Argentinien | Nummer 425 - November 2009

In die Offensive gehen

Buenos Aires zwischen Wohnungsnotstand, staatlichen Prügelbanden und Räumungsdrohungen

Seit Mauricio Macri als Oberbürgermeister von Buenos Aires im Amt ist, hat sich die Situation für Wohnungslose sowie alternative Kultur- und Wohnprojekte verschärft. Die neue Stadtregierung setzt zunehmend auf Repression und neoliberale Stadtumstrukturierung. Macris neuester Coup ist die Gründung einer neuen Hauptstadtpolizei – einer repressiven Einsatztruppe gegen Straßenblockaden.

Christian Rollmann

Buenos Aires, Anfang Oktober. Der Geräuschpegel verstummt für einen Augenblick und der tosende Verkehrslärm auf der Avenida de Mayo entfernt sich in die Nebenstraßen, einige kurze Sekunden der Stille auf der nun autofreien Straße vor dem Rathaus von Buenos Aires – ein seltener Moment in der Stadt, die niemals ruht. Kurz darauf ertönen aus der Ferne die Trommeln und Gesänge der Demonstrierenden, die sich an diesem Donnerstagnachmittag versammelt haben, um gegen die Politik des Bürgermeisters Mauricio Macri zu demonstrieren. „Nein zu dem repressiven Vormarsch! Nein zur Hauptstadtpolizei! Gegen die Räumungen und für ein Wohnungsnotfallprogramm!“ ist das Motto unter dem sich mehrere tausend Demonstrierende laut und entschlossen auf den Platz der Abschlusskundgebung zu bewegen.
Die DemonstrantInnen sind dem Aufruf des Netzwerks „Kampf in der Stadt – Würde wird nicht privatisiert“ gefolgt, um ihren Protest gegen die Law-and-Order-Politik des Bürgermeisters und seiner Partei auszudrücken. Recht und Ordnung, das sind die zwei wesentlichen Säulen der Politik der aktuellen Hauptstadtregierung, die in einer Unmenge von Gesetzen und Maßnahmen ihren Ausdruck finden: unter anderem das Verbot von Demonstrationen ohne Anmeldung, eine generelle Kriminalisierung von Straßenblockaden, die Installation von knapp 500 neuen Kameras allein in diesem Jahr, die Abriegelung und Schließung von diversen Parks in der Nacht und das Verbot des Straßenhandels sowie die Gründung einer neuen Hauptstadtpolizei. Diese steht im Kontext von ständigen Berichten über so genannte gatillo fácil-Erschießungen, bei denen Jugendliche bei Festnahmen von der Polizei erschossen werden, sowie angedrohten und vollzogenen Räumungen von besetzten Häusern, Straßen und Grundstücken. Das ist die ordnungspolitische Bilanz von knapp zwei Jahren Mauricio Macri in Buenos Aires.
„Wir sind die politische Front des Anti-Macrismus“ sagt Karina, Mitglied des seit Ende 2008 bestehenden Netzwerks, das mehr als 50 verschiedene soziale, gewerkschaftliche, kulturelle und studentische Organisationen vereint. „Unser primäres Ziel ist es, die Sektoren, die von der Politik Macris entweder direkt betroffen sind oder sie einfach nur ablehnen, zu vereinen. Auf kurze Sicht wollen wir eine antirepressive Achse sein, aber auf lange Sicht geht es uns darum, den politischen Kurs Macris zu durchbrechen“, beschreibt die Aktivistin die Ziele des Netzwerks. Der Multimillionär Macri bildet zusammen mit dem Medienmogul Francisco De Narváez die Doppelspitze des Parteienbündnisses UNION-PRO, das eine neue, marktradikale Rechte repräsentiert und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011 den linksperonistischen Kirchners Konkurrenz machen könnte (siehe auch LN 421/422). Die Zeit seit seinem Amtsantritt war, angesichts der Unterstützung die Macri in weiten Teilen der Gesellschaft genoss, keine Sternstunde für die Linken in der Hauptstadt Argentiniens. Dem Unternehmer gelang es, durch eine Mischung aus Aufwertung des öffentlichen Raums und populären Prestigeprojekten, die durch eine Reihe von Werbekampagnen in einheitlichem Corporate Design begleitet wurden, einen bequemen Rückhalt in der Bevölkerung zu erlangen. Dennoch wurde immer wieder Kritik an der städtischen Politik geübt. Zum einen wurden wegen der Vergabepraxis von städtischen Aufträgen und der staatlichen Unterstützungen von privaten Unternehmen Korruptions- und Vetternwirtschaftsvorwürfe laut. Zum anderen steht die signifikante Verschiebung der Haushaltsmittel in bester neoliberaler Manier – weg von der Unterstützung sozialer und kultureller Einrichtungen und Schulen, hin zur Erhöhung von Polizei- und Sicherheitsetat sowie Wirtschaftsförderung – in der Kritik.
Mit der Schaffung der neuen Hauptstadtpolizei, der so genannten Metropolitana, setzt sich Macri nun auf lange Sicht ein Denkmal. Hintergrund war der Machtkampf zwischen städtischer und nationaler Regierung um die Befehlsgewalt über die Bundespolizei, die sich traditionell um sicherheitspolitische Maßnahmen in der Hauptstadt kümmert. Diesen verlor der Sohn italienischer Einwanderer, weswegen er die Neugründung der Metropolitana durchsetzte. Aufgaben der neuen Polizei werden vor allem die Verhinderung von Straßenblockaden und illegalem Straßenhandel sein. Einen handfesten Skandal rief die Nominierung von Macris persönlichem Vertrauten Jorge „Fino“ Palacios als Chef der Metropolitana im vergangenen Juni hervor. „Fino“ ist dafür bekannt, eher Rechtlosigkeit und Korruption im Polizeiapparat zu erzeugen, als Vertrauen in Ordnungsmacht zu wecken. Das liegt vor allem an seinen Verbindungen zu Kriminellen verschiedener Couleur; Palacios war aus der Bundespolizei entlassen worden, weil er mit der Entführung und dem Mord an Axel Blumberg in Verbindung stand, dem Sohn eines örtlichen Geschäftsmannes. Er hat nicht nur Kontakte zu den Kidnappern, ihm steht auch noch ein Verfahren bevor: Er wird beschuldigt, Beweise in der Untersuchung des Bombenanschlags auf die dortige jüdische Gemeinde zurückgehalten zu haben. Zudem wird ihm Verantwortung für die Ermordung von 39 DemonstrantInnen bei den Massendemonstrationen am 19. und 20. Dezember 2001 zugesprochen. Alles in allem war Palacios Berufung ein ungeschickter Schachzug von Mauricio Macri, der breite Ablehnung der Bevölkerung auf den Plan rief. „Wir haben dabei sozusagen eine Katalysatorenrolle gespielt“, erklärt Sergio Bertaccini, ein Mitstreiter von Karina beim Netzwerk gegen Privatisierung. Er fährt fort: „Palacios ist einfach nicht salonfähig, das war allen klar, wir haben dann die eindeutige Ablehnung der Bevölkerung sichtbar gemacht.“ Er bezieht sich dabei auf die letzte Demonstration des Netzwerks Ende Juli dieses Jahres, bei der über 3.000 Menschen mobilisiert wurden. Nach langer Zeit bildete diese Demonstration mal wieder ein wirklich breites Spektrum der Gesellschaft ab. Macri selbst hat sich jedoch niemals von Palacios distanziert, obwohl dieser eigenhändig von seinem designierten Posten zurücktrat.
Er kümmert sich lieber darum, die Straßen und Plätze der Stadt sauberer und nach seiner Logik damit sicherer zu machen. „Jugá limpio“ (Spiel‘ sauber) ist beispielsweise der Slogan einer mit 120 Millionen Peso (etwa 21,2 Millionen Euro) finanzierten Werbekampagne, der von den Müllautos herunter täglich tausendfach an das Bewusstsein der BürgerInnen appelliert. Doch die Umstrukturierung des öffentlichen Raums, die dafür sorgen soll, dass Wohnungslose sich nicht mehr in der Nähe der Innenstadt aufhalten, hat mit fairem Spiel nicht das Geringste zu tun. So ist kürzlich bekannt geworden, dass die Fahrzeuge eines Müllentsorgungsbetriebs eine unrühmliche Rolle in der Vertreibung von Obdachlosen in der Innenstadt spielen. Nach Berichten der Tageszeitung Pagina/12 fungierten die Müllwagen mehrfach als Nachhut bei Vertreibungen, die von der Einheit zur Kontrolle des öffentlichen Raums (UCEP) durchgeführt wurden.
Die UCEP ist eine zivile Einheit der Polizei, die bereits seit mehreren Jahren der Stadtverwaltung untergeordnet ist. Aktuell verfügt sie über einen jährlichen Etat von mehr als einer Million Peso, Personalkosten ausgenommen. KritikerInnen bezeichnen die UCEP als „parapolizeiliche“ Gruppe, die aus 26 Personen mit Türsteher-Statur besteht, welche in ziviler Kleidung und mithilfe von unauffälligen PKWs oder Kleintransportern vor allem in der Nacht ihre Tätigkeiten ausführen. Macri hat sie persönlich im Oktober 2008 per Dekret eingesetzt. Nun wird die Truppe in die Metropolitana eingegliedert und hat offiziell die Aufgabe, „den öffentlichen Raum durch Überzeugung und die Durchsetzung der bestehenden Vorschriften frei von widerrechtlichen Besetzern zu halten.“ Eine Rechenschaftspflicht ist nicht vorgesehen.
Das wäre auch schwer möglich, angesichts der Verhaltensweisen, die ihre Mitglieder an den Tag legen. Durch die Erzählungen des Cartoneros (Menschen, die in Buenos Aires vom Sammeln und Recyclen des Mülls leben; Anm. d. Red.) Gustavo Diego Pérez, der nächtliche Bekanntschaft mit der Einsatzgruppe gemacht hat, wird die dunkle Seite des vermeintlich harmlosen Sauberkeitsdiskurses mehr als deutlich. Pérez beobachtete wie sich im Oktober des vergangenen Jahres eine Gruppe von 13 Personen in vier Kleintransportern und einem Müllfahrzeug einigen Cartoneros, die mit ihren Handkarren ihrer Tätigkeit nachgingen, näherten und diese regelrecht überfielen. „Sie haben ihnen die Karren mit allem, was sie gesammelt hatten, ebenso wie die Ausweise abgenommen und alles zerstört.“ Er selber sei, weil die Beamten ihn nicht bemerkten, fast mit all seinen Habseligkeiten in eine Müllpresse geworfen worden. Aufgrund dieser Schilderungen hat eine Gruppe engagierter Stadtabgeordneter Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Die Regierung Macri lehnt aber jegliche Verantwortung ab und bestreitet die Vorwürfe.
Karina vom Netzwerk gegen Privatisierung bestätigt das Vorgehen der Truppe, die von der Presse auch als „Macris schwere Jungs“ bezeichnet werden. „Das ist eine Prügelbande. Sie schlagen obdachlose Männer, Frauen und Kinder, um sie einzuschüchtern“, sagt sie wütend und fügt an: „Die Opfer sind Menschen, die wegen des Versagens der Regierung eine adäquate Antwort auf die Wohnungskrise zu finden, auf der Straße leben. Mittlerweile sind es schon 15.000.“ Eine kürzlich von der Nichtregierungsorganisation (NRO) Proyecto 7, die sich für die Rechte Obdachloser einsetzt, veröffentlichte Untersuchung bestätigt diese Zahl und führt aus, dass im vergangenen Jahr 113 Wohnungslose in Buenos Aires umgekommen sind. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.
„Seit dem Amtsantritt von Macri hat sich der Prozess der Privatisierung des öffentlichen Raums zugespitzt und die Zahl der Vertreibungen aus dem Zentrum erhöht“, berichtet Tomás, ein Aktivist der Ständigen Versammlung gegen Räumungen. Der 23-Jährige ist seit mehreren Jahren in verschiedenen alternativen Wohn- und Kulturprojekten aktiv und weiß von einer langen Liste von räumungsbedrohten Orten zu berichten. Eine E-Mail, die in den letzten Wochen in Umlauf gebracht wurde, listet 17 verschiedene besetzte Orte auf, die in ihrem Fortbestehen bedroht sind. Darunter sind Kulturzentren, Nachbarschaftsversammlungen, sogenannte asambleas, Wohnprojekte und eine selbstverwaltete Metallverarbeitungsfabrik. Die angedrohten Räumungen seien Teil einer Offensive der Regierung gegen alternative Räume in der Stadt, erklärt Tomás. Diese habe seit jeher deutlich gemacht, dass sie von einer Lösung der gesellschaftlichen Notsituation nichts hält und den Kampf gegen linke Projekte angesagt. „Letztes Jahr im Dezember hat Macri sein Veto gegen ein vom Parlament verabschiedetes Wohnungsnotstandsprogamm eingelegt, welches Räumungen von besetzten staatlichen Gebäuden verhindern sollte“, erklärt er. „Auf der anderen Seite häufen sich administrative Räumungen, die vom Bürgermeister per Dekret und ohne Widerspruchsmöglichkeit angeordnet und innerhalb von kürzester Zeit vollzogen werden.“ Laut Tomás versucht die Regierung Macri die alternativen Projekte dadurch zu diffamieren, indem sie behauptet, dass die Besetzungen von Leerständen und die anschließende Nutzung als Kultureinrichtung oder kollektiver Wohnraum nur aufgrund von Partikularinteressen geschehe und dass dies nicht den Interessen der EinwohnerInnen von Buenos Aires entspreche.
