Literatur | Nummer 298 - April 1999

Gegen die Lust eine Mauer aus Zement

Andahazis Roman Im Land der Venus verursachte in Argentinien einen Skandal

Der argentinische Schriftsteller Andahazi stand schon vor Erscheinen seines Erstlings Im Land der Venus im Zentrum einer hitzigen Debatte um Macht und Zensur. Die Geschichte seines Protagonisten Colombo wurde so, anläßlich einer Literaturpreisverleihung, fast vierhundert Jahre später noch einmal Wirklichkeit. Schuld daran war die Preisstifterin und “Zementene Lady” Argentiniens, Amalia Lacroze de Fortabat.

Ann-Catherine Geuder

Ein halbes Jahrhundert Jahre nachdem Kolumbus glaubte, ein großer Entdecker zu sein, verfällt auch sein Namensvetter Matteo im italienischen Padua dieser großen Illusion: “Oh mein Amerika!” ruft er aus. Matteo Colombo, seinerzeit ein angesehener Arzt und Anatom, hat sich in Mona Sofia, die schönste und teuerste Hure Venedigs, verliebt. Nun sucht er verzweifelt einen Weg, Macht über sie und ihre Gefühle zu gewinnen, denn er kann zwar ihre Zeit kaufen, nicht aber ihre Liebe. Wie viele andere Ärzte will er einen aphrodisierenden Zaubertrank brauen, doch seine Testpersonen überkommt nur jedesmal das Bedürfnis, sich zu übergeben. Da klopft eines Tages das Schicksal an seine Tür: Er wird nach Florenz gebeten, um die schöne Franziskanerin Inés de Torremolinos von einer mysteriösen Krankheit zu heilen. Als er zwischen ihren Beinen ein “vollkommen erigiertes, winziges Glied” bemerkt, ist er zunächst entsetzt. Hermaphroditismus? Bei einer Mutter von drei Töchtern? Doch dann entdeckt er, daß er durch Reibung dieses Organs den Willen der Frau lenken kann und sie sich prompt in ihn verliebt. Matteo glaubt sich am Ziel seiner Wünsche. Sollte er mit diesem Wissen nicht auch sein “gelobtes Land”, die liebreizende Mona Sofia erobern können?
Am 16. März 1558 veröffentlicht Matteo Colombo daraufhin seine Abhandlung De re anatomica. Damit begibt er sich direkt ins Gefängnis, beschuldigt der Ketzerei und Blasphemie. Er geht nicht über Los und zieht keine 4.000 Lire ein. Denn das Kapitel “O mein Amerika, süßes Land meiner Entdeckung!” enthüllt eine Sensation, die die Vorstellungswelt der Renaissance zu erschüttern droht: Der Anatom rühmt sich, den Amor Veneris, den “Zauberschlüssel, der Frauenherzen öffnet” gefunden zu haben, heute besser bekannt als Klitoris oder Kitzler. Durch ein Wunder kann er dem Scheiterhaufen entkommen, wenn auch nicht der Zensur, die ihn mit einem rigorosen Publikationsverbot belegt. Sein “Amerika” versinkt wieder in einen Dornröschenschlaf.

