Mexiko | Nummer 421/422 - Juli/August 2009

„Ich glaube nicht an diese Art Demokratie”

Interview mit der sozialen Aktivistin Mariana Selva über Repression, Militarisierung und die kommenden Wahlen

Die Studentin Mariana Selva wurde während des brutalen Polizeieinsatzes in der Gemeinde Atenco im Jahr 2006 (siehe LN 384) festgenommen und gefoltert. Erst nach 20 Monaten im Gefängnis kam sie wieder frei. Die LN sprachen mit ihr über die gegenwärtigen Wahldiskussionen (siehe Kasten) und neue Formen der staatlichen Repression.

Interview: Nils Brock

Du trittst offen dafür ein, nicht zu wählen. Keine Gewissensbisse, dass durch die Stimmenthaltung die parlamentarische Rechte gestärkt wird?
Nein, auf diese Argumente lasse ich mich nicht ein. Ich werd‘ nicht wählen, nicht dieses Jahr oder irgendwann. Ich glaube nicht an diese Art der Demokratie.

Soll heißen? Politik soll man nicht den Berufspolitikern überlassen?
Ja, ich glaube es gibt inzwischen viele Menschen in Mexiko, die sich von den staatlichen Vertreterinnen und Vertretern und deren Politik abwenden, die uns keine Zeit lässt zu verstehen, was gerade in unserem Land passiert. Dem sollte man sich widersetzen und versuchen besser die Realität zu verstehen, in der wir leben.

Du sprichst von der Realität. Wie nehmen denn Kampagnen der Parteien Stellung zu den dringlichsten Problemen der mexikanischen Gesellschaft?
Die Kampagnen der Parteien sind heuchlerisch. Da wird Mexiko als durchweg demokratisches Land dargestellt und dabei weiß jeder, dass das gerade nicht der Realität entspricht. Nicht dass die Wahlversprechen nicht reizvoll wären: Dem Verbrechen den Kampf ansagen, Arbeitsplätze und würdigere Lebensbedingungen schaffen. Und die Leute, die verzweifelt sind in einem Leben voller Ausbeutung, Gewalt und Entwürdigungen sehen diese Verheißungen oft als einen Ausweg an. Doch letztlich sind die Regierenden selbst am Anstieg von Gewalt und Verbrechen beteiligt.

Was soll das heißen? Ein Mangel an sicherheitspolitischen Initiativen kann man der Regierung Calderón ja nun gerade nicht vorwerfen…
Ich würde das eher unter dem Wort Repression zusammenfassen. Ein Staat, in dem es keine Arbeit gibt, in dem sich multinationale Unternehmen breit machen, in dem nur einige Wenige Geld und Reichtümer besitzen und wo es immer gefährlicher wird, dagegen etwas zu sagen. Denn das einzige was die Regierenden wirklich tun, ist gegen soziale Bewegungen und die allgemein wachsende Unzufriedenheit einer zunehmend verzweifelten Bevölkerung vorzugehen. Das heißt, diskursiv machen sie mit dem Verbrechen und der Unsicherheit Schluss. Tatsächlich bauen sie jedoch den Polizeiapparat um, machen ihn für die Aufstandsbekämpfung fit. Es können noch so viele Menschenrechtsabkommen unterschrieben werden; die UNO kann sich noch so oft besorgt zeigen; dem gegenüber stehen politische Machtgruppen, die sehr gut innerhalb krimineller Netzwerke organisiert sind.

Du sagst, die Unzufriedenheit würde wachsen. Aber wächst nicht genauso schnell das Misstrauen und Denunziantentum in der Bevölkerung?
Klar, es gibt viel Misstrauen, begleitet jedoch – und das ist entscheidend – von einem brutalen Staatsterrorismus. Diese Art von Gewalt, die Kampagne [der Grünen Partei Mexikos, Anm. d. Red.], die Todesstrafe für Entführer und Mörder einzuführen, das alles schafft ein allgemeines Gefühl der Ohmacht. Die Leute sagen, „eigentlich kann ich nichts mehr tun, denn sonst droht mir auch so was“. Denn wenn wer den Mund aufmacht, wird als Krimeneller abstempelt. Und klar spürt man diese Paranoia, diese lähmende Angst – ein weiteres Element der Repression.

Du hast vor drei Jahren die Stürmung der Gemeinde Atenco von über 3000 Uniformierten miterlebt. Rückblickend sehen viele politische Chronistinnen und Chronisten Atenco als Auftakt einer neuen Qualität staatlicher Repression gegen soziale Bewegungen. Was war denn so grundsätzlich neu?
Der Polizeieinsatz entsprach der Strategie einer „Bevölkerungskontrolle“. Als die Einheiten in die Gemeinde Atencos eindrangen, ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie für diese Art Einsätze geschult wurden, eine gegen die Bevölkerung gerichtete Aufstandsbekämpfung. Dass ist der Beginn repressiver Maßnahmen die bis heute anhalten.

Warum fand gerade die Art Repression ihren Anfang in Atenco?
Das was in Atenco geschah, könnte man einerseits als staatliche Racheaktion bezeichnen. Denn der Stachel, wegen dieser rebellischen Gemeinde vier Jahre zuvor den Bau eines internationalen Flughafens aufgeben zu müssen – und wir reden hier vom größten Infrastrukturprojekt der damaligen Regierung unter Vicente Fox – saß tief. Andererseits ging es aber auch darum, die damals von der Zapatistischen Befreigungsarmee EZLN initierte „Andere Kampagne” aufzuhalten, innerhalb derer landesweit neue solidarische Netze geknüpft wurden. Das konnten wir später auch im Gefängnis spüren, mit jedem Unterstützerbrief der uns erreichte.

Die staatliche Repression fand damals ihren perfidesten Audruck in der sexualiserten Folter, welche die Polizisten in Atenco gegen festgenommene Frauen ausübte. Wie erklärst du dir rückblickend dieses Vorgehen, das später von der Regierung als spontane Entgleisungen einiger Polizisten abgetan wurde?
Ich denke, dass sich in dieser Praktik der gesellschaftliche Machismus auf zweifache Weise ausdrückte. Zum einen waren wir die Kriegsbeute, um den Aufständigen zu zeigen: „Schau her, wir haben gewonnen. Wir haben eure Frauen, euer Land und wir machen mit euch was wir wollen.“ Auf der anderen Seite war es aber auch ein Schlag gegen die wachsende Präsenz der Frauen in den sozialen Bewegungen, um ihnen zu sagen: „Pass auf, wenn du aus dem Haus gehst und deine traditionelle Rolle aufgibst, dann wird dir das gleiche geschehen wie ihnen.”

Du warst selbst fast zwei Jahre im Knast. Wie beurteilst Du, dass als Teil des aktuellen Sicherheitsdiskurses in Mexiko der Bau neuer Gefängnisse forciert wird?
Ich habe zwei Strafanstalten kennengelernt und beide waren hoffnungslos überbelegt. In jeder Zelle waren doppelt oder dreimal so viele Menschen wie vorgesehen. Die Bedingungen im Gefängnis sind menschenunwürdig. Die Nahrung ist minderwertig, es gibt keine Ärzte, die dir wirklich helfen können, die Korruption ist gigantisch. Die Regierung nennt diese Orte offiziell „Zentren der sozialen Wiedereingliederung”. Aber das Einzige, was du dort wirklich lernst, ist die Gesellschaft zu verabscheuen. Du kommst rein, als Bauer, Arbeiter oder Unwissender, was deine institutionellen Rechte angeht, und kommst völlig pervertiert wieder raus mit einem Hass gegen alle.

Wie schützt man sich dagegen?
Ich habe nach dem Gefängnis zwei Mal eine Therapie besucht. Und dort haben sie mir gesagt: Dir haben sie im Gefängnis deine Unschuld geraubt. Und klar, sie haben sie mir geraubt. Es ist nicht so, dass ich vorher mit geschlossenen Augen gelebt hätte. Aber im Gefängnis bin ich mir bewusst geworden, wie roh die Repression in Mexiko wirklich ist. Wie leicht wird jemandem ein Delikt untergeschoben, wird jemand dort körperlich, sexuell oder psychisch gefoltert.

Wie erklärst du dir, dass die mexikanische Regierung auf internationalem Parkett nie direkt mit solchen Vorwürfen konfrontiert wird? Aus Unwissenheit oder schauen andere Regierungen lieber weg?
Ich wurde im vergangenen Jahr von der Lateinamerikabeauftragten des norwegischen Parlaments zu einem Treffen eingeladen. Und sie brachte ihre Beunruhigung über die Menschenrechtssituation in Mexiko zum Ausdruck, insbesondere über die Praktiken sexualisierter Folter gegenüber Frauen. Als wir so redeten fragte ich sie, was denn die norwegische Regierung konkret tun könne, um die Menschenrechtslage in Mexiko zu verbessern. Und sie sagte, dass sie einen Brief schreiben und eine Einschätzung der norwegischen Botschaft in Mexiko anfordern könnte. Ich fragte sie daraufhin, warum Norwegen nicht den Handel mit Mexiko aussetze, wenn die Sorge der norwegischen Regierung über die Menschenrechtssituation dort so groß sei. Und sie sagte, dass sei leider nicht möglich. Ist ihre Sorge also gar nicht so groß? Am Ende ist es wohl eine Interessenfrage.

Hat man eine Wahl? Die Wahldiskussion in Mexiko
Am 5. Juli fanden in Mexiko Kommunal- und Zwischenwahlen im Senat statt (Die Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor). Die daraus resultierenden neuen oder alten Mehrheiten werden entscheidenden Einfluss auf die Politik der restlichen Amtszeit von Präsident Felipe Calderón von der ultrakonservativen Partei Nationale Aktion (PAN) haben. Es geht um weitere legale Schützenhilfe im staatlichen „Krieg gegen die Drogen”, um die Durchsetzung infrastruktureller Großprojekte und natürlich den weitern Machterhalt von inzwischen neun Jahren PAN in den Regierungsgeschäften. Doch die Opposition schläft nicht. Die Politdinosaurier der jahrzehntelang vorherrschenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) wollen verlorenes Land gut machen, stellen sich selbst als erfahrenere Strategen in Zeiten wirtschaftlicher Krisenstimmung dar. Die Führung der zerstrittenen links-zentristischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) dagegen verspricht einerseits großmütig, dass mit ihnen die Bevölkerung ganz sicher etwas zu gewinnen hat („así gana la gente”) und versucht gleichzeitig, den unermüdlichen Messias in den eigenen Reihen, den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Manuel López Obrador (AMLO), mundtot zu machen. Denn dieser wirbt unverfroren für die Arbeiterpartei (PT) und eine weitere linke Minipartei namens Convergencía. Sein Kalkül: je nötiger die PRD die beiden Unterstützerparteien braucht, die fest hinter AMLO stehen, um auf lokaler Ebene mehrheitsfähig zu werden, desto mehr wird er parteiintern auch wieder an Einfluss gewinnen.
Die mexikanischen Grünen gehen derweil mit der Forderung „Todesstrafe für Entführer und Mörder” recht erfolgreich auf Stimmfang. Über 10 Prozent der MexikanerInnen finden dieses Vorhaben laut aktuellen Umfragen unterstützenswert. Derweil haben die Kommentatoren der beiden großen mexikanischen Medienunternehmen Televisa und TV Azteca zur Stimmenthaltung aufgerufen, um den Parteien kollektiv das Misstrauen auszusprechen. In der Annahme, dass diesem Aufruf eher unentschlossene BürgerInnen als die StammwählerInnen von PRI und PAN folgen werden, kritisierten dies viele linke WahlbeobachterInnen als unverhohlene Unterstützung der mexikanischen Rechten. Die linksliberale Presse hat daher zum Sturm auf die Urnen getrommelt.

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