Brasilien | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998 | Tanz

Fußtritte und Finten

Capoeira – die Kunst des Widerstands

Der brasilianische Kampftanz Capoeira war in Deutschland lange Zeit nur Brasilieninteressierten bekannt und führte in der städtischen Subkultur ein Schattendasein. Das ist vorbei. Längst hat er sich auf dem deutschen Fitneß- und Freizeitmarkt etabliert. Wer denkt da bei Capoeira noch an zivilen Ungehorsam?

Joachim Wossidlo

Die Fußtritte und Finten fließen so schnell ineinander, daß es dem ungeübten Betrachter unmöglich ist zu sehen, wer auf wen reagiert. Die beiden Spieler flechten in rasenden Drehbewegungen scheinbar unmögliche akrobatische Kunststücke ein: Einer dreht sich, auf dem Kopf stehend wie ein Propeller, während der andere ein Rad schlägt, das sich unvermittelt in einen Tritt verwandelt, welcher dem ersten die Beine weggerissen hätte, wenn dieser sich nicht in einer Mischung aus Salto und flic-flac rückwärts überschlagen hätte, nur um, kaum berühren die Füße den Boden, seinerseits wieder anzugreifen.

Musik kommentiert und steuert das Spiel

Capoeira wird in der roda gespielt: Musiker, Akteure und Zuschauer bilden einen geschlossenen Kreis von ca. 5m Durchmesser, in dessen Mitte die physische Aktion stattfindet. Der Kampf-Tanz ist eine improvisierte Performance, die sich aus Fußtritten, Ausweichbewegungen und akrobatischen Einlagen zusammen setzt. Im Einklang mit dem Rhythmus einer aufpeitschenden, leicht monotonen Musik entsteht axé, eine Art atmosphärische Spannung und aus der die zwei Spieler im Kreis Kraft schöpfen und die im Idealfall alle Anwesenden in ihren Bann zieht. In der Capoeira sind die beiden Spieler gleichzeitig Partner und Gegner: sie kämpfen gegeneinander und tanzen miteinander zugleich. Beide bewegen sich auf der schmalen Grenze zwischen (Schau)Kampf und Kooperation. Diese fragile Balance erzeugt im Spiel eine nie nachlassende Spannung und macht die Capoeira zu einer permanenten Improvisation auf der schmalen Grenze zwischen Spiel und Kampf.

In einer roda ist niemand unbeteiligt: Wer gerade nicht spielt, macht Musik und singt. Die Musik ist die „Seele“ des Spiels, das zentrale Instrument der berimbau. Bantusprachige Afrikaner brachten diesen Musikbogen im 16. Jahrhundert aus Angola und Zaire nach Brasilien. Während der Musikbogen in Afrika bis heute rein religiösen Zwecken – der Kommunikation mit den Ahnen – vorbehalten ist, wurde er in Brasilien zu einem Musikinstrument, das auch in säkularen Zusammenhängen benutzt wird. Ein vollständiges Capoeira-Orchester besteht aus drei berimbaus: einer tiefen, gunga genannt, die den Rhythmus vorgibt und zwei höher gestimmten, der media und der viola, die zu dem Rhythmus der gunga improvisieren. Diese werden von einer atabaque (Faßtrommel), zwei pandeiros (Tamburinen) und einer nicht festgelegten Zahl von agogos (Doppelglocken) und reco-recos (Ratschholz) sowie dem rythmischen Händeklatschen aller Anwesenden begleitet. Die Musik kommentiert und steuert das physische Spiel: Sie bestimmt, Rhythmus, Stil und die Geschwindigkeit der physischen Aktion im Kreis. Der Ton der gunga signalisiert den Anfang und das Ende einer jeden roda: Bricht die Musik ab, endet auch das Spiel. Genau wie das physische Spiel und die Musik ist auch der Gesang eine Kommunikation: Ein Solosänger improvisiert die Strophen, und der Chor der Anwesenden antwortet mit einem vorgegebenen Refrain. In der Regel schließt die Kommunikation die beiden Spieler in der roda mit ein: Gelungene Tricks werden bejubelt, übervorsichtige Spieler verspottet und zu aggressive zur Ruhe gemahnt. Die Musik ist das Regulativ, welches das der Capoeira innewohnende Gewaltpotential kontrolliert. Sie gibt den Spielern Kraft und erlaubt es ihnen ihre Bewegungen spontan zu koordinieren. Erst die Musik macht aus dem schnellen Wechselspiel der Bewegungen die tänzerische Choreographie, die für die Capoeira charakteristisch ist.

