Chile | Nummer 235 - Januar 1994

Langweiliger Tiger Lateinamerikas

Wer Chile die nächsten Jahre regieren wird, stand schon lange vor der Wahl fest. Und niemand zweifelte daran, daß Eduardo Frei Riuz-Tagle bereits im er­sten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen würde. Lange Zeit wußte aller­dings niemand, wie lange die nächste Legislaturperiode dauern würde, doch schon drei Tage vor der Wahl zeichnete sich eine breite Mehrheit für eine sechsjährige Amtszeit des Staatspräsidenten ab. Die einzige Frage, die mit einer gewissen Spannung erwartet wurde, war die Verteilung der Sitze in beiden Kammern des Parlaments. Doch auch hier erwartete niemand ernsthaft die Sensation: Die Regierungskoalition Concertación hätte alle 18 Senatsplätze ge­winnen müssen, um die Sperrminorität der noch von Pinochet eingesetzten Se­natoren ausschalten zu können.

Jens Holst

Nur vier Jahre nach dem Ende der Mili­tärdiktatur ist die Politik in dem südame­rikanischen Land zweitrangig geworden. Kaum jemand war ernsthaft an den Wah­len interessiert, die Stimmabgabe wurde eher als unvermeidliches Übel angesehen – schließlich besteht in Chile Wahlpflicht. Und zu entscheiden gab es im Prinzip nichts. Chile sonnt sich im Lichte seines Wirtschaftsbooms, der neue Reichtum ist unübersehbar, und auch die Armen be­kommen einen kleinen Anteil vom Ku­chen ab. Der noch amtierende Finanzmi­nister Alejandro Foxley lancierte genau eine Woche vor der Wahl seine Voraussa­gen für das kommende Jahr: Das Wirt­schaftswachstum soll danach weiterhin bei 6 Prozent liegen, die Inflationsrate bei 12 Prozent jährlich bleiben. Und die makro­ökonomi­schen Zahlen kurz vor Ende des Jahres 1993 lassen keinen Zwei­fel an der Effizi­enz des chilenischen Wirt­schafts­modells aufkommen: Die Inflation lag im Novem­ber bei phantastischen 0,1 Prozent, die Ar­beitslosigkeit ging im zu­rück­liegenden Trimester auf 4.8 Prozent zu­rück und die Ge­hälter stiegen im glei­chen Zeitraum durchschnittlich um 2,7 Prozent.
Regierungsvertreter betonen immer wie­der, daß gerade die untersten Einkommen am stärksten gestiegen sind und ihr Zu­wachs weit über dieser Lohnsteigerung liegt. Wie Pedro Sáenz von der UNO-Wirtschaftskomission für Lateinamerika, CEPAL, bestätigt, ist die Kaufkraft der armen Leute um bis zu 38 Prozent gestie­gen. “Die niedrigsten Löhne haben in Chile einen großen Sprung getan, bei den Leu­ten, die einen halben Mindestlohn verdie­nen, gab es sogar eine Steigerung um 40 Prozent.” Im Klartext bedeutet das eine Lohn­steigerung von 85 auf etwa 120 DM pro Monat. Bei ständig steigenden Lebens­haltungskosten, die in vielen Be­reichen kaum unter denen der Bundesre­publik lie­gen, ist das weiterhin ein erbärmlicher Lohn.

Der Tiger hat kein Interesse an Politik

Trotz der weltweit geachteten öko­nomischen Erfolge wird Chile ein Land krasser sozialer Gegensätze bleiben. Die Einkommensverteilung hat sich in Chile seit dem Ende der Pinochet-Diktatur kaum geändert. Die größte Armut hat jedoch aufgrund der bescheidenen Lohnsteige­rungen und vor allem wegen des deutli­chen Rückgangs der Arbeitslosigkeit ab­genommen. Nach Berechnungen der CE­PAL sank der Anteil der Armen in Chile von 1987 bis 1992 von 44,4 auf 32,7 Pro­zent der Gesamtbevölkerung, bei der extremen Armut fiel der Rückgang von 16,6 auf 9,0 Prozent im gleichen Zeitraum noch deutlicher aus.
Entscheidende Änderungen in der Wirt­schafts-und Sozialpolitik werden vor die­sem Hintergrund von dem neuen Präsi­denten nicht erwartet. Als Vertreter einer neuen politischen Generation steht er je­doch für eine gewisse Modernisierung in Chile. Sein Slogan “Für die neuen Zeiten” paßte wunderbar in den nichtssagenden, inhaltslosen Wahlkampf. Mehr als neuen Schwung symbolisierte er den Zeitgeist in diesem Land, das jahrelang die internatio­nale Solidarität im Kampf gegen eine brutale Militärdidktatur auf sich zog und nun auf wirtschaftlichem Gebiet zum “Tiger Lateinamerikas” geworden ist. Die Politik ist zweitrangig geworden. Dies hat offenbar auch der neue Präsident erkannt, zumindest machte er sich diesbezüglich schon vor seiner Wahl keine Illusionen: “Dieser Wahlkampf verlief ohne Traumata und mit großem gegenseitigem Respekt inmitten einer kräftigen Investitionswelle in Chile.”

Streitereien bei der Bestimmung der Kanditaten

Die überwältigende Mehrheit, mit der Eduardo Frei Junior die Präsidentschafts­wahl vom 11. Dezember 1993 gewann ist nicht nur ein Ausdruck für eine breite Ak­zeptanz des Regierungsbündnisses aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozial­demokraten. Entscheidend für das Resul­tat waren auch die Streitereien sowohl in der rechten als auch der linken Opposi­tion. Bei der Bestimmung des gemeinsa­men Kandidaten der rechtskonservativen Renovación Nacional (RN) und der fa­schistischen UDI (Unabhängige Demo­kra­tischen Union) wurde mit allen mögli­chen unlauteren Mitteln gekämpft, so daß es schließlich zu einem Skandal kam. Der Rechten blieb nichts anders übrig, als auf einen bekannten Namen zurückzugreifen: Arturo Alessandri ist der Enkel des ehe­maligen Präsidenten Jorge Alessandri, des Vorgängers von Eduardo Frei Senior. Seine Kandidatur war eine Notlösung und wurde von seinen eigenen Anhängern schon Wochen vor der Wahl als verloren sehen. Um ihre eigene Haut zu retten, set­zen sich die rechten Kanditaten für Senat und Abgeordnetenhaus zuletzt für eine ge­splittete Stimmabgabe ein: Die Erst­stimme für Frei und die Zweitstimme für den/die KandidatIn der UDI bzw. RN.
Das gesamte Spektrum links von der re­gierenden Concertación ist sogar in drei Kandidaten zersplittert. Das von den Kommunisten dominierte Parteibündnis MIDA brachte den Priester Eugenio Pi­zarro ins Rennen, der letzlich eher eine peinliche Figur abgab und eigentlich von niemandem ernst genommen wurde. In­haltlich hatte er kaum etwas zu bieten, und seine heftigsten Attacken richtete er gegen seine linken Kontrahenten. Zu dem Außenseiter Christián Reitze, dem Kandi­daten der Humanistischen Partei und der Grünen, fiel ihm nichts Besseres ein als daß ein Blonder und Blauäugiger nicht chilenischer Präsident werden könnte. Den unabhängigen Kandidaten Manfred Max-Neef, der von der Christlichen Linke unterstützt wird, diffamierte er als Öko-Spinner. Trotzdem konnte der deutsch­stämmige Volkswirt, der sich in der Ver­gangenheit wiederholt durch eine kritische Position zur Wirtschaftspolitik hervorge­tan hatte, einen überraschend hohen Stimmenanteil verbuchen. Als einziger Kandidat vertrat er in dem zurückliegen­den Wahlkampf kritische Positionen, die in den Zeiten allgemeiner Euphorie von den übrigen Politikern allzu gerne verges­sen werden: Neben ökologischen Themen setzte er sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein und stellte das her­kömmliche Wachstumsmodell in Frage. Seine Wählerschaft besteht überwiegend aus Intellektuellen, darunter etliche ehe­malige Exilierte. Sein Stimmenanteil könnte bei zukünftigen Wahlen weiter an­steigen.Viele potentielle WählerInnen zo­gen es diesmal vor, für die VertreterInnen des breiten bürgelichen Regierungsbünd­nisses zu stimmen, um dadurch eine wei­tere Konsolidierung demokratischer Ver­hältnisse zu fördern.
Doch die parlamentarische Demokratie mit ihren von dem Militärregime hinter­lassenen Einschränkungen scheint im Moment nicht in Gefahr zu sein. Augusto Pinochet steht zwar weiterhin an der Spitze des Heeres, doch seine Macht wird im Ausland offenbar höher eingeschätzt als in Chile selber. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppo-sitionszeitschrift “Análisis”, schreibt dem al­ternden General sogar eine systemstabili­sierende Funktion zu: “Pinochet ist ei­gentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der ge-meinsame Feind ver­einigt die Regier-ungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Oppo­sition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der beste­hende Konsens verloren.” Das ist in vier Jahren der Fall, wenn der Diktator als Oberbefehlshaber des Heeres zurücktritt. Gleichzeitig wird ein Teil des Senats neu gewählt und die Rechte Sperrminorität könnte ihren Ein-fluß verlieren. Vielleicht wird der nächste Wahlkampf in Chile ja dann etwas spannender…

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