verfassungstext festgeschrieben und die Bodenschätze des Landes zum unveräußerlichen Eigentum der bolivianischen Bevölkerung erklärt. Gleichzeitig beschnitt die Verfassung das Recht auf Mitbestimmung der indigenen Gruppen über die Nutzung natürlicher Ressourcen in ihren Territorien, was schon jetzt zu einer Vielzahl regionaler Konflikte insbesondere im erdgasreichen Tiefland führte. Auch die Zusammensetzung des Parlaments brachte Streit, da indigene Gruppen sich nicht ausreichend repräsentiert fühlten. Die Verfassung bleibt damit ein Kompromiss mit Boliviens konservativen Kräften und einem liberalen Staatsmodell verhaftet, das zu überwinden man sich eigentlich vorgenommen hatte.
Fraglos hat die bolivianische Regierung seit des Inkrafttretens der neuen Verfassung und der Ausschaltung des „Halbmondes“ einen größeren politischen Spielraum. Vor allem die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen hat dem bolivianischen Staat in den letzten Jahren zudem bislang unbekannte finanzielle Möglichkeiten beschert. Beliefen sich die öffentlichen Ausgaben Boliviens im Jahr 2001 noch auf gerade einmal 640 Millionen US-Dollar, kletterten diese 2009 auf beinahe drei Milliarden. Die Regierung um Evo Morales hat diese öffentlichen Gelder in Infrastrukturmaßnahmen, Sozialprogramme und in die dezentralisierten staatlichen Strukturen fließen lassen. Die neue Verfassung gibt der Regierung dabei die Möglichkeit, eine progressive Stärkung der Gemeinden einzuleiten, denen mittlerweile ein Großteil aus der „Direkten Steuer auf Kohlenwasserstoffe“ (IDH) zukommt. Auch auf diese Weise wurde die Macht der oppositionellen Präfekten weiter begrenzt. Die Einführung einer universellen Rente für Über-Sechzig-Jährige, einer jährlichen Auszahlung an Schulkinder und einer Art Kindergeld haben zudem neben etlichen anderen Sozialprogrammen zu einer wenn auch zögerlichen Umverteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums beigetragen. Evo wurde das mit seiner Wiederwahl Ende 2009 mit über 60 Prozent der Stimmen gedankt. Die MAS eroberte bei den Regionalwahlen im April 2010 231 der 337 Gemeinden Boliviens.
Dennoch weist das Verhältnis zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen zunehmend Spannungen und Brüche auf. Der Triumph der MAS im April letzten Jahres war überschattet von Siegen des links-reformistischen Bündnisses Bewegung ohne Angst (MSN) unter anderem in La Paz und Oruro, die sich als einzige ernstzunehmende Oppositionspartei zu etablieren scheint. In El Alto siegte Evos Partei nur knapp. Auch in Achacachi, einer der wichtigsten Aymara-Städte, siegte der Oppositionskandidat, nachdem die Regierungspartei ihren dortigen Kandidaten statt über lokale Wahlen per Fingerzeig bestimmt hatte. Wenige Tage später begannen campesin@s in Caranavi, der einstigen MAS-Hochburg im Norden des Departamentos La Paz, eine Straßenblockade, um den von Regierungsseite versprochenen Bau einer Fabrik zur Verarbeitung von Zitrusfrüchten zu erzwingen. Die Regierung vermutete eine „rechte Infiltrierung“ hinter dem Protest und ließ ihn gewaltsam auflösen, was etliche Verletzte und einen Toten zur Folge hatte. Im Juni und Juli 2010 organisierte die CIDOB, die wichtigste indigene Organisation des Tieflandes, einen Marsch von 500 AktivistInnen Richtung La Paz, um für die Durchsetzung ihrer Autonomierechte zu demonstieren. Auch in diesem Fall sah die Regierung rechte Verschwörer am Werk, und statt eines offenen Dialogs suchte sie die Spaltung der Bewegung. Und als die Bevölkerung des bitterarmen Potosí im August für eine Teilhabe am neuen Reichtum demonstrierte, wurde auch sie abgekanzelt.
So hat die „Regierung der sozialen Bewegungen“, wie sie sich selbst gern nennt, mit zunehmendem Erfolg an den Urnen auch zunehmend ihre Fähigkeit verloren, politische Prozesse von unten nach oben zu gestalten. Die MAS hat sich derweil von einem „politischen Instrument“ mehr und mehr zu einer hierarchisch strukturierten Partei im klassischen Sinne entwickelt. Für lange Zeit ließ die extreme Polarisierung der politischen Landschaft Boliviens kaum Kritik an diesen Prozessen zu. Da die Regierung zudem erfahrene BasisaktivistInnen in staatlichen Institutionen platziert hat und einen wichtigen Einfluss auf die Spitzen einiger zentraler politischer Organisationen ausübt, schien es lange Zeit so, als haben Evo und sein Kabinett freie Hand in der Politikgestaltung. Der kürzliche Konflikt um die Erhöhung der Energiepreise hat jedoch gezeigt, dass dies nach fünf Jahren Evo Morales nicht mehr der Fall ist. Es liegt jetzt in der Hand der sozialen Bewegungen, neue Formen der Artikulation mit der Regierung zu suchen – und notfalls zu erzwingen.

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