Ein melting pot unzähliger afrikanischer Kulturen

Die Entstehung der afrobrasilianischen Kultur, von der Capoeira ein Teil ist, ist auch die Geschichte der kulturellen Anpassung der versklavten und verschleppten Afrikaner aneinander. Vor allem anderen war sie ein gigantischer melting pot unzähliger afrikanischer Kulturen und Völker. Zugleich ist sie aber auch die Frucht der Reaktion auf die weiße Gewalt von Außen: Sklaverei und erzwungene Christianisierung waren die verbindenden Elemente. In fast allen afro-amerikanischen Kulturen gibt es vergleichbare Formen: l´agya in Martinique, maní in Kuba, kalinda in Trinidad, knocking and kicking in den Südstaaten der USA und broma in Venezuela.

Über 350 Jahre lang ist die Capoeira – und die ganze afrobrasilianische Kultur mit ihr – von Repressionen, Verboten und der Unterdrückung von Wissen beeinflußt worden, da die Europäer die Sklaverei nur rechtfertigen konnten, indem sie den Afrikanern zuerst ihr Menschsein und später ihre Kulturfähigkeit absprachen. Dies spiegelt sich in der Capoeira. Ihr Begriff der Freiheit ist der einer „Freiheit von“: Freiheit von sozialen Zwängen und Klassifizierungen, von der Armut des Alltags und nicht zuletzt auch von den Grenzen des eigenen Körpers, der viel zu oft zum Gefängnis wurde. Freiheit als eine vorübergehende Befreiung von sich selbst.

Die Entstehung der Capoeira ist umstritten. Kurz nachdem 1888 in Brasilien die Sklaverei abgeschafft wurde, ließ der damalige Finanzminister Ruy Barbosa sämtliche Unterlagen über die Sklaverei verbrennen, um Regreßansprüchen der „enteigneten“ Sklavenhalter vorzubeugen. Das Wissen um die Ursprünge der afro-brasilianischen Kultur und der Capoeira verbrannte mit. Den gerade erst befreiten Sklaven wurde so ihre Geschichte geraubt. Als Sicher gilt heute nur, daß Capoeira vor drei- bis vierhundert Jahren von versklavten Afrikanern in Brasilien erfunden wurde, weil es in Afrika selber nichts vergleichbares gibt.
Die Capoeira war und ist eine Kunst des Widerstands. Ihr zentrales Konzept ist die Idee der malícia. Malícia war die einzige Möglichkeit für die Sklaven Widerstand zu leisten und dennoch zu überleben. Sie ist die Waffe der Unterdrückten, die angewendet wird, wenn der Preis für eine offene Konfrontation zu hoch oder die eigene Kraft zu gering ist. Malícia ist also analog zu einigen anderen, uns vertrauten Formen des Widerstands zu denken: Simulieren, absichtliche Mißverständnisse und Ungeschicklichkeiten, Bummelstreik, Dienst nach Vorschrift oder die „zufällige“ Beschädigung von Arbeitsgeräten u.v.a.m.. Von dem Konzept des zivilen Ungehorsams unterscheidet sich malícia allerdings dadurch, daß sie sich selber keine Grenzen setzt, also auch physische Gewalt als legitim miteinschließt. Im Gegensatz zur europäischen Kultur ist der Begriff der malícia in der Capoeira positiv besetzt. Portugiesische Lexika übersetzen ihn mit Bosheit oder Tücke; das englische: malice bedeutet übersetzt ebenfalls Bosheit, Böswilligkeit oder böse Absicht, aber auch Schalkhaftigkeit. Das französische Wort malice wird genau wie das spanische malicia mit Bosheit, Arglist und Tücke übersetzt; nur daß im Spanischen die Bedeutung von Verschmitztheit und Scharfsinn hinzutritt. In der Capoeira gilt malícia als Beweis der individuellen (Über)Lebensfähigkeit. Als die Befähigung sich zu behaupten und durchzusetzen wird malícia in der roda gelernt und gelehrt um außerhalb, im gesellschaftlichen Makrokosmos überleben zu können: Man tut so als ob (man z.B. die Hand geben würde, Angst hätte oder Betrunken wäre) und nutzt es zu seinem Vorteil aus, daß sich der Andere gemäß der sozialen Konvention verhält.