Omar Chianelli von der Asamblea des Stadtteils Flores wohnt in solch einem Wohn- und Kulturprojekt. Doch geht es nach dem Willen der Regierung, soll diesem nun nach sieben Jahren ein Ende gemacht werden. Chianelli findet Macris Sichtweise schlichtweg zynisch: „Wir haben das Haus während einer schweren Krisenzeit besetzt, als sich niemand um die Ärmsten hier im Stadtteil gekümmert hat. Wir übernehmen hier eigentlich eine Aufgabe, vor der der Staat sich drückt.“ Die Asamblea beherbergt um die 35 Familien, in dem besetzten Häuserblock werden daneben Hausaufgabenhilfe, allerlei Workshops und eine Suppenküche für die Menschen aus der Nachbarschaft angeboten. Im August erhielten die BewohnerInnen die Mitteilung, dass ihr Haus geräumt werden soll. Seitdem werden ständig Wachen abgehalten, um das Haus zu verteidigen. Omar sagt, sie werden nicht einfach zusehen, wie die im Haus dort lebenden Familien auf die Straße gesetzt werden. Sollten die BewohnerInnen auf der Straße landen, droht ihnen eine aussichtslose Situation: Meist sind die Geräumten einem Teufelskreis zwischen Elendsvierteln und teuren Stundenhotels ausgesetzt.
Die Mieten in Buenos Aires sind in letzter Zeit zudem extrem angestiegen. In einem durchschnittlichen Wohnviertel haben sich die Mieten laut unabhängigen Studien innerhalb von zwei Jahren um 30 bis 80 Prozent erhöht. Gleichzeitig ziehen ständig mehr Menschen in die Stadt und die Armenviertel in der Hauptstadt explodieren. Nachdem Macri mit der Drohung angetreten war, die älteste dieser Siedlungen, die zentral gelegene und sich auf einem dollarmillionenschweren Grundstück befindliche Villa 31 dem Erdbeben gleichzumachen, musste er schnell einsehen, dass dieses Unterfangen nicht realisierbar war. Im Gegenteil: Das in den 1930er Jahren besetzte Viertel wächst auch heute immer weiter. Seit der Wirtschaftskrise 2001 sind wöchentlich zehn neue Familien hinzugekommen und es ist weder ein Ende noch eine Lösung in Sicht.
Nach Angaben der Wohnungskommission des Stadtparlaments leben heutzutage 300.000 Menschen innerhalb der Stadtgrenzen in solch prekären Armenvierteln. Die größte villa miseria im Süden der Stadt misst zur Zeit 65 Hektar und beherbergt 45.000 BewohnerInnen. Obdachlosen-Initiativen schätzten, dass es in Buenos Aires circa 100.000 in staatlichem Besitz befindliche Leerstände gibt. Angesichts dieser Situation, erscheint die Antwort der Stadtverwaltung auf den wohnungspolitischen Notstand mindestens so prekär wie die Situation vieler Betroffener: Statt sich um die Missstände zu kümmern, verordnet die Regierung Macri Repression, Vertreibung und Räumung.
Trotzdem lassen sich die linken Bewegungen der Stadt nicht entmutigen. Sie haben einen „Zustand der dauernden Wachsamkeit“ ausgerufen, um auf mögliche Räumungen schnell reagieren zu können. Nachdenklich merkt Sergio Bertaccini von der Koordination gegen Privatisierung dazu an: „Eigentlich müssten wir aber nicht nur die Verteidigung der bestehenden Projekte organisieren, sondern auch in die Offensive gehen und neue Orte besetzen.“ Das vor kurzem von ihnen initiierte Volksbegehren über ein Amtsenthebungsverfahren von Mauricio Macri, ist ein Teil dieser Offensive. Ob in erster Instanz ein Fünftel der Bevölkerung von Buenos Aires die Initiative unterstützt, wird sich zeigen. Immerhin wären das schon mal eine halbe Million Anti-MacristInnen.

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