Film | Nummer 319 - Januar 2001

Lateinamerika im Widerschein des Zelluloids

MOVIE-mientos. Der lateinamerikanische Film. Ein umfassendes Überblickswerk über das Filmschaffen in, aus und über Lateinamerika.

Die „Streiflichter von unterwegs“ die die Berliner Filmkritikerin und Autorin der Lateinamerika-Nachrichten