In einer roda beschränkt sich malícia aber in der Regel auf Andeutungen gelungener Tritte oder Kopfstöße, die, da Capoeira als ein Spiel unter Freunden gedacht ist, nicht ausgeführt werden. Sicherheit gibt es allerdings nicht, denn in letzter Konsequenz heißt malícia auch, nie zu wissen, ob der andere wirklich ein Freund ist, oder nicht. Der Grundsatz der malícia degradiert alle Regeln, eben weil sie Regeln sind: Sie sind dazu da, um im geeigneten Moment gebrochen zu werden. Ein Spieler etabliert ein Muster, z.B. eine typische Art auszuweichen, nur um dieses plötzlich zu brechen und so den Partner zu täuschen. Auch verbale oder mimische Provokationen sind ein Instrument der malícia. Den Anderen dazu zu bringen die Beherrschung zu verlieren, ist ebenfalls ein Weg, ihm das eigene Spiel aufzuzwingen. Je besser beide Spieler sind, desto mehr wird der Wettstreit der malícia zum eigentlichen Ziel des Spieles.

“Sportsgeist” und “fair play” sind der Capoeira fremd

In diesem System existieren Ideen wie „Sportsgeist“ oder „fair play“ genauso wenig wie „ehrlich währt am längsten“ oder der Gedanke, daß etwas nur dann einen wahren Wert hat, wenn man sich es verdient hat: Die Idee der malícia steht gerade aufgrund ihrer Herkunft der bürgerlich-protestantischen Ethik diametral entgegen. Capoeira ist eine symbolische Inversion der gesellschaftlichen Ordnung der Gewalt. Der imaginäre Kreis der roda ist die Linie, die die Sphäre der Capoeira von der Welt trennt. Diese Grenze ist zugleich die Grenze zwischen Spiel und Ernst. Unter der Maske von Konventionen dominieren draußen in der Welt trotz aller von Christentum und Aufklärung geprägten moralischen Ansprüche Gewalt, Betrug und Täuschung das soziale und ökonomische Dasein. In der roda gilt das Prinzip der malícia unter der Prämisse der Solidarität gegenüber der eigenen Gruppe, da ohne diese kein Spiel möglich wäre. Capoeira kritisiert daher durch ihre icons of combat die als extrem erfahrene Gewalt der sozialen Welt. So wird die malícia in der roda zu einer Demaskierung der Realitäten des brasilianischen Alltags.

Um 1770 erfolgt die erste überlieferte schriftliche Erwähnung der Capoeira. Joaquim Manuel de Macedo, ein Journalist aus Rio, schreibt eine Serie von Zeitungsartikeln über Amotinado (den Ungebärdigen). Amotinado war der Leibwächter des damaligen Vizekönigs, des Marquis de Lavarido und begleitet diesen bei seinen nächtlichen Liebesabenteuern. Er wird als wilder Kämpfer und Capoeirista beschrieben. Anfang 1800 häufen sich die Erwähnungen der Capoeira in Polizeiberichten. Capoeira erscheint dort vor allem als Ursache von Krawallen, im Zusammenhang mit Überfällen, Schlägereien und Kämpfen rivalisierender Gangs, maltas genannt. 1809 wird Major Miguel Nunes Vidigal Leiter der Guarda Real de Policia. Obwohl selber ein bekannter Capoeirista, tut er sich in der Verfolgung besonders hervor. Aus dieser Zeit stammt die Gleichsetzung von Capoeiristas malandros (Gauner) und vagabundos.

Mit dem Ende der Sklaverei 1888 zogen viele der ehemaligen Sklaven in die schnell wachsenden Slums der Städte. Capoeira wurde ein Teil der Slumkultur. In Rio de Janeiro bildeten sich rivalisierende Gruppen, die von verschiedenen Politikern als Schlägertrupps eingesetzt wurden. Da die endgültige Abschaffung der Sklaverei von dem von der Prinzessin Isabel unterzeichneten lei d´áurea, dem „goldenen Gesetz“, besiegelt, wurde besaß die Monarchie in den schwarzen Slums ein hohes Prestige und die maltas der Capoeiras galten als Feinde der entstehenden Republik. In dieser Zeit wurde die Capoeira in zunehmenden Maß gewalttätig, Kämpfe wurden oft mit navalhas, Rasiermessern, ausgetragen und endeten nicht selten tödlich, regelmäßig gab es Zusammenstöße zwischen Capoeiristas und Polizei. All dies ist aber weniger ein Ergebnis der politischen Kämpfe, als eine „Frucht“ der urbanen Verelendung und fortgesetzten Unterdrückung der Afrobrasilianer.

Schon im ersten Jahr ihres Bestehens verbot die siegreiche Republik 1890 mit dem neuen Code Pénal die Capoeira auf Bundesebene. Die Verfolgung der Capoeiristas erreichte eine Intensität, die die Teilnahme an einer roda zu einem riskanten Abenteuer machte. Der Artikel 402 sieht für alle Teilnehmer einer roda 2 bis 6 Monate Gefängnis vor und der Artikel 403 für jeden „Rückfälligen“ automatisch lebenslängliche Haft. 1893 wird für „Capoeiristas und andere Störer der öffentlichen Ordnung“ die Strafkolonie Boa Vista in Betrieb genommen. Als Gertulio Vargas am 10. 11. 1937 den Estado Novo verkündet und mit der neuen Verfassung auch das Verbot der Capoeira aufhebt, ist diese in Brasilien, mit Ausnahme des Staates Bahia eine fast vergessene Kunst.

Die Capoeira öffnet sich den Weißen

Die Renaissance der Capoeira ist zwei legendären Mestres aus Salvador da Bahia zu verdanken: Manuel dos Reis Machado, bekannt als Mestre Bimba und Vincente Ferreira Pastinha, Mestre Pastinha genannt. Beide Mestres versuchten die Capoeira von ihrem Stigma der Marginalität und Kriminalität zu lösen, indem sie die Capoeira in etwas für die Gesellschaftsordnung akzeptableres – und kontrollierbareres – veränderten. Der Weg von Mestre Bimba war der des Kampfsportes, die Idee des ernsthaften, direkten und individuellen Kampfes. Er gründete 1927 die erste academia (Capoeiraschule) der Welt, das Centro de Cultura Fisica e Capoeira Regional. Er erneuerte die damalige Spielpraxis, indem er Elemente aus dem batuque einführte und begründete den Stil der Capoeira Regional. Von entscheidender Bedeutung für seinen Erfolg waren drei Faktoren: Der Schritt von der rua in die casa, das systematische Training in Sequenzen und die Öffnung der Capoeira für Schüler aus der weißen Mittel- und Oberschicht Bahias. Mestre Bimbas academia war ein Paradigmenwechsel in der Capoeira, die damals fast ausschließlich von Männern der schwarzen Unterschicht Bahias gespielt wurde. Zugleich kann er als der Erfinder des Berufes des Capoeiralehrers gelten. Damit verwandelte er die bis dahin brotlose Kunst in eine Erwerbsquelle, die heute in den favelas der brasilianischen Großstädte eine Möglichkeit des sozialen und ökonomischen Aufstiegs ist. Mestre Bimba war der erste, dem es gelang von seiner Capoeira zu leben.
Auch Mestre Pastinha gelang dies, aber er benutzte eine andere Strategie: Durch Kontakte zu den offiziellen Tourismusorganen in Bahia betonte er den folkloristischen Charakter der Capoeira und ihr touristisches Potential und etablierte die Capoeira auf diese Weise. Kurz nach Mestre Bimba gründete Mestre Pastinha seine academia de Capoeira Angola, wie der traditionelle Stil in Abgrenzung an Mestre Bimbas Capoeira Regional fortan genannt wurde. So wie Mestre Bimba ein Kämpfer und Reformer war, war Mestre Pastinha der Bewahrer. Zwar reformierte auch er die damalige Capoeira, aber im Gegensatz zu Mestre Bimba ging es ihm darum, Tradition und afrikanische Wurzeln der Capoeira zu erhalten. Ihm ist es vor allem zu verdanken, daß viele Traditionen der Capoeira sich bis heute erhalten haben. Mestre Pastinha und Mestre Bimba sind zwei komplementäre Figuren, die, jeder auf seine Weise der Capoeira ihre heutige Form gegeben haben.

