Kuba | Nummer 531/532 - September/Oktober 2018

INSEL DER STAGNATION

Interview mit dem kubanischen Soziologen Pavel Vidal

Mit der neuen Verfassung bekennt sich Kuba zum Privatsektor und ab Dezember 2018 werden auch wieder neue Lizenzen für die „Arbeit auf eigene Rechnung“ ausgegeben. Doch die neue Regierung unter Präsident Miguel Díaz-Canel hat es verpasst auch gleich weitere Berufe für selbständige Tätigkeit freizugeben, sagt der kubanische Ökonom Pavel Vidal. Ein Grund für die negative Performance der Inselökonomie. Die werde auch 2018 kaum wachsen.

Interview: Knut Henkel

Kuba hat eine Verfassungsnovelle vorgelegt, die derzeit diskutiert wird und die auch dem ökonomischen Wandel auf der Insel Rechnung trägt. Ein Fortschritt?

Nun, die Novelle bewegt sich in dem Bereich, der erwartet worden war. Insofern sind die großen Überraschungen ausgeblieben. Im Großen und Ganzen werden die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur der letzten zwanzig bis dreißig Jahre nun auch in der Verfassung fixiert, das Privateigentum und die Aktivitäten des Privatsektors vor allem. Das ist ein Bekenntnis zum Privat­sektor, ein Signal, welches für Rechtssicherheit sorgt, aber nicht viel mehr. In der Novelle sind die Reformen der letzten zwölf Jahre unter Raúl Castro quasi abgesegnet worden, darunter auch die Auslandsinvestitionen. Das ist alles in etwa so erwartet worden, aber es ist auch sehr limitiert, denn man hält am derzeitigen Wirtschaftsmodell mit dem planwirtschaftlichen Element und dem Bekenntnis zu den staatlichen Betrieben fest. Zwar hat man das Wort Kommu­nismus gestrichen, aber das politische System basiert auf der Vorherrschaft der kommunistischen Partei (PCC).

Die Novelle wird derzeit debattiert – erwarten Sie noch Änderungen?

Die Erfahrung bei derartigen Befragungen der Bevölkerung zeigt, dass das Endergebnis in aller Regel konservativer ausfällt als die Vorlage. Das kann auch hier passieren. Ich habe wenig Hoffnung, dass es da noch zu signifikanten Änderungen kommt. Die Verfassungsreform geht nicht über das Limit hinaus, welches Raúl Castro mit dem Reformprozess definiert hat und es setzt dem neuen Präsidenten Miguel Díaz-Canel dieses Limit. Diese Verfassungsnovelle erlaubt keine Öffnung, keinen strukturellen Wandel – weder der Ökonomie noch des politischen Systems.

Was wäre dafür denn nötig?

Das ökonomische System basiert nach wie vor auf den staatlichen Unternehmen und der zentralisierten Planwirtschaft. Der Privatwirtschaft wird zwar eine Rolle eingeräumt, aber in einem System, das von der Planwirtschaft dominiert wird. Die kubanische Ökonomie benötigt aber deutlich mehr Markt, mehr Flexibilität, weniger staatliche Dominanz, denn was gescheitert ist, ist das Staatsmonopol, die Planwirtschaft. Sie hat in Osteuropa nicht funktioniert, sie funktioniert in Kuba nicht und Länder wie China oder Vietnam haben sie reformiert – in Kuba sind die Reformen aber sehr begrenzt. Der private Markt ist deutlich kleiner als die Bedürfnisse der Ökonomie, die Dynamik, mehr Produktivität, höhere Löhne, Effizienz braucht. Das ist eine Verfassung, die der Realität hinterherhinkt.

In den letzten Monaten haben mehrere Delegationen aus Vietnam Kuba besucht, wodurch die Diskussion über das vietnamesische Modell auf Kuba angekurbelt wurde. Eine reale Alternative?