Zement und Zensur

Fast vierhundert Jahre später fällt in Argentinien ein Roman, der die Geschichte eben jenes Colombos erzählt, einer anderen Form von Zensur anheim: Im Gegensatz zu dem älteren Schriftstück wird dieser dadurch jedoch mit einem Schlag bekannt. 1996 gewinnt der Schriftsteller und Psychoanalytiker Federico Andahazi mit seinem Debütroman El anatomista (Planeta, 1997) den angesehenen argentinischen Literaturpreis “Premio Joven” der Fundación Fortabat. Die Jury, ein ausgewählter kleiner Kreis von Kritikern, deren Durchschnittsalter bei achtzig Jahren liegt, hat sich einstimmig für diesen Roman entschieden. Dem jungen, erfolgversprechenden Autor soll während einer feierlichen Zeremonie eine Urkunde und die Prämie von 15.000 Pesos (rund 25.000 DM) überreicht werden. Doch dann kommt alles ganz anders. Der Stifterin und Zementkönigin Amalia Lacroze de Fortabat mißfällt, was die Jury ihr da zum Lesen und Loben vorgelegt hat,so sehr, daß sie die Party abblasen läßt und den Preis zurücknimmt – nur das liebe Geld muß ausgezahlt werden. Jeder einzelne Gast wird telefonisch ausgeladen. Selbst Andahazi erfährt erst am Tag der Preisverleihung, daß diese nicht stattfinden wird, und erst einen Tag später durch die Zeitungen den Grund dafür. Frau Fortabat geht sogar soweit, daß sie per Zeitungsanzeige vor diesem Roman warnt, der nicht, wie die Stiftung es voraussetze, dazu beitrüge, “die höchsten Werte des Menschengeistes zu preisen”.
Dieses Verhalten des Zementpfeilers der argentinischen Gesellschaft mußte Erinnerungen an die Repressionen während der Militärdiktatur wachrufen. Schriftsteller und Kritiker reagierten empört auf diesen Versuch der Zensur und bekräftigen den literarischen Wert des Romans. Der Schriftsteller Tomás Eloy Martínez (Evita) äußerte gegenüber der New York Times, Fortabats heftige und konservative Reaktion zeige, daß Argentinien noch immer eine intolerante und repressive Gesellschaft sei, insbesondere, wenn es um Themen wie Sexualität ginge. Die Stifterin selbst wollte sich zwar nicht weiter zu ihrer Ablehnung äußern, ihr Nahestehende ließen jedoch verlauten, sie stoße sich an der vulgären Sprache des Romans und fände ihn schlichtweg mittelmäßig und obszön. Der Soziologe Jorge Balán erklärte, die argentinische Oberschicht fühle sich bedroht von einem Roman, der die Kirche und andere Institutionen der Heuchelei beschuldige, da “sie auch auf eine bestimmte Weise handeln, dies aber zu verbergen versuchen – deshalb wollen sie nicht, daß solche Themen in einem Buch angesprochen werden”. Fortabat hatte nun erreicht, was sie nicht wollte: Genau jene Themen waren durch diesen Skandal in aller Munde. Andahazi und sein Buch wurden zum Politikum.

Der Deal mit der Erotik

Und zu einer heißbegehrten Ware auf dem Buchmarkt. Innerhalb von nur einem Monat ging der Roman in die zweite Auflage, der US-amerikanische Verlagsgigant Doubleday kaufte die englischen Übersetzungsrechte für ca. 200.000 US-Dollar ein (die höchste Summe, die je für einen Titel eines jungen argentinischen Autoren bezahlt wurde), und seit diesem Frühjahr würfelt auch der Krüger Verlag in Deutschland mit. Denn El anatomista wurde nicht nur in Argentinien ein Bestseller – Andahazi und Planeta können sich über die 17. Auflage freuen –, mit Übersetzungen in rund 30 Sprachen avanciert der Roman derzeit zum Welterfolg. Daß dabei alle über Los gehen und ihren Anteil abkassieren, versteht sich von selbst.
Außerhalb Argentiniens muß sich der Roman zwar an anderen Maßstäben messen lassen; hierzulande hilft ihm keine pikierte Stifterin zur Schlagzeile. Doch die braucht er gar nicht: Federico Andahazi besitzt die Fähigkeit, ein faszinierendes Thema humorvoll und spannend zu erzählen. Im Land der Venus wird weltweit als erotischer Roman verkauft – und gekauft –, obwohl er eigentlich gar nicht besonders erotisch ist. Ob der Roman wohl auch in den deutschen Betten soviel Wirbel verursachen wird wie in Argentinien? Dort sind es überwiegend Frauen, die ihn kaufen – und dann weiterverschenken. So zitierte die New York Times 1997 eine junge Sekretärin auf der Buchmesse in Buenos Aires: “Ich werde meinem Freund das Buch schenken, weil ich glaube, daß er noch viel über das weibliche Liebesorgan zu lernen hat.”
Aber auch Männer finden sich unter den Käufern, “weil dies genau die Art von Büchern ist, die die Priester meiner katholischen Schule verboten hätten”. Wobei wir bei den zentralen Themen des Romans wären: Kirche, Zensur und – vor allem – Macht. Denn weniger die Entdeckung dieses nicht die “Ausmaße eines Nagelkopfes” übersteigenden Organs als vielmehr die Motivation für die Suche danach war für den Autor von Interesse. Es war das Verlangen nach Macht, das Männer wie Colombo zu Alchimisten werden ließ, immer auf der Suche nach einem “Werkzeug, dem der Flatterwille des Weibes sich unterwirft”. Die Frau als fremder, bedrohlicher Kontinent, den es zu bezwingen und beherrschen galt. Doch gerade die Entdeckung Colombos, mit der er glaubt, das andere Geschlecht beherrschen zu können, könnte den Frauen Kurzweil mit dem eigenen Körper verschaffen: “Was geschähe, wenn die Töchter Evas selbst entdeckten, daß sie zwischen ihren Beinen die Schlüssel des Himmels und der Hölle trugen?”

Im Namen Gottes

Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß die Frauen diesen nicht kannten. Noch unglaubwürdiger ist Inés‘ Reaktion auf die Erklärung Colombos, daß ihre Liebe zu ihm rein körperlich und auf ihren Amor Veneris zurückzuführen sei. Ob Andahazi männliche Machtphantasien ins Lächerliche ziehen wollte oder doch Machoallüren verfallen ist, könnte Stoff für hitzige Diskussionen bieten und soll sich jede/r selbst überlegen. Aber eins ist klar: Er versucht sich hier nicht als Feminist, schlägt keine Bresche für die Lust der Frau. Vielmehr porträtiert er die Männerwelt in einer Zeit des Umbruchs, in der “der Wirkungskreis der Frauen sich allmählich und kaum merklich ausweitete”. Noch konnten bedrohliche Entwicklungen durch Repression, wie z.B. die Inquisition, gebannt werden. Schließlich waren Frauen dafür da, den Samen des Mannes zu empfangen und ihm gesunde – männliche – Nachfolger zu gebären. Weibliche Sexualität beschränkte sich auf diese eheliche Pflicht. Ein Organ, das keinem anderen Zweck als der sexuellen Befriedigung der Frau dient, konnte deshalb nur Sitz des Teufels sein; seine Entdeckung und Bekanntmachung war Ketzerei. Genau dies hat Colombo versucht, deshalb steht er vor dem Inquisitionsgericht. Doch er zeigt allen, was ein wahrer Christ ist und hält eine flammende Verteidigungsrede, als deren Dreh- und Angelpunkt die “Nichtexistenz der weiblichen Seele” dient. Der Prozeß über Matteo Colombo in der Mitte des Romans führt einen philosophischen Diskurs in aristotelischer Manier vor, bei dem Sprache als Handwerkszeug einer Überzeugungskunst dient, mit der die absurdesten Vorstellungen plausibel erscheinen können.
Was da alles “im Namen Gottes” gehetzt, geheuchelt und gelogen wird, scheint nun eben Anstoß gewesen für das laute Geschrei im katholischen Argentinien, nicht die vermeintlich pornographischen Stellen. Denn die Kirche ist in dem Roman genauso eng mit dem Bordell verbunden wie mit der nahezu in Leichenfledderei ausartenden Wissenschaft des Anatoms. So wird zum Beispiel der Reichtum der venezianischen Bordells damit erklärt, daß es in der Stadt drei Dinge im Überfluß gab: “Edelleute, Priester und Päderasten; und natürlich alle möglichen Kombinationen dieser drei Elemente.” Fühlt sich in Argentinien da jemand auf den Schlips getreten?

Federico Andahazi: Im Land der Venus. Aus dem argentin. Spanisch von Peter Martyr, Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/Main 1999, 39,80 DM
(ca. 20 Euro).


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da - egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende, alles hilft, die LN weiter zuerhalten! Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren