La Doctora – Eine ungewöhnliche Ärztin
Das Leben der Jüdin Dr. Ruth Tichauer in Bolivien
Bolivien wurde zur Zuflucht einer nicht unbeträchtlichen Anzahl deutscher Juden und Jüdinnen, die vor der Verfolgung durch das Nazi-Regime zwischen 1933 und 1945 aus Deutschland flohen. Oft wollten sie nicht nach Palästina auswandern, oder sie hatten keine Einreisegenehmigung in die westlichen Länder bekommen. Gleichzeitig fanden in Bolivien auch eine nicht geringe Zahl deutscher Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg Unterschlupf. Opfer und Täter trafen in der Emigration wieder aufeinander. In diesem relativ kleinen Land wieder in großer Nähe, von Herkunft, Sprache und Kultur in der deutschen Nation verwurzelt und so die gemeinsame Geschichte im Exil fortsetzend.
Dies ist der historische Kontext, in den das Schicksal der deutschen Jüdin Ruth Tichauer verwoben ist.
Ein deutsch-jüdisches Schicksal
Sie wurde 1911 in Königsberg in Ostpreußen als Tochter des Ägyptologie-Professors Wieszinski geboren. Sie ging dort auch auf die Schule, machte das Abitur und begann danach mit dem Studium der Medizin. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten zwang sie, ihr Studium in Italien fortzusetzen, das sie dann in Rom mit der Promotion abschloß. 1935 heiratete sie Walter Tichauer, einen deutsch-jüdischen Kaufmann, mit dem sie bald zwei Kinder hatte. Nach der Pogromnacht von 1938 entschlossen sich beide, Deutschland zu verlassen und fanden, nachdem ihr Einreiseantrag in die USA wie in Großbritannien abgelehnt worden war, schließlich 1942 in Bolivien Aufnahme.
Soweit handelt es von einer in vielem typischen deutsch-jüdischen Geschichte. Der Vater war für seinen deutschen Patriotismus im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Die Eltern waren wie viele deutsche Juden und Jüdinnen in das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum aufgestiegen, der Geist des Elternhauses war ein säkularisierter Bildungshumanismus. Die politische Gesinnung in der Weimarer Republik war liberal. Die Tochter Ruth übernahm diese Welt und radikalisierte sie in Richtung frauenbewegter Eigenständigkeit und liberal-sozialistischer Orientierung. Sie heiratete einen Großbürger, mit der entschiedenen Vorstellung, Beruf und Kinder miteinander zu verbinden. Eine Frau aus dem westlichen deutschen Judentum also, mit seinen Freundesbanden und Beziehungen zum deutschen Bürgertum, in Lebens- und Geisteshaltung diesem oft ähnlich, wenn auch von ihm zunehmend durch den Riß des nationalistisch-antisemitischen Ressentiments getrennt. Was waren das für FreundInnen, die schwiegen, als Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen brannten?
In Bolivien arbeitete Ruth Tichauer zunächst beim Roten Kreuz, da bei ihrer Ankunft die ihr zugesagte Stelle an der Universität in La Paz schon vergeben war. Bald konnte sie jedoch eine Arztpraxis in La Paz eröffnen und dadurch auch für den Unterhalt ihrer Familie sorgen. Wieder einigermaßen auf sicheren Füßen begann sie ihr eigentliches Lebenswerk. Sie gründete eine Schule für Sozialarbeit, dann einen medizinischen Dienst im Frauengefängnis und schließlich eine zweite Praxis in einem Armenviertel von La Paz: das Consultorio del Gran Poder, in dem sie zunächst an zwei Tagen in der Woche kostenlos für die indianische Bevölkerung Sprechstunden abhielt. Über die Jahre erweiterte sie diese Arztpraxis, so daß heute ein weiterer Arzt, ein Zahnarzt und ein Rechtsanwalt samt einigen Hilfskräften (auch deutsche PraktikantInnen) darin ständig tätig sind. Außerdem baute sie eine kleinere ärztliche Versorgungsstation am Titicaca-See auf dem Altiplano und eine “Urwaldklinik” in Omeja in der Provinz Yungas auf. Hin- und Rückweg dieser mobilen Klinik bestehen zusätzlich aus “Wegrandsprechstunden”. Ihr Fahrer ist in insgesamt 35 Quechua-Dialekten kundig, womit er die Verständigung mit den oft tagelang gereisten Indígenas ermöglicht. Die Behandlung wird durch mitgebrachte Naturalien entgolten.
Heilung mit einfachen Mitteln
In der alltäglichen medizinischen Praxis konzentriert sich Ruth Tichauer vor allem auf die wichtigsten Volkskrankheiten wie Tuberkulose, Mageninfektionen, Würmer, Rheumatismus, Zahnverfall oder durch Hunger verursachte Mangelsymptome. Sie verwendet die einfachsten, aber doch effektiven medizinischen Techniken. Sie gibt die billigste, aber doch ebenso heilende Medizin. Sie studiert und integriert die einheimischen medizinischen und pflanzlichen Kenntnisse. Sie wendet westliche Medizin im Rahmen der Lebenswelt, den Vorstellungs- und Wahrnehmungsweisen der indianischen Bevölkerung an. Nur die komplizierteren Fälle verweist sie an die großen Kliniken in La Paz. Sofern die PatientInnen die Behandlung dort bezahlen können. Die ambulante medizinische Versorgung wird ergänzt durch sozialpolitische Hilfen, wie etwa durch Mittel zur Empfängnisverhütung, durch Familienberatung oder durch Rechtsbeistand gegenüber NachbarInnen, dem Landbesitzer oder dem Fabrikbesitzer. Ebenso wird sie durch eine basisnahe Entwicklungspolitik ergänzt: die Unterrichtung im Anbau von nahrungsreichen Pflanzen oder in der Verwendung von Bewässerungstechniken.
Überflüssiges vermeiden
Die Philosophie, die dieser mobilen medizinischen, sozialen und entwicklungspolitischen Versorgung zugrundeliegt, beschrieb Ruth Tichauer einmal als ‘sophisticated simplification’, also als die auf kluger Erfahrung beruhende Vereinfachung medizinischer Dienste. Ihr Grundprinzip: “Alles Überflüssige vermeiden” unterscheidet sich von der paralysierenden Armut der Armen, und meint stattdessen die selektive Abwesenheit von Dingen und Aktivitäten, die von den wesentlichen Zielen ablenken. Es ist vielleicht eine säkularisierte jüdisch-kosmopolitische, jedenfalls keine christlich-westlich-missionarische Philosophie. In ihren praktischen Konzequenzen mußte sie aber zugleich immer wieder gegen die Versuchungen des westlichen Wohlstands, gegen westliche Fortschrittsmedizin, gegen die Widrigkeiten finanzieller und praktischer Schwierigkeiten, gegen die Widerstände von Kirche, Industrie und Militär, aber auch gegen die ablehnende Haltung und Einflußnahme eines Teils der deutschen Gemeinschaft in Bolivien durchgesetzt werden.
Inzwischen ist “La Doctora” – wie sie von den Aymara ehrwürdig genannt wird – weit über 80 Jahre alt. Sie ist immer noch bewundernswert aktiv, aber auch besorgt über die Zukunft ihres Lebenswerks. Die Enkel bereiten sich darauf vor, es später auf ihre eigene Art fortzusetzen. Vielleicht gibt es ja weiterhin medizinische PraktikantInnen, aber auch SozialarbeiterInnen oder sozial engagierte Natur- und SozialwissenschaftlerInnen aus Deutschland, die für einige Monate daran mitwirken wollen.
W. Spohn, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin, Babelsbergerstr. 14-16, 10715 Berlin.