Es hat durchaus den Anschein als habe das Modell Vietnams Modellcharakter, aber die Reformschritte unter Raúl Castro begannen vor zehn Jahren und heute sind sie weit entfernt von dem, was in Vietnam passiert ist. Der Reformprozess unter Raúl Castro ähnelte am Anfang dem Prozess in Vietnam: mit dem Abbau vom Arbeitsplätzen im öffentlichen, staatlichen Sektor, der Ankündigung der Währungsreform, der Legalisierung von privaten Kleinunternehmen usf – aber alles ging nur sehr langsam, quasi in Zeitlupe vonstatten.

Im Juli erfolgte auch die Ankündigung, ab Dezember neue Lizenzen für selbständige Tätigkeit auszugeben. Eine positive Nachricht, nachdem die Ausgabe dieser Lizenzen in einigen Schlüsselbereichen seit August 2007 eingefroren war?

Mit der Ankündigung der Ausgabe neuer Lizenzen gehen rigide Vorgaben einher, welche die privatwirtschaftlichen Optionen einschränken. Das sorgt dafür, dass sie über den Status von Kleinstbetrieben nicht hinaus kommen, dass sie nicht zu kleinen oder mittleren Betrieben wachsen können. Ein Beispiel: jede Person darf nur eine Lizenz beantragen und innehaben und das bremst die Expansion. Ein weiteres Element ist die höhere Besteuerung, wenn mehr Arbeitnehmer angestellt werden. Das sind Vorgaben, die die Dynamik bremsen und zu einem Artikel in der Verfassung passen, der festschreibt, dass die Konzentration von Reichtum verhindert werden soll. Ein Indiz dafür, dass die konservativen Kräfte an Einfluss gewonnen haben.

Allerdings gibt es auch Vorgaben, die einen innovativen, nachholenden Charakter haben, wie die Einführung digitaler Zahlungssysteme – ein ehrgeiziges Projekt in einem Land, wo Geld­automaten oft nicht funktionieren und Karten­zahlung selten möglich ist.

Richtig. Und kaum zu realisieren. Das Banksystem hat in den 1990er Jahren einen Aufschwung gehabt, da wurden die ersten Geldautomaten eingeführt. Aber danach haben die Banken kaum Investitionen vornehmen können und die Infrastruktur ist heute schlicht nicht ausreichend, auch wenn es in den letzten drei Jahren Ansätze zur Modernisierung gab. Die sind aber bei weitem nicht ausreichend, die Schlangen vor den Banken sind in aller Regel lang und die digitalen Systeme brechen oft zusammen. Positiv ist, dass die privaten Unternehmen gehalten sind ein Bankkonto anzugeben und ihre Geschäfte über die Banken abzuwickeln. Das soll dafür sorgen, dass der Staat seine Steuereinnahmen besser kalkulieren kann – das halte ich für sinnvoll. Schließlich hat auch der private Sektor seinen Beitrag für die Infrastruktur in Bildung, Gesundheit usw. zu leisten. Doch dafür muss das Banksystem modernisiert werden.Bisher trägt der private Sektor zu etwa zehn Prozent der Wirtschaftsleistung bei, die staatlichen Unternehmen zu rund 90 Prozent.

Seit 2010 warten die kubanischen Privatunternehmer*innen auf die Eröffnung von Großmärkten. Mittlerweile haben einige eröffnet, aber die Preise für die Konsumenten*innen haben sich kaum geändert. Ist das ein Hindernis?

Ja, das erschwert den privaten Unternehmern den Zugang zu Gütern, aber die haben längst Alternativen gefunden und besorgen sich Güter im Ausland über mulas, Maultiere, wie die bezahlten Boten, die Ware nach Kuba schleusen, genannt werden. Da kommen Waren aus Miami, aus Panama, aus Guayana und so fort. Das Gros der Produkte, der Rohstoffe für den privaten Sektor kommt auf informellen Wegen. Die privaten Unternehmen suchen nach Alternativen – das erhöht die Preise für die Produkte, erhöht die Unsicherheit, aber es funktioniert.

