Chile | Nummer 599 - Mai 2024

Gescheiterter Neuanfang

Im Umgang mit den indigenen Mapuche zeigt Chiles Regierung auch nach zwei Jahren keine neuen Lösungsansätze für alte Probleme

Einst versprach die linksreformistische Regierung Chiles unter Präsident Boric einen Neuanfang mit den indigenen Mapuche. Kurz nach Halbzeit der Regierungsperiode ist davon nicht mehr viel übrig: Statt Offenheit für die Forderungen der Gemeinschaften sind Repression und Gesetzesverschärfungen an der Tagesordnung. Auch die 2023 einberufene Kommission für Frieden und gegenseitiges Verständnis kommt nicht voran.

Von Malte Seiwerth, Santiago de Chile

Mit einem hoffnungsvollen Blick sagt Gabriel Huenteman: „Ich möchte weiterhin daran glauben, dass die Verantwortlichen in der Regierung ernsthaft an der Lösung unserer Probleme interessiert sind.“ Huenteman ist Mapuche, seine Familie lebt inmitten der Anden an der Grenze zu Argentinien und kämpft seit Jahrzehnten um ihr Land.

Ungeklärte Landrechte, Landbesetzungen und durch Großgrundbesitzer*innen angeeignete Landflächen sind der Ursprung des Konflikts. Ein staatliches Programm zur Landverteilung kommt seit Jahrzehnten nur schleppend den Landforderungen der Mapuche nach. Viele Mapuche setzen daher auf Landbesetzungen und militante Formen des politischen Kampfs. Die im März 2022 angetretene linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric weckte große Erwartungen bezüglich der Erfüllung ihrer historischen Forderungen. Kurz nach Halbzeit der Regierungsperiode schwindet für viele langsam die Hoffnung auf Fortschritte.

Der 33-jährige Huenteman beginnt zu erzählen, wie seine Familie seit Jahrzehnten um ihr traditionell genutztes Land kämpft, wie sein Großvater ein ehemaliges Oberhaupt der Gemeinschaft juristisch verfolgt wird und wie die ganze Familie im März dieses Jahres nach Santiago vor den Präsidentenpalast reiste, um die Regierung um Hilfe zu bitten. Dort wurden sie zwar von mehreren zuständigen Politiker*innen empfangen. „Wir haben die Sitzungen aber ohne klare Antworten verlassen“, berichtet Huenteman wenig optimistisch.

Der Landkonflikt seiner Familie ist typisch für die südliche Bergregion Chiles. Die Pehuenche, eine Untergruppe der Mapuche, leben als Halbnomaden in den Anden und lassen ihre Tiere auf den Bergflächen weiden. Huenteman erzählt, dass ihnen mit der militärischen Besetzung durch den chilenischen Staat Ende des 19. Jahrhunderts zwar ein kleines Grundstück zugewiesen wurde, doch die eigentliche Weidefläche nie rechtlich als ihr Eigentum eingetragen wurde.

Seit den 2000er Jahren beansprucht nun eine reiche Familie die Weidefläche der Familie Huenteman. Im Jahr 2002 wurde der Großvater Atilo Pereira zum ersten Mal wegen illegaler Landbesetzung verurteilt. Seitdem folgen Räumungsdrohungen durch die Polizei, die Rückkehr der Familie Huenteman auf das Weideland und erneute Anzeigen. Huenteman erklärt: „Zuletzt kam die Polizei im April 2024, aber da wir schon von der Sommerweide zurück ins Tal gegangen waren, zogen sie ohne Vollstreckung der Räumung fort und erklärten das Land für unbesetzt.“

Seit spätestens 2003 erkennt der chilenische Staat offiziell eine historische Schuld des Landraubs an den Indigenen an. Der Bericht zur „historischen Wahrheit und einem neuen Umgang“, den der damalige Mitte-links-Präsident Ricardo Lagos in Auftrag gab, spricht von 6,4 Prozent der ehemaligen Ländereien, die den Mapuche nach der Eroberung zugestanden wurde, meist in Hügeln und auf eher unfruchtbarem Land. Und selbst von diesen Ländereien wurden die Mapuche teilweise danach vertrieben: durch die Verschiebung von Grenzmarkierungen, Betrug und Eintreibung von Schulden.

Mit dem Bericht von 2003 wurde auch die Nationale Kooperation für indigene Entwicklung (CONADI) eingesetzt, die fortan Ländereien kaufen und an Indigene zurückgeben soll. Doch der Prozess geht nur schleppend voran. Laut Informationen der CONADI erhielten bis zum Jahr 2023 nur 807 indigene Gemeinschaften Ländereien zurück – ein Bruchteil der offiziell 235.000 indigenen Mapuche-Gemeinschaften und knapp 3.000 überreichten Besitztitel. Bis heute ist unklar, wie viele Ländereien genau zurückgegeben werden müssen.

Chiles Präsident Boric setzte für die Lösung eine Kommission aus Mapuche und Vertreter*innen der Unternehmen und Großgrundbesitzer*innen der Region ein. Die seit fast einem Jahr tagende Kommission für Frieden und gegenseitiges Verständnis sollte ursprünglich die Anzahl der Ländereien angeben und einen Plan zur Rückgabe ausarbeiten. Doch selbst das Ziel ist unklar. Das ultrarechte Kommissionsmitglied Sebastián Naveillán erklärte noch zu Beginn, dass es überhaupt keinen Landraub gegeben habe und es ihm darum gehe, das Gesetz für indigene Ländereien zu verändern, sodass diese wieder an Nicht-Indigene verkauft werden könnten, um so angeblich die dort existierende Armut zu bekämpfen.

„Die Politik der Regierung führt zu Angst und Misstrauen“

Gleichzeitig reagiert die Regierung mit zunehmender Verschärfung von Gesetzen und Repression auf die politischen Forderungen der Mapuche. Fast seit Beginn der Regierungszeit ist das Militär mitsamt der Ausrufung des Ausnahmezustands in einem Großteil der Region für die Sicherheit zuständig. Erst Mitte vergangenen Jahres wurde das Gesetz gegen Landbesetzungen verschärft. Damit wurde die Möglichkeit von Haftstrafen gegen Landbesetzer*innen eingeführt und eine schnellere Räumung ermöglicht. Unter anderem die Forstunternehmen der Region, die häufig mit Landbesetzungen zu tun haben, pochten auf eine schnelle Verabschiedung des Gesetzes.

„Die Politik der Regierung führt zu Angst und Misstrauen“, erklärt Claudio Millacura, Professor an der Universidad de Chile in Santiago und selbst Mapuche. Das Wissen aller politischen Amtsträger*innen über die Mapuche sei voller Vorurteile und unglaublich rassistisch. Auch in linken Parteien. Er fügt hinzu: „Die Mapuche-Gemeinschaften wollen nicht, dass ihnen jemand Lösungen anbietet, die von einem Schreibtisch aus erarbeitet wurden. Sie fordern zuerst Gespräche, um Vertrauen zu schaffen.“

Doch zu diesen sei es bislang nicht gekommen. Millacura meint, das fehlende Interesse liege auch daran, dass die Mapuche keine homogene Wähler*innenschaft bilden, was dazu führe, dass sich die Parteien nicht richtig mit ihren Forderungen auseinandersetzen. Bei der Erklärung blickt er auf das Ende der 1980er Jahre zurück und meint: „Als die demokratischen Parteien nach Unterstützung suchten, um das Referendum über das Fortbestehen der Diktatur zu gewinnen, gab es eine Annäherung, in der die indigenen Gemeinschaften sich gehört fühlten.“

„Es gab niemals wirkliche Verhandlungen“

Das damalige Resultat war der Bericht von 2003. Seitdem habe es keine weitere Annäherung gegeben, auch der verfassungsgebende Prozess von 2021 bis 2023 mit der aktiven Teilnahme der Indigenen habe daran nichts geändert. „Schlussendlich gab es nie Klarheit, was genau die versprochene Plurinationalität bedeuten sollte. Sie diente vor allem, um gegen die neue Verfassung Stimmung zu machen“, ergänzt Millacura pessimistisch. Millacura glaubt, es bräuchte einen politischen Prozess, der über die aktuelle Regierung hinausgeht. Das Ziel dieser Politik sollten langfristige Gespräche und Verhandlungen sein, in der die Mapuche wirklich angehört werden. „Denn es gab niemals wirkliche Verhandlungen, weil die Bedingungen dafür nie gegeben waren. Daran muss gearbeitet werden.“

In den Anden hofft Huenteman weiterhin auf die Gespräche mit lokalen Vertreter*innen der Regierung. „Man sagte uns allerdings, dass das Land nicht von der CONADI gekauft und übertragen werden könne, da es sich um ein Konfliktgebiet handelt“, erzählt er. Man habe ihnen andere Grundstücke angeboten, aber ihnen sei es wichtig, weiterhin auf ihrem Land zu bleiben. Derweil läuft wieder ein Gerichtsverfahren gegen Huentemans Großvater. Er hat Angst und meint erschöpft: „Früher bedeutete eine Verurteilung wegen Landbesetzung eine Geldstrafe. Mit dem neuen Gesetz kann mein 92-jähriger Großvater ins Gefängnis kommen.“

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