Das anarchische Potential verhindert Wettkampfregeln

Am 9. Juli 1937, einige Monate vor der landesweiten Aufhebung des Verbotes durch Gertulio Vargas, erfolgt die offizielle Anerkennung der academia Mestre Bimbas durch den Gouverneur von Bahia. Als dann in den 50er Jahren Mestre Bimbas Schüler Salvador da Bahia verlassen und, inzwischen selber Mestres, eigene academias gründen beginnt der Siegeszug der Capoeira Regional. 1961 wird sie als Sport in das Curriculum der Hochschule der Militärpolizei von Guanabara (im Staat Rio de Janeiro) aufgenommen und am 26.12.1972 als offizieller Sport unter der Schirmherschaft der Confederacao Brasiliera de Pugilismo (CBP), des brasilianischen Boxverbandes, anerkannt. Dieser verabschiedet umgehend das Regulamento Technico de Capoeira und eröffnet so das bis heute nicht beendete Tauziehen um die Einführung allgemeinverbindlicher Wettkampfregeln, von denen es inzwischen Dutzende gibt. Mit etwas Ironie könnte man behaupten, daß hier die Revolution ihre Kinder frißt: Das der Capoeira eigene anarchische Potential des Widerstands richtet sich hier gegen den eigenen Erfolg. Das afrikanische Erbe der Capoeira widersteht dem europäischen Konzept des Sports und die Tradition der Befreiung verhindert durch malícia die Einigung. Irgendwo im Grenzbereich zwischen Spiel, Kampf, Tanz und Sport angesiedelt, widersetzt sich Capoeira hartnäckig allen Versuchen der kulturellen Vereinnahmung und behauptet ihr afrikanisches Erbe.

„Versportlichung“ und Körperkult

Davon zu unterscheiden ist der Prozeß der „Versportlichung“ den Mestre Bimba in Gang setzte, da es bei diesem um die Veränderung der Spiel- und Trainingspraxis selbst geht und nicht um eine Reglementierung „von Oben“. Dieser Prozeß beginnt in den Köpfen der einzelnen Spieler und verändert die Capoeira von innen: Der technische Ablauf der einzelnen Bewegungen wird perfektioniert, die Bedeutung des physischen Wettbewerbs nimmt bei gleichzeitigem Niedergang des verbalen Wettstreites zu und die Musikalische Kompetenz verliert an Bedeutung. Der Begriff des Körpers verändert sich: Entsprechend dem hellenistischen Ideal des Athleten und der Ideologie der maximalen Leistung beginnen immer mehr Capoeiristas „an ihrem Körper zu arbeiten“ und in Fitneßstudios Gewichte zu stemmen. Dadurch verändert sich die Spielpraxis massiv: Die golpes (Tritte) werden schneller und härter, zugleich aber auch berechenbarer. Malícia wird zu einer Taktik innerhalb informeller Regeln – Sport ist (zumindest offiziell) „fair play“. Der Prozeß wirkt wie eine Spirale. Um mit dem steigenden technischen Niveau mithalten zu können, müssen sich die Athleten ganz der Capoeira widmen und ihre physischen Fähigkeiten immer weiter ausbauen, was dann wieder die Spirale antreibt.

Die Capoeira wird zum nationalen Kulturgut

Mit der politischen Öffnung Brasiliens in den 80er Jahren wandelte sich auch das Bild der Capoeira. Sie gilt nun als ein nationales Kulturgut und wird als etwas genuin brasilianisches betrachtet. Dieser veränderte Diskurs führt verbunden mit einer steigenden Medienpräsenz zu einer forcierten Vermarktung durch die lokalen Tourismus- und Kulturindustrien, die Capoeira, genau wie schon den Samba, zu einem Ausdruck des brasilianischen Lebensgefühls hochstilisieren. Das Bild des Capoeiristas als malandro und vagabundo ist dem des Freizeitsportlers und Athleten gewichen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß in den brasilianischen Medien Abbildungen von weißen Capoeiristas dominieren, während in deutschen Reiseführern ausschließlich Schwarze abgebildet werden. Daß Capoeira in den meisten deutschen Brasilienführern ein gesondertes Kapitel erhält, ist allein schon ein Beleg für ihren Erfolg.

Aber auch heute noch sind die meisten Schwarzen in Brasilien arm, während die Universitäten und Oberschichten „weiß“ sind. Der vorherrschende Diskurs zu diesem Thema ist die Ideologie der Rassendemokratie, der rassischen, ethnischen und sozialen Harmonie innerhalb einer nationalen Einheit. Trotz dieser Ideologie gibt es eine alltägliche Praxis der Diskriminierung. Innerhalb dieser „rassisch-ökonomisch“ segmentierten Gesellschaft läßt sich die Capoeira als ein Teil einer „brasilianischen Negritude“ betrachten. Neben Fußball oder Olodum ist sie zu einem (Aus)Weg aus der favela zu einem schwarzen Selbstbewußtsein geworden. Die gesellschaftliche Aufwertung der Capoeira eröffnet finanzielle Ressourcen und die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Trotz aller Bestrebungen, sie als gemeinsames Erbe aller Brasilianer zu nationalisieren, ist sie zugleich eine Anerkennung der schwarzen Kultur. In diesem Zusammenhang bekommt die viel diskutierte Frage nach dem Ursprung der Capoeira – Afrika oder Brasilien – eine politische Dimension, was sich auch in der Verknüpfung von Capoeira und Palmares zeigt. Palmares ist als Symbol des ehrenhaftesten Widerstands – des offenen und erfolgreichen Kampfes – der Schwarzen gegen die Sklaverei ein ideologisches Gegengewicht zur malícia, die in den Augen vieler Brasilianer immer noch als eine Praxis aus der Gosse gilt. Capoeira beansprucht heute den Geist der unbeugsamen und aufrechten Rebellion und Befreiung für sich. Dadurch, daß Zumbi zum Capoeira Mestre erklärt wird, wird die eigene Identität in die „Tradition von Palmares“ gestellt. „Capoeira é tudo que a boca come“, „Capoeira ist alles, was der Mund ißt“, sagte Mestre Pastinha einmal. Gemeint hat er damit den holistischen Anspruch der Capoeira: Für einen „echten“ Capoeirista ist Capoeira alles: Identität, Weltsicht und Lebenswelt zugleich. Er macht nicht Capoeira, er ist Capoeira.

Capoeira in Folkloreshows und Fitneßstudios

Nach Europa kam Capoeira Mitte der 70er Jahre als Teil damals populärer Folkloreshows. Sechs bis sieben Jahre später gibt es in den damaligen Zentren der Hippiebewegung, vor allem in Amsterdam, Paris, Westberlin und Christiania in Kopenhagen die ersten Capoeiragruppen. Der Unterricht war eher sporadischer als systematischer Natur und die damals noch ausschließlich brasilianischen Lehrer lebten meist von Trommelkursen und Shows. Die damaligen Capoeiristas begriffen sich eher als Lebenskünstler und Abenteurer denn als Sportler. In den späten 80er Jahren ändert sich dies und die europäische Capoeira erlebt ihren ersten Boom. In Brasilien wird der Mythos des „Landes der Zukunft“ begraben, der Cruzeiro befindet sich im freien Fall und mit dem Ende der Diktatur liberalisiert sich die Ausreisepraxis. Eine verstärkte Migration nach Europa und Nordamerika ist die Folge. Jetzt kommen auch Profis, die in Brasilien Rang und Namen haben, über den Atlantik um in Europa zu bleiben. Im Schatten der urbanen Subkultur entstehen die ersten Capoeiraschulen.

Aus dem Schattendasein auf den deutschen Freizeitmarkt

In dieser Nische blieb die Capoeira bis in die 90er Jahre. Dann zeigte die in Brasilien stattgefundene Veränderung auch in Westeuropa ihre Wirkung: Das Profil der Capoeira wandelt sich und es kommt zu einem zweiten „Boom“. Trainiert wird nicht mehr nur in alternativen Kulturzentren sondern auch in Tanz-, Fitneß- und Kampfsportstudios. Längst sind es nicht mehr nur die „Brasilophilen“, die sich unter dem Begriff „Capoeira“ etwas vorstellen können. Capoeira ist dabei die alternative Subkultur zu verlassen und beginnt sich auf dem deutschen Fitneß- und Freizeitmarkt zu etablieren: In fast allen deutschen Städten gibt es Capoeiragruppen und die Zahl der Schüler wächst ständig.
Noch ist das Exotische eine der Hauptattraktionen der Capoeira, aber auch die spezifische Mischung aus Tanz, Musik und Kampf ist en vogue. Als ein Kampfsport, bei dem statt Kraft Geschicklichkeit und Eleganz zählen, bei dem statt Kampf Kooperation im Vordergrund steht besitzt die Capoeira ein noch unausgeschöpftes Potential. Gerade weil Capoeira ein Spiel und zugleich ein Kampf ist und es trotzdem weder Sieger noch Verlierer gibt ist Capoeira attraktiv. Ihre Stärke ist ihre nach unseren Kategorien paradoxe Natur, die eine Einordnung genauso verhindert wie die endgültige Transformation in einen Sport. Capoeira ist, was sie immer war: eine Kultur des Widerstands.

Kontakt in Berlin: Gruppe „Capoeira Gerais“,
Thomas Heerde, Tel.: 030 / 44 05 39 67

Palmares war der größte Quilombo (Siedlung geflohener Sklaven) in der Geschichte Brasilien und bestand fast 100 Jahre. Macaco, der Hauptort von Palmares hatte in der Zeit seiner Blüte mehr als 20 000 EinwohnerInnen. Durch seine Größe und Handelsbeziehungen war Palmares de facto ein eigener Staat und wurde zu einer ernsten Bedrohung der portugiesischen Herrschaft in Nordost-Brasilien. Erst nach jahrzehntelangen Kämpfen und dem Verlust mehrerer Armeen gelang es der bis dato größten portugiesischen Armee in Brasilien Palmares 1694 mit Hilfe von fünf Kanonen zu zerstören. Die Schlacht endete in einem Massaker in dem über 10.000 BewohnerInnen des Quilombos ermordet wurden. Heute wird der 20. November, der Tag der Ermordung Zumbi´s (1695), des letzten und berühmtesten Führer von Palmares, als „Nationaler Tag der Bewußtseinsbildung der Gemeinschaft der Schwarzen“ in Brasilien gefeiert.


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