Der private Sektor ist limitiert und erstreckt sich bisher auf einige wenige Bereiche: vor allem die Gastronomie, die Vermietung von Privatunterkünften, etwas Handwerk und ein paar Dienstleistungen wie den Transport. Fehlt es an Optionen?

Definitiv. Es wäre sinnvoll gewesen mit der Vergabe neuer Lizenzen auch neue Optionen für die „Arbeit auf eigene Rechnung“ bekanntzugeben. Doch diese Chance hat man verpasst – ein Indiz dafür, dass die konservativen Kreise in Kuba den Ton angeben. Das ist allerdings nicht sonderlich logisch, denn schließlich hat man in die Ausbildung der Besserqualifizierten in Kuba investiert und durch die Beschränkungen profitiert die Wirtschaft zu wenig von ihren Möglichkeiten und ihrer Kreativität. Viele gehen wie ich ins Ausland, weil die Optionen dort besser sind. Andere arbeiten unterhalb ihrer Qualifikation, wie der berühmte Arzt als Kofferträger.

Im Kabinett von Präsident Miguel Díaz-Canel sitzt mit Wirtschaftsminister Alejandro Gil ein neues Gesicht – eine gute Wahl?

Alejandro Gil hat keine wissenschaftliche Vita. Er ist im Apparat des Finanzministeriums großgeworden, was ein Vorteil sein könnte, weil er sich auskennt und die Mechanismen kennt, nach denen in Kuba Entscheidungen getroffen werden. Ander­erseits denke ich nicht, dass er mit vielen neuen Ideen kommen wird, aber er ist derzeit in Kuba das Gesicht hinter den Planungen, die doppelte Währung endlich durch eine zu ersetzen. Auf die Währungsreform warten wir schon seit Jahren und immer wieder wurde sie angekündigt, aber gekommen ist sie bis heute nicht. Das wäre ein wichtiger Schritt, sollte Alejandro Gil Kuba wirklich zurück zu einer einzigen Währung führen.

Warum tut sich die Regierung so schwer, die Währungsreform durchzuführen?

Gute Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Ich habe mehrfach Prognosen abgegeben, wann die Regierung die doppelte Währung letztlich abschaffen wird, aber immer falsch gelegen. Deshalb halte ich mich nun zurück. Sicher ist, dass die Währungsreform extrem wichtig ist und dass Kuba nicht über das Instrumentarium verfügt, um sie umzusetzen. Das ist ein Dilemma und letztlich eine politische Entscheidung.

Was fehlt denn, um die Reform durchzuführen. Geld, um die Umstellung abzusichern?

Das hängt von der Art der Umstellung ab. Eine Variante benötigt finanzielle Fonds und hat eher strukturellen Charakter. Dazu muss man in die Geschichte der doppelten Währung zurückblicken, denn die doppelte Währung wurde legalisiert als der peso nacional stark an Wert verlor. 1993 war der peso nacional im Verhältnis zum US-Dollar, der am 26. Juli 1993 in Kuba legalisiert wurde, kaum etwas wert. Damals lag der Kurs bei 1:140 peso nacional. Mit den Reformen, der ersten Legalisierung des Privatsektors und anderer Maßnahmen, hat sich der peso nacional wieder zu einem Kurs von 1:24 erholt. Dieser Wechselkurs wurde festgeschrieben und gilt bis heute. Allerdings nicht für die staatlichen Großunternehmen, die nach wie vor mit einem Wechselkurs von einem US-Dollar zu einem peso nacional kalkulieren und agieren. Das ist der Wechselkurs aus den 1980er Jahren, der auch 2018 noch für die Staatsbetriebe gilt. Das hat Folgen, denn de facto ist die Wechselkursanpassung nur für die Bevölkerung real geworden, nicht aber für die großen Staatsunternehmen. Das ist ein Problem, denn somit existieren viele staatliche Unternehmen auf der Basis eines Wechselkurses, der irreal ist. Der Staat verkauft die Produktionsmaterialien, die Grundprodukte zu einem Kurs von 1:1 an die Unternehmen, obwohl am Markt ein Kurs von 1:24 gilt. Das ist eine gigantische Subventionierung.

