Kuba | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Symbolischer Niedergang

Kubas Zuckerindustrie ist an einem neuen Tiefpunkt angelangt

Nur noch etwas mehr als 1 Million Tonnen Zucker produzierte Kuba im letzten Jahr. Die einstige Vorzeigeindustrie steht symbolisch für die Probleme der kubanischen Wirtschaft. Die Mängelliste ist lang: es fehlten Kontrolle und Motivation, Fehler aus der Vergangenheit würden wiederholt und die Qualifikationsprogramme für technisches Personal und Management seien wirkungslos. Neue Perspektiven für den Sektor könnten sich mit direkten Investitionen in der Zuckerproduktion eröffnen. Doch damit tut sich die Regierung schwer.

Andreas Knobloch

Zehn Millionen Tonnen Zucker sollten produziert werden, koste es was es wolle. Die Menge entsprach dem Doppelten des durchschnittlichen Jahresertrags. SchülerInnen, FabrikarbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, Beamte, ganze Armee-Divisionen waren dafür zur Feldarbeit eingerückt. Diplomaten der sozialistischen Bruderstaaten in Havanna, sowjetische Marinesoldaten, vietnamesische StudentInnen und US-amerikanische BürgerrechtlerInnen halfen bei der Ernte. Selbst der sowjetische Verteidigungsminister Gretschko musste 1970 beim Besuch in Kuba zur Machete greifen. Neben 300.000 regulären ZuckerrohrarbeiterInnen waren 100.000 Soldaten und nicht weniger als 1,2 Millionen ArbeiterInnen aus allen Bereichen im Einsatz.
Wachsende Zuckerexporte sollten helfen, die Auslandsschulden abzutragen und die für den Aufbau der kubanischen Wirtschaft dringend benötigten Devisen einzunehmen. Die zehn Millionen Tonnen wurden zu einer „Frage der Ehre dieser Revolution“, so die damaligen Worte von Fidel Castro. Die gesamte Wirtschaft des Landes wurde dem Erreichen der magischen Zahl untergeordnet: Alle verfügbaren Ressourcen, vom Düngemittel bis zum Benzin, von Arbeitsstiefeln bis zum Essen wurden auf die Zuckerrohrernte konzentriert. Die Feierlichkeiten für Weihnachten, Neujahr und den Jahrestag des kubanischen Revolutionssieges (2. Januar) wurden auf Juli verlegt. Nicht ein Tag sollte verloren gehen.
Doch trotz aller Anstrengungen wurde das Ziel verfehlt. Zwar bedeuteten 8,5 Millionen Tonnen die höchste Ernteproduktion der kubanischen Geschichte. Die völlige Fixierung auf die „Gran Zafra“, die große Zuckerrohrernte, hatte jedoch die gesamte Wirtschaft in ein heillosen Durcheinander gestürzt und verursachte die zweite tiefe Wirtschaftskrise des revolutionären Kuba. Vierzig Jahre später kann die kubanische Zuckerwirtschaft selbst von 8,5 Millionen Tonnen nur träumen. Gerade erst wurde die schlechteste Ernte seit 105 Jahren eingefahren. Damals lag der Ertrag bei 1,2 Millionen Tonnen.
Neben Transportminister Jorge Luis Sierra Cruz wurde auch der für die Zuckerindustrie zuständige Minister Luis Manuel Ávila González auf „eigenen Wunsch“ seines Postens enthoben. Zwei Monate nachdem mit General Rogelio Acevedo der langjährige Chef des Instituts für Zivile Luftfahrt seinen Hut nehmen musste, traf es Anfang Mai damit zwei weitere Minister der Regierung Raúl Castro. Sierra Cruz, der auch Vizepräsident des Ministerrates war und dem mächtigen Politbüro der Kommunistischen Partei angehörte, galt als Vertrauter des Präsidenten und Angehöriger jener Generation von Politikern, die als Nachfolger der in die Jahre gekommenen historischen Führung gehandelt werden. Er wurde wegen „Fehlern in der Ausübung seines Amtes“ entlassen, ohne dass diese Verfehlungen näher erläutert wurden. Wie unter Raúl Castro fast schon üblich wurde er durch Mitglieder der Streitkräfte ersetzt. Seinen Sitz im Ministerrat übernahm der 80-jährige Acht-Sterne-General Antonio Enrique Luzón. Er ist einer der historischen Kommandanten der Revolution und derzeit mit der Erneuerung des kubanischen Eisenbahnnetzes beauftragt. Der neue Transportminister heißt César Igancio Arocha.
Ávila González hatte seit November 2008 das Ministeramt für Zucker bekleidet. Die Regierungserklärung zur seiner Absetzung fiel recht zurückhaltend aus. „In Anerkennung der Defizite seiner Arbeit“ habe Ávila González um seine „Freistellung gebeten“. Der Neue im Ministeramt ist mit Orlando Celso García Ramírez der ehemalige Stellvertreter. Er sieht sich einer gewaltigen Aufgabe gegenüber. Denn die kubanische Zuckerwirtschaft liegt offensichtlich am Boden. Die Zuckerindustrie ist einer der von der Wirtschaftskrise der 1990er Jahre am stärksten betroffenen Sektoren der kubanischen Wirtschaft. Die vor zehn Jahren angestrengten Umstrukturierungen und die Schließung mehr als der Hälfte der Zuckerfabriken hatten kaum Resultate gebracht. Die einstige Vorzeigeindustrie steht symbolisch für die Probleme der kubanischen Wirtschaft: Missmanagement, Ineffizienz und fehlende Investitionen.
Selbst das Parteiorgan Granma äußerte sich ungewohnt kritisch. Eine „miserable Produktion und Ineffizienz“ hätten zu der historisch schlechten Zuckerrohrernte geführt. Ohne genaue Zahlen zu nennen, konstatierte der Artikel die „Nichterfüllung eines bescheidenen Planes“ aufgrund „schlechter Organisationspolitik“. Bereits Ende Mai dieses Jahres hinkte die Produktion 230.000 Tonnen hinter dem Plan hinterher. Die spanische Tageszeitung El País schätzt, dass der diesjährige Ertrag bei 1,1 Millionen Tonnen oder gar noch darunter liegen könnte. Zum Vergleich: Im vorrevolutionären 1958 lag die Produktion bei 5,6 Millionen Tonnen und stieg bis 1990 auf mehr als 7,8 Millionen Tonnen.
Die von Granma aufgestellte Mängelliste ist lang: Sowohl im Ministerium für Zucker als auch den Betrieben fehlten Kontrolle und Motivation, um die Pläne zu erfüllen; Fehler aus der Vergangenheit würden wiederholt; die Qualifizierungssprogramme für technisches Personal und Management seien wirkungslos. Zudem seien die Maschinen der Zuckermühlen nicht rechtzeitig getestet worden, was dazu geführt habe, dass sie mehr als 41 Prozent der Erntezeit still gestanden hätten, weil Maschinen ausfielen oder der Nachschub zu niedrig gewesen sei. Gefordert wird „eine gründliche Untersuchung und ein Nachdenken über ein Anreizsystem für die ZuckerrohrarbeiterInnen, die heute die am schlechtesten bezahlten Stellen in der Landwirtschaft sind.“ Neben disziplinarischen Maßnahmen sei auch das administrative System zu verbessern.
Kuba hatte seinen Zuckersektor bereits zwischen 2002 und 2004 umstrukturiert. Die Anzahl der Zuckerfabriken war von 156 auf 61 verringert worden. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze wurden abgebaut. Die Anbaufläche wurde von zwei Millionen Hektar auf ungefähr 750.000 Hektar reduziert. Heute ist die ehemalige Lokomotive der kubanischen Wirtschaft nur noch ein Exportprodukt unter vielen und gerade mal für knapp fünf Prozent der Devisenerwirtschaftung verantwortlich. Dazu beigetragen hat auch die Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion.
Trotz der gesunkenen Relevanz der Zuckerrohrproduktion für die Devisenbeschaffung ist ihre symbolische Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn Zucker ist Teil des kubanischen Nationalerbes. Aufgrund seiner vielseitigen Verwendung, seiner Tradition und seiner historischen Wurzeln hat er weiterhin ein nicht zu unterschätzendes Gewicht für die KubanerInnen. Dementsprechend aufmerksam wird die Zuckerrohrernte verfolgt und kommentiert. Schlechte Ergebnisse schmerzen da besonders.
Angesichts der Fülle von Schwierigkeiten scheint es kaum vorstellbar, dass die kubanische Zuckerindustrie zukünftig wieder eine ernste Alternative für die gebeutelte Wirtschaft der Insel darstellen könnte. Doch äußert sich der Wirtschaftsjournalist Ariel Terrero in einem Artikel in der kubanischen Monatszeitschrift Bohemia vorsichtig optimistisch. Zwar sei „der Mangel an Zuckerrohr die Achillesferse dieses Sektors“, doch die Unterkapitalisierung, Zeitverschwendung und andere Effizienzverluste verschlimmerten die Situation noch. Zudem konkurrieren Kubas ZuckerpflanzerInnen heute mit anderen Agrarprodukten, die weitaus höhere Preise erzielen. Der Anbau von Reis, Süßkartoffeln und anderem Gemüse, Schweinezucht oder Kälbermast sind für Bäuerinnen und Bauern heute schlicht gewinnträchtiger als die Produktion von Zuckerrohr. Terrero plädiert deshalb für eine neue Preispolitik im Einklang mit den Veränderungen in der übrigen Landwirtschaft. Dies würde helfen, den Rückgang der Zuckerrohrfelder zu stoppen.
Die Zuckerindustrie stellt auch nicht nur Zucker her, sondern eine ganze Reihe von rentablen Nebenprodukten, die direkten Anteil am Export haben oder Importprodukte zu ersetzen helfen: unter anderem Strom aus Biomasse, Rum, Alkohole für die pharmazeutische Industrie, Kosmetika, Kraftstoffe und Viehnahrungsmittel.
Vor allem benötigt die kubanische Landwirtschaft jedoch Investitionen. Der momentane Anstieg der Weltmarktpreise für Zucker könnte die Attraktivität des Industriezweiges für ausländische Investitionen erhöhen, so Terrero. Ausländische Direktinvestitionen im Anbau und der Verarbeitung von Zuckerrohr wurden von den Verantwortlichen bislang allerdings äußerst ungern öffentlich diskutiert. Die Herstellung und Vermarktung von Rum und anderen Derivaten steht ausländischem Kapital dagegen offen. Vor allem die Zusammenarbeit mit Venezuela wird in diesem Sektor ständig ausgebaut. Darüber hinaus gibt es derzeit sechs Gemeinschaftsunternehmen (Joint-Ventures) mit Kapitalbeteiligungen aus Spanien, Italien, Kanada und Mexiko. Sie sind vor allem damit beschäftigt, technische Lösungen für die Optimierung der Zuckerproduktion zu vermarkten. Verhandlungen mit ausländischen Unternehmen über direkte Investitionen in die Zuckerproduktion waren dagegen vor zwei Jahren ergebnislos abgebrochen worden. Es gab wohl vor allem unterschiedliche Vorstellungen zum Mitspracherecht bei Entscheidungsprozessen. Gerade Direktinvestitionen könnten der Zuckerindustrie wieder auf die Beine helfen und eine wichtige kubanische Ressource aktivieren: das Fachwissen seiner ArbeiterInnen.

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