Langweiliger Tiger Lateinamerikas
Nur vier Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist die Politik in dem südamerikanischen Land zweitrangig geworden. Kaum jemand war ernsthaft an den Wahlen interessiert, die Stimmabgabe wurde eher als unvermeidliches Übel angesehen – schließlich besteht in Chile Wahlpflicht. Und zu entscheiden gab es im Prinzip nichts. Chile sonnt sich im Lichte seines Wirtschaftsbooms, der neue Reichtum ist unübersehbar, und auch die Armen bekommen einen kleinen Anteil vom Kuchen ab. Der noch amtierende Finanzminister Alejandro Foxley lancierte genau eine Woche vor der Wahl seine Voraussagen für das kommende Jahr: Das Wirtschaftswachstum soll danach weiterhin bei 6 Prozent liegen, die Inflationsrate bei 12 Prozent jährlich bleiben. Und die makroökonomischen Zahlen kurz vor Ende des Jahres 1993 lassen keinen Zweifel an der Effizienz des chilenischen Wirtschaftsmodells aufkommen: Die Inflation lag im November bei phantastischen 0,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit ging im zurückliegenden Trimester auf 4.8 Prozent zurück und die Gehälter stiegen im gleichen Zeitraum durchschnittlich um 2,7 Prozent.
Regierungsvertreter betonen immer wieder, daß gerade die untersten Einkommen am stärksten gestiegen sind und ihr Zuwachs weit über dieser Lohnsteigerung liegt. Wie Pedro Sáenz von der UNO-Wirtschaftskomission für Lateinamerika, CEPAL, bestätigt, ist die Kaufkraft der armen Leute um bis zu 38 Prozent gestiegen. „Die niedrigsten Löhne haben in Chile einen großen Sprung getan, bei den Leuten, die einen halben Mindestlohn verdienen, gab es sogar eine Steigerung um 40 Prozent.“ Im Klartext bedeutet das eine Lohnsteigerung von 85 auf etwa 120 DM pro Monat. Bei ständig steigenden Lebenshaltungskosten, die in vielen Bereichen kaum unter denen der Bundesrepublik liegen, ist das weiterhin ein erbärmlicher Lohn.
Der Tiger hat kein Interesse an Politik
Trotz der weltweit geachteten ökonomischen Erfolge wird Chile ein Land krasser sozialer Gegensätze bleiben. Die Einkommensverteilung hat sich in Chile seit dem Ende der Pinochet-Diktatur kaum geändert. Die größte Armut hat jedoch aufgrund der bescheidenen Lohnsteigerungen und vor allem wegen des deutlichen Rückgangs der Arbeitslosigkeit abgenommen. Nach Berechnungen der CEPAL sank der Anteil der Armen in Chile von 1987 bis 1992 von 44,4 auf 32,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, bei der extremen Armut fiel der Rückgang von 16,6 auf 9,0 Prozent im gleichen Zeitraum noch deutlicher aus.
Entscheidende Änderungen in der Wirtschafts-und Sozialpolitik werden vor diesem Hintergrund von dem neuen Präsidenten nicht erwartet. Als Vertreter einer neuen politischen Generation steht er jedoch für eine gewisse Modernisierung in Chile. Sein Slogan „Für die neuen Zeiten“ paßte wunderbar in den nichtssagenden, inhaltslosen Wahlkampf. Mehr als neuen Schwung symbolisierte er den Zeitgeist in diesem Land, das jahrelang die internationale Solidarität im Kampf gegen eine brutale Militärdidktatur auf sich zog und nun auf wirtschaftlichem Gebiet zum „Tiger Lateinamerikas“ geworden ist. Die Politik ist zweitrangig geworden. Dies hat offenbar auch der neue Präsident erkannt, zumindest machte er sich diesbezüglich schon vor seiner Wahl keine Illusionen: „Dieser Wahlkampf verlief ohne Traumata und mit großem gegenseitigem Respekt inmitten einer kräftigen Investitionswelle in Chile.“
Streitereien bei der Bestimmung der Kanditaten
Die überwältigende Mehrheit, mit der Eduardo Frei Junior die Präsidentschaftswahl vom 11. Dezember 1993 gewann ist nicht nur ein Ausdruck für eine breite Akzeptanz des Regierungsbündnisses aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Entscheidend für das Resultat waren auch die Streitereien sowohl in der rechten als auch der linken Opposition. Bei der Bestimmung des gemeinsamen Kandidaten der rechtskonservativen Renovación Nacional (RN) und der faschistischen UDI (Unabhängige Demokratischen Union) wurde mit allen möglichen unlauteren Mitteln gekämpft, so daß es schließlich zu einem Skandal kam. Der Rechten blieb nichts anders übrig, als auf einen bekannten Namen zurückzugreifen: Arturo Alessandri ist der Enkel des ehemaligen Präsidenten Jorge Alessandri, des Vorgängers von Eduardo Frei Senior. Seine Kandidatur war eine Notlösung und wurde von seinen eigenen Anhängern schon Wochen vor der Wahl als verloren sehen. Um ihre eigene Haut zu retten, setzen sich die rechten Kanditaten für Senat und Abgeordnetenhaus zuletzt für eine gesplittete Stimmabgabe ein: Die Erststimme für Frei und die Zweitstimme für den/die KandidatIn der UDI bzw. RN.
Das gesamte Spektrum links von der regierenden Concertación ist sogar in drei Kandidaten zersplittert. Das von den Kommunisten dominierte Parteibündnis MIDA brachte den Priester Eugenio Pizarro ins Rennen, der letzlich eher eine peinliche Figur abgab und eigentlich von niemandem ernst genommen wurde. Inhaltlich hatte er kaum etwas zu bieten, und seine heftigsten Attacken richtete er gegen seine linken Kontrahenten. Zu dem Außenseiter Christián Reitze, dem Kandidaten der Humanistischen Partei und der Grünen, fiel ihm nichts Besseres ein als daß ein Blonder und Blauäugiger nicht chilenischer Präsident werden könnte. Den unabhängigen Kandidaten Manfred Max-Neef, der von der Christlichen Linke unterstützt wird, diffamierte er als Öko-Spinner. Trotzdem konnte der deutschstämmige Volkswirt, der sich in der Vergangenheit wiederholt durch eine kritische Position zur Wirtschaftspolitik hervorgetan hatte, einen überraschend hohen Stimmenanteil verbuchen. Als einziger Kandidat vertrat er in dem zurückliegenden Wahlkampf kritische Positionen, die in den Zeiten allgemeiner Euphorie von den übrigen Politikern allzu gerne vergessen werden: Neben ökologischen Themen setzte er sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein und stellte das herkömmliche Wachstumsmodell in Frage. Seine Wählerschaft besteht überwiegend aus Intellektuellen, darunter etliche ehemalige Exilierte. Sein Stimmenanteil könnte bei zukünftigen Wahlen weiter ansteigen.Viele potentielle WählerInnen zogen es diesmal vor, für die VertreterInnen des breiten bürgelichen Regierungsbündnisses zu stimmen, um dadurch eine weitere Konsolidierung demokratischer Verhältnisse zu fördern.
Doch die parlamentarische Demokratie mit ihren von dem Militärregime hinterlassenen Einschränkungen scheint im Moment nicht in Gefahr zu sein. Augusto Pinochet steht zwar weiterhin an der Spitze des Heeres, doch seine Macht wird im Ausland offenbar höher eingeschätzt als in Chile selber. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppo-sitionszeitschrift „Análisis“, schreibt dem alternden General sogar eine systemstabilisierende Funktion zu: „Pinochet ist eigentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der ge-meinsame Feind vereinigt die Regier-ungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Opposition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der bestehende Konsens verloren.“ Das ist in vier Jahren der Fall, wenn der Diktator als Oberbefehlshaber des Heeres zurücktritt. Gleichzeitig wird ein Teil des Senats neu gewählt und die Rechte Sperrminorität könnte ihren Ein-fluß verlieren. Vielleicht wird der nächste Wahlkampf in Chile ja dann etwas spannender…