Wie viele staatliche Unternehmen existieren nur aufgrund dieser Subventionierung?

Ich schätze etwa die Hälfte. Die große Herausforderung ist, wie man diese Unternehmen an den realen Wechselkurs heranführt und hunderttausende von Arbeitsplätzen erhält. Das ist die Essenz der Währungsreform und da gibt es zwei Optionen: die harte und die weiche Variante. Die harte Variante ist die Umstellung mit einem vorher festgelegten Wechselkurs, der viele staatliche Unternehmen zum Kollabieren bringen könnte. Die weiche ist eine fiktive Währungsreform, die zwar einen Wechselkurs von 1:1 vorsieht, aber den Unternehmen mit offenen Subventionen zur Seite steht und sie bei einer Umstellung des Wechselkurses begleitet. Sie subventioniert, aber mit rückläufigen Zuwendungen.

Für diese weiche Variante benötigt die Regierung Fonds für die Subventionen – oder?

Die Idee ist, dass die Subventionen aus den zusätzlichen staatlichen Einnahmen generiert werden, denn es gibt Unternehmen, die von der Um­stel­­lung des Wechselkurses profitieren und andere nicht. Normal wäre es, wenn nicht funktionierende Unternehmen nicht lange durch­ge­schleppt werden, sondern schließen, und wenn die Unternehmen, die effizient arbeiten, dann Arbeitskräfte aufnehmen, die Löhne anheben und dyna­mischer werden. Was wegfallen würde, wäre der Extra-Gewinn für die Unternehmen, die vom derzeitigen Wechselkurs profitieren. Er könnte zur Subventionierung der Unternehmen verwendet werden, die nach einer Umstellung Unterstützung bei der Anpassung brauchen. Letztlich würde es zu einer Umverteilung der Mittel kommen – der Kuchen wird neu verteilt und ein Schock wie bei der harten Umstellung vermieden.

Klingt plausibel, aber angesichts der Existenz von unterschiedlichen Wechselkursen in der Realität schwer umzusetzen?

Natürlich ist das komplex, denn es gilt zu verhindern, dass die Inflation steigt und da gilt es Sicherungen einzubauen.

Wer soll das umsetzen, die Unternehmen kontrollieren und sie auf Kurs halten? – In Kuba, wo die Korruption zunimmt und die Inspekteur*innen auch an sich denken?

Gute Frage. Das ist ein Problem, aber es gibt letztlich keine Alternative, denn seit vier, fünf Jahren ist die Währungsreform angekündigt und immer wieder wird sie aufgeschoben. Die ersten Schritte wurden in dem offiziellen Mitteilungsblatt der Regierung vor Jahren angekündigt, dann entschloss man sich erst einmal die Leitungsebenen der Unternehmen zu qualifizieren. Dann versandete der Ansatz.

Was sind die größten Hürden für die Reform – fehlt es am politischen Willen?

Ich denke am politischen Konsens.

Bolsa Negra?

Der Schwarzmarkt wird immer wichtiger, da die venezolanische Krise Kuba direkt betrifft und Erdöl auf dem internationalen Markt zugekauft werden muss. Das sorgt für eine Reduktion des staatlichen Angebots und für die Zunahme des informellen Sektors, der informellen Importe und die Suche nach Alternativen.

Wird Kubas Wirtschaft im verbleibenden Jahr 2018 stagnieren, wachsen oder schrumpfen?

Ich gehe von Stagnation oder einem leichten Minuswachstum aus. Die Zuckerrohrernte ist dieses Jahr um 40 Prozent zurückgegangen. Auch der Tourismus entwickelt sich nicht wie erhofft. Das sind zwei negative Indikatoren in den wichtigsten Sektoren der kubanischen Ökonomie. Der dritte Sektor ist der Privatsektor und der könnte durch die neuen Vorgaben an Dynamik einbüßen.

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