Brasilien | Nummer 418 - April 2009

„Ich bin aus purer Notwendigkeit zur Bewegung gekommen“

Wie Ivanete de Araújo zur Hausbesetzerin wurde

Thilo F. Papacek

„Ich bin Ivantete de Araújo und 36 Jahre alt. Ich bin eine Generalkoordinatorin der Bewegung der Obdachlosen des Zentrums von São Paulo (MSTC). Konkret bin ich bei den Verhandlungen mit der Stadt und verschiedenen anderen Gruppen dabei. Und nicht zuletzt planen wir von der MSTC die neuen Besetzungen, die wir in der Zukunft vornehmen werden.
Ich bin aus purer Notwendigkeit zu der Bewegung gekommen. Ich komme aus Guariba, einer kleinen Stadt im Inneren der Provinz São Paulo. Als ich acht Jahre alt war, trennten sich meine Eltern und da ich die älteste Tochter war, musste ich meiner Mutter helfen, unser Einkommen zu bestreiten. Ich musste als Tagelöhnerin arbeiten und erntete Erdnüsse und Baumwolle, für einen sehr geringen Lohn. Aber ich übernahm Verantwortung und war stolz darauf. Aber in der Schule ging es gar nicht gut. Ich war immer völlig ermattet und schlief während des Unterrichts ein. Irgendwann sagte meine Lehrerin zu mir: ‚Ivanete, wenn du hier nicht sein willst, dann musst du auch nicht kommen!‘ Da habe ich mich so geschämt, dass ich nie mehr zur Schule gegangen bin. Damals war ich elf.
Mit fünfzehn Jahren bekam ich dann mein erstes Kind, alleine, der Vater kümmerte sich nicht um seinen Nachwuchs. Deshalb bin ich in die nächst größere Stadt gegangen, Ribeirão Preto, um dort als Hausangestellte zu arbeiten. Ich verdiente einen Mindestlohn. Dort lernte ich dann meinen Partner und Vater meiner anderen beiden Kinder kennen. Aber eines Tages verlor er seine Arbeitsstelle in der Metallindustrie und so gingen wir gemeinsam nach São Paulo, wo er Aussicht auf einen ähnlichen Job hatte. Wir gingen gemeinsam dorthin, denn der neue Arbeitgeber versprach uns eine Wohnung. Doch diese Wohnung war ein feuchter und heißer Keller. Meine Tochter hatte Bronchitis und wegen der Medikamente Herzprobleme, sie hätte dort unmöglich wohnen können. Ich forderte meinen Partner auf, bei seinem Chef eine Lohnerhöhung zu fordern, damit wir eine vernünftige Wohnung mieten könnten. Dabei kam es zu einem Streit und so wurde mein Partner gefeuert.
Da standen wir also, ohne Arbeit, ohne Job auf der Straße. Zuerst wohnten wir in cortiços [heruntergekommene Mietskasernen, die man wochenweise mietet, Anm. d. Redaktion]. Das waren sehr kleine Zimmerchen mit Gemeinschaftsbädern auf dem Flur. In den kleinen Zimmern muss man kochen, schlafen, leben. Trotz dieser Verhältnisse sind die Mieten im cortiço sehr hoch. Das waren schon schlechte Wohnverhältnisse, aber es kam noch schlimmer. Irgendwann konnten wir auch die cortiços nicht mehr bezahlen und so mussten wir auf der Straße wohnen.
Wir richteten uns, so gut es eben ging, unter der Autobahnbrücke von Glissério ein [dort befindet sich die größte Konzentration von Obdachlosen in São Paulo, Anm. d. Redaktion]. Drei bis vier Monate mussten wir dort leben. Meine jüngste Tochter war damals gerade einmal drei Jahre alt. Ich muss zugeben, zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich aufgegeben. Ich resignierte. Ich dachte: ‚Fertig. Das war‘s. Meine Würde hört hier auf, hier komme ich nie wieder raus.‘ Die Passanten nahmen uns nicht mehr als Menschen wahr, sondern als Vagabunden, als Abschaum. Ich lebte nur noch für meine beiden Töchter. Nachts konnte ich nicht schlafen, ich hielt Wache, weil ich befürchtete, dass uns jemand ausraubt oder Schlimmeres macht. Man muss sich auf der Straße eine gewisse Bösartigkeit angewöhnen, um sich zu schützen. Ich war allen gegenüber misstrauisch. Man entmenschlicht wirklich, wenn man auf der Straße lebt.
Doch mein Partner gab zum Glück nicht auf, ich habe ihm viel zu verdanken. Selbst in dieser hoffnungslosen Situation schaffte er es, einen Job zu bekommen. Er verkaufte gegrillte Snacks im Park. Aber er musste Schutzgeld bezahlen und so brachte er gerade einmal 15 Reais [circa fünf Euro] täglich zu seiner Familie, wenn es gut ging. Aber er ließ mich und meine Töchter nicht im Stich. Meistens mussten wir uns von Essensspenden ernähren, die wohltätige Organisationen unter der Brücke verteilen. Aber wir verwahrlosten. Es gab kein Bad, wir konnten uns nicht richtig waschen.
In dieser Zeit begann mein Partner, bei der MSTC mitzumachen. Er beteiligte sich an regelmäßigen Versammlungen und brachte eines Tages einen Mitgliedsausweis mit. Das bedeutete, dass er in der nächsten Besetzung mit mir und meinen Töchtern einen Platz bekommen würde. Ich wollte das nicht glauben. ‚Mit diesem Stück Papier glaubst Du, eine Wohnung für uns zu bekommen? Damit kannst du jemand anderes hinters Licht führen!‘, sagte ich ihm. Ich hielt ihn für naiv. Ich war sehr verbittert, hatte keine Hoffnung mehr.
Am 5. Oktober 1998 besetzten wir tatsächlich das stillgelegte Krankenhaus Matarazo. Aber auch dort gefiel es mir nicht. Ich hatte Angst, dass meine Töchter sich dort eine Krankheit holen würde. Doch da platzte meinem Partner der Kragen. Er sagte mir ganz deutlich: ‚Willst Du wieder unter die Brücke? Dann werde ich anfangen zu stehlen, Überfälle zu machen, mit Drogen zu dealen. Und wenn ich ins Gefängnis komme, dann wirst Du mich nicht alleine lassen, so wie ich Dich nicht alleine gelassen habe!‘ Da machte ich mir wirklich Sorgen, und dachte, ‚Gut, wenn das unsere Chance ist, dann ist eben das hier unsere Chance.‘ Und so machte ich dort mit.
Es war alles heruntergekommen und wir mussten alles selbst aufbauen. Keiner von uns hatte Geld. Eines Tages gab es eine Vollversammlung, weil wir nichts mehr zu Essen hatten. Da schnappte ich mir ein paar Frauen und sagte: ‚Gut, dann gehen wir jetzt zu den Gemüseständen auf dem Markt und bitten um Essen!‘ Doch die meisten Frauen wollten das nicht, sie schämten sich zu betteln. Da sagte ich ihnen, dass ich fragen würde. Sie bräuchten nur mitzukommen, um tragen zu helfen. Und das klappte tatsächlich ganz gut. Die Händler gaben uns den schlechten Reis, offene Kekspakete und solche Dinge, die sie nicht mehr verkaufen konnten. Und wir brachten viel Essen mit zurück und gaben es bei der Koordination ab. Die waren beeindruckt von meiner Organisation und luden mich gleich ein, bei der Koordination mitzumachen. Ich wusste gar nicht, was man da so machen muss, schließlich war es ja mein Partner, der mich zur MSTC mitgenommen hatte. Und so erklärten sie mir, dass man als Koordinatorin nicht befehlen soll, sondern gemeinsam mit den anderen Sachen organisieren muss. Das gefiel mir und so machte ich mit und übernahm im Laufe der Zeit immer mehr Verantwortung. Ich wohne inzwischen in der Besetzung Mauá, auch im Zentrum von São Paulo. In der Nähe der Eisenbahnstation Luz, gar nicht weit von Prestes Maia. Am 25. März 2007 haben wir dieses Gebäude besetzt.
Ich schreibe gerne und mache gerne Notizen, was mir bei meiner Arbeit sehr hilft. Aber ich bin nur bis zur 5. Klasse zur Schule gegangen. Manchmal schäme ich mich vor meinen Töchtern, weil sie inzwischen mehr wissen als ich. Aber ich bin natürlich froh darüber, dass sie lernen können, was ich nicht konnte. Ich habe große Lust, weiter zu lernen. Die politische Arbeit hat mich gelehrt, für meine Rechte einzustehen. Ich lasse mich nicht mehr unterbuttern. Das ist schon interessant. Ich habe mit elf Jahren die Schule abgebrochen, als Tagelöhnerin und als Hausangestellte gearbeitet, auf der Straße gelebt und jetzt bin ich in Deutschland, als Repräsentantin der MSTC. Das ist schon was! Wenn ich mir das so überlege, dann denke ich: ‚Lasst uns aufwachen! Wir, die arme Mehrheit der Brasilianer, können was erreichen, wenn wir unsere Kräfte bündeln und für unsere Rechte kämpfen!‘“

// Aufgezeichnet von Thilo F. Papacek

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