// GEGEN ALLE ÜBEL
Seit der gescheiterten Kongressauflösung durch Präsident Pedro Castillo im Dezember 2022 und seiner anschließenden Absetzung kommt Peru nicht mehr zur Ruhe. Mindestens 60 Menschen sind bis Ende Januar bereits getötet worden, Hunderte wurden verletzt oder verhaftet. Diejenigen, die täglich auf die Straße gehen und wichtige Verkehrsverbindungen blockieren, teilen den Wunsch nach Veränderung. Sie fordern, dass ihre Stimmen – die seit der Kolonialzeit mundtot gemacht werden – gehört werden. Dass auch ihnen in der Gesellschaft ein Platz eingeräumt wird.
Dabei geht es ihnen nicht nur darum, Castillo als den Vertreter der unterdrückten Schichten zu verteidigen. Allerdings repräsentierte seine Wahl – zumindest scheinbar – eine Abkehr vom kolonialen Erbe. Erstmals gab es einen Präsidenten, mit dem sich die besonders ignorierten und unterdrückten Teile der peruanischen Bevölkerung identifizieren konnten: die große Mehrheit der Landbevölkerung und der Indigenen – im Gegensatz zu den weißen Eliten in den Städten, vor allem die der Hauptstadt Lima, die bisher die Regierung stellten.
Die Protestierenden eint die Ablehnung des Status quo, als dessen Vertreterin Dina Boluarte gesehen wird. Sie wurde nach der Absetzung von Castillo ohne Votum der Bevölkerung zur Präsidentin ausgerufen. Seither wächst die Kritik an ihrer Amtsführung, der Ruf nach Rücktritt wird immer lauter. Boluarte, die ehemalige Mitstreiterin von Castillo, steht heute für die Rache der traditionellen Machthaber*innen an all jenen, die es gewagt haben, die Jahrhunderte alten Machtstrukturen in Frage zu stellen. Dementsprechend begegnet sie den Protestierenden, die sie als „schlechte Bürger“, „Randalierer“ und „Kriminelle“ diffamiert. Gemeint sind die ländlichen und indigenen Gemeinschaften, Arbeiter*innen und Studierende. Gemäß der kolonialen Zuschreibungen wird die Bevölkerung in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt.
Als ersten Schritt fordert ein Teil der Protestierenden den Rücktritt von Boluarte und die Ausrufung von baldigen Neuwahlen – und nicht erst 2024, wie von dieser angekündigt. Andere befürchten, dass aus schnellen Neuwahlen wieder eine schwache Präsidentschaft hervorgeht, die sich erneut einer oppositionellen Parlamentsmehrheit gegenübersieht, die weiter alles dafür tut, um das Land unregierbar zu machen. Der seit Jahren andauernde Konflikt zwischen Parlament und Präsidenten führt zu einem drastischen Vertrauensverlust in die parlamentarische Demokratie. Laut dem Instituto de Estudios Peruanos wurde der Kongress Mitte Januar von 88 Prozent der Peruaner*innen abgelehnt.
Heute gehen deshalb viele Protestierende einen Schritt weiter und fordern die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Eine solche, so die Hoffnung, könnte eine Basis legen für eine gerechtere Vertretung aller Bevölkerungsteile Perus. „Ich möchte nicht mehr zwischen dem kleineren und dem größeren Übel wählen müssen“, sagt dazu der Ingenieur Dante Wayrasonqo aus Abancay gegenüber LN (siehe Seite 6). „Ich weiß, dass eine neue Verfassung nicht alles ändern kann, aber sie kann dazu beitragen, die Situation zu verbessern und das Land demokratischer zu gestalten.”
Peru braucht einen grundlegenden Neuanfang, um sich aus dem andauernden Patt zwischen der parlamentarischen und der präsidialen Macht zu befreien. Die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung könnte ein solcher Neuanfang sein. Sie war eines der Versprechen, mit denen Pedro Castillo 2021 als Präsident angetreten war. Doch bisher konnten die Erben der Fujimori-Diktatur alle Versuche in Richtung einer neuen Verfassung verhindern. Dass es so bleibt, ist nicht ausgemacht. Doch die Vergangenheit zeigt, dass dafür der Druck der Straße dauerhaft aufrecht erhalten werden muss.