Lateinamerika im Fußballfieber
Lateinamerika im Fußballfieber
Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?
Die Vorstellung mit Kolumbien zu beginnen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstanden. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbianern im Rückspiel in Buenos Aires Historisches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Geschichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthusiastisch feiernden AnhängerInnen. Überschäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleiterscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Präsident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Orden des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußballfachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Knieverletzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wieder fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.
Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”
Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haartracht, die er als Ausdruck seiner Lebensfreude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spielzeug und nicht als schnöder Arbeitsgegenstand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Technik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schlagen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unumschränkt anerkannt, wird er als Anspielstation permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondition von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinterherrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) im letzten Jahr zeigte er neben den gewohnten technischen Kabinettstückchen auch ungewohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Maturana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Länderspiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätzliche Berechtigung. Die Wertschätzung ist indes nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jahres gewählt.
Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie
In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deutschen Fans ist er durch seine Schauspieleinlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wieder quicklebendig auf dem Platz aufzutauchen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Ausgleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valderrama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spanischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Richtig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folglich kehrte er 1992 nach Kolumbien zurück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Karibikküste. Mit dem dortigen Klub Atlético Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Vielleicht doch von europäischem Effizienzdenken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Buntheit?
Mexiko – Heimvorteil im Gringoland
An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Mexiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfehlung ruchbar wurde, folgte die empfindliche Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausscheidung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalterland USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmungvollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal geschlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spielenden Hugo Sanchez den Rang abgelaufen hat.
Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen”
Der jetzige US- und ehemalige mexikanische Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumindest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Ausgleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschieden zu sichern. “Das Ganze ist keine inszenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma befreit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Torwart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Vereinsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Heimatstadt Acapulco. Andere Berichte kolportieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.
Kleider machen Leute
Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Grenzen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefallenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.
Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft
Bolivien hatte nun wahrlich bei der Prognose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fußballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Bolivien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mannschaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der imposanten Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war geschafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exilgemeinden Washington-Georgetown, Buenos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstammen der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staatssekretär für Sport Rolando Aguilera gegründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.
“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler
Seine Ausbildung an der Tahuichi-Akademie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Seamos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bolivar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spanische Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhandnehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bolivar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienstmöglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chilenische “Exil” bei Colo Colo Santiago suchen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mitwirken in der Schlußphase der Meisterschaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Eröffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.
Argentinien
Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerikameister (1993) natürlich Topfavorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Argentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Argentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien bestreiten, um das Ticket für die USA zu erhalten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Nationalteam zurück. Trotz mangelhafter Fitness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Argentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.
“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokainsünder” – der Mythos Maradona
Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlagzeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstritten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen seiner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argentinien sprach er sich für das Mitte-LinksBündnis Frente Grande aus.
Teures Wunderkind
Seine von zahlreichen Rekorden und Erfolgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Einwechselspieler der Argentinos Juniors Buenos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablösesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablösesumme von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportliche Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.
Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose
Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbstbewußtseins gegenüber den reichen Städten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiastischer gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragender Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular entfernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte erklärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, löste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.
Maradona auf der Flucht – die Tragik
Maradona, der sich anfangs in seiner unantastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Meisterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewiesen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entfliehen. Er floh weiter. Zunächst vor der italienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spielsperre wegen Dopings wollte er seine Karriere bei Boca Juniors Buenos Aires fortsetzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Maradona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Maradona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm gemäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zusammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder Angebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.
Brasilien
Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Weltmeisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als Inbegriff für Fußballkunst und Fußballzauber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay berief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmerstar Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestritten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.
Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”
“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schießen.” Romário hat sein Vorhaben eindrucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er dieses Jahr souveräner Schützenkönig. In Europa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Aufmerksamkeit auf sich. Sein darauffolgender Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die ungewöhnliche Finanzierungsart für Schlagzeilen. Philips hatte von der brasilianischen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romários (Vasco da Gama) erhielt im Gegenzug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.
Der launische Strafraumkönig
Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast ausschließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplatzes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nunmal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjägerqualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasilianischen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museumsreife”. Seinen Stürmerkollegen in der Nationalmannschaft, Muller, kritisierte er heftig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé reagierte gelassen: “Manchmal sagt man in Europa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südamerika berichtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Superstars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte einen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoffnungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários Forderung nach einem Stammplatz zu seiner Verbannung geführt. Jetzt hält ganz Brasilien in der Hoffnung still, daß Romário Brasilien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.