Juvem e progresso – Jugend und Fortschritt
Brasiliens Popmusik ist bereit für den globalen Markt
Als sich vor einigen Jahren die Karneval-Szene von Rio nach Bahia verlagerte und Gruppen wie Olodum und Timbalada zu angemessenem Weltruhm kommen ließ, wurde nach und nach auch in Deutschland bekannt, daß die Axé Music des brasilianischen Nordostens mit ihren Trommleraufmärschen das alte Samba – Bossa Nova – Klischee abgelöst haben mußte.
Inzwischen ist diese Bahia-Szene fast an ihrer eigenen Fließbandproduktion erstickt und konnte sich gerade mal so durch Öffnung zu Hip Hop-, Funk- und Rockelementen soweit hinüberretten, daß man noch eine Weile an sie glauben darf. Den Pionieren wie Carlinhos Brown ist es zu verdanken, daß diese Musik den Bezug zur Tradition von tropicalismo genauso bewahren kann wie zum worldwide dancepool. Wer da den gelungeneren Teil abhören will, nehme sich “alfagamabetizado” von Mr. Brown oder Marisa Montes Alben und staune im Booklet, wer hier mit wem zusammenarbeitet: Man kennt sich offenbar untereinander ganz gut.
Erwähnen muß man hierbei aber unbedingt einen, der vor nicht allzu langer Zeit aus der kommerziellen Verwertungsschiene des tourismusattraktiven Bahia-Sounds ausscherte, weil er eben nicht aus Salvador, sondern aus Recife kam und einen Schritt weiterging: Chico Science. Gesanglich ein Rapper, rhythmisch ein Regionalist und musikalisch ein – man glaubt es kaum – Psychedeliker. Man war fast verführt, in ihm eine Art Neo-Tropicalist zu sehen. Sein Mangue-Beat-Sound hatte genau das antropophagistische Element des tropicalismo der 60er, welches für eine Kulturrevolution gesorgt hatte und Brasilien mit dem www. der Popmusik verband.
Aus dem Schlamm ins Chaos
Sein Schlagwort hieß: Aus dem Schlamm ins Chaos. Für ihn ist Chaos Situation und Chance zugleich. Brasiliens Popstile, immer in Bewegung und einem ständigen Crossover ausgesetzt, bieten einem Außenstehenden manchmal einen etwas chaotischen Eindruck. Aber alles ist in ständiger Bewegung, genauso wie in der weltweiten Kommunikation. Chico träumte davon, daß Brasilien an dieser chaotischen Kommunikation nicht nur teilnimmt, sondern sie auch spürbar beeinflußt. Seine Band Naçâo Zumbi sollte ein Pool von Ideen und Rhythmen dieser Welt sein, ein ähnliches Konglomerat wie das Internet. Ob Samba, Trip Hop oder Grunge: Brasilien ist ab jetzt dabei! Chicos Symbol war daher die Parabolantenne: Sie empfängt alles, hat gleichzeitig große Sendereichweite und ist in der Form den Krebsen im Schlamm seiner Heimatstadt ähnlich, von denen die arme Bevölkerung lebt. Ein wahrhaft geistreiches Sinnbild: vom Schlamm ins Chaos, von der Daseins-Scheiße zum Mitmischen in der großen Unübersichtlichkeit des Erdballs. Chico symbolisierte auch ein neues Selbstbewußtsein der Jugend. Vor einigen Jahren erwischte es ihn, den Visionär, bei einem Verkehrsunfall. Er hinterließ nur zwei CDs.
Seltsamerweise konnte man aber zur gleichen Zeit jede Menge interessanter neuer und alter Namen entdecken, die ein neues Flair in den Betrieb brachten. Da verband Daúde plötzlich die Musik der fahrenden Sänger des Sertâo, den repentistas mit ihren frei improvisierten Spontanreim-Sängerwettstreiten, mit amerikanischem Rap. Nichts war naheliegender, aber Daúde langte zuerst zu. Auch Brasiliens ehemaliger weiblicher Rockstar No. 1, Fernanda Abreu, früher bei The Blitz, zeigte, daß Funk à la Prince sich mit brasilianischer Rhythmik verbinden läßt.
Vom Musikjournalisten zum Sänger
Und schließlich sollte man noch Chico César erwähnen, ein ehemaliger Musikjournalist, der beeinflußt von der Musik des Malinesen Salif Keita begann, als exotischer Tausendsassa die alte brasilianische Idee der Worldmusic, sprich tropicalismo, in die 90er zu transportieren. (Siehe auch das Interview in dieser Ausgabe) All diese Leute sind kurz davor, dem Weltmarkt zu zeigen: “Wir haben es drauf, demnächst für Euch die Töne anzugeben!” Nicht, weil sie besser oder schlechter wären, aber weil sie das kreative Potential haben, welches schon einmal in den 60er vergleichbare Denker von England, USA und Deutschland aus die Welt infizieren ließ. Check it out! Die Damen und Herren sind dieses Jahr bei uns auf Tournee.
Trotzdem soll dies alles nicht heißen, daß Brasiliens Popmusik sich nun mainstream-orientiert vollständig an die internationalen Konzerne verkauft habe. Es geht auch anders. Während die eigentlich kommerzielle Welle in Bahia tobte, entwickelte sich bei genauer Beobachtung fast eine leise Gegenbewegung, eine Art Brasil unplugged. Neue Talente wie Lenine & Suzano, der sensible Celso Fonseca, das a capella-Trio Esperanca aus Paris, das tuntenhafte, aber dennoch absolut geniale Stimmwunder Edson Cordeiro, der irgendwo zwischen Nina Hagen und Yma Sumac anzusiedeln ist, oder die Avantgardeband Uakti, die mit selbstgebauten Instrumenten Ravel-Kompositionen urwald-kompatibel machen, vermitteln, daß Brasilien noch eine andere Seite abseits vom Dancefloor hat. Auch erwähnenswert ist Arnaldo Antunes, einer der großen Rocksänger, der jetzt höchst anspruchsvolle Texte in konkreter Poesie à la Ernst Jandl schreibt und äußerst gewagte Stücke mit Atemgeräusch-Kanons, aber immer noch auf Rockbasis, aufnimmt. So etwas wäre bei uns entweder Artrock für Spezialisten oder unvorstellbar. Und von den Altstars sollte man dabei Caetano Veloso nicht vergessen, der erstmal eine Weile seine Fans mit New Yorker Avantgarde-Musiker-Begleitung narrte und jetzt schon zwei CDs lang alte spanische (!) Herzensbrecher mit großorchestraler Begleitung aus dem Replikator holt, daß es nur so eine Wonne ist. Caetano hat nunmal Narrenfreiheit, wenn er erzählt, daß er bei all diesen Liedern immer nur weinen muß, aber dafür gibt es niemanden, der sowas besser kann, und für mich hat er damit sowieso sein Meisterwerk abgeliefert (Fina Estampa).
Treffer bei der Cocktail-Generation
In Deutschland traut man sich allerdings brasilianische Musik nur mit Zeitgeist-Touch zu verkaufen, seit die Durchblicker unter den Major-Companies mitbekommen haben, daß in England die Raver “Hey!” gerufen haben, als einige Acid Jazz-DJs ihre verkratzten Bossa Nova-Schätze mit Dance-Beats vermischt aufgelegt hatten und für die neue Cocktail-Generation einen Treffer gelandet haben. Die Folgen spürt man noch heute in den inflationären Bossa Nova-Zitaten vieler Trip Hop-Produkte von der Insel, oder noch viel schlimmer: bei den Club-Designern aus Japan. Man höre sich das Soul Bossa Trio aus Japan an und kaufe sich danach alle Platten von Sergio Mendes und Ramsey Lewis. Zum Glück führt das wenigstens zur interessantesten Wiederveröffentlichungsmanie seit Jahren.
Wer jetzt allerdings meint zu wissen, was man in Brasilien so hört, wenn man Zeit für eine Tasse echt brasilianischen Kaffees hat, der wurde arglistig getäuscht. Denn so ganz unter uns sei verraten, daß die beeindruckendsten Plattenverkäufe eigentlich eine Person wie Xuxa machte, ein Fotomodell, die eine Kindershow leitete Barbie-Welt zu den 40 lukrativsten Unterhaltungs-Acts dieses Erdballs zählt. Und wem das nicht genug ist, der kaufe sich Platten von Leandro e Leonardo, damit er weiß, wie Marianne und Michael auf brasilianisch klingen. Deren música sertaneja ist – wie bei uns die Schmonzetten-Volksmusik – einer der krisensicheren Stile. Und apropo Michael: der Jackson genannte zieht auch in Rio bestimmt mehr Zuschauer als Caetano Veloso mit seinem Denkmal-Bonus. Wenn krisensicher, dann ziehe ich Djavan vor, in ihm steckt vielleicht alles, was in diesem Artikel zur Sprache kam: Brasiliens unschlagbarer Melodiereichtum, der versierte Touch zum angloamerikanischen Pop, kunstvolle Improvisationen und eine Intensität, die nur Jahrhunderttalente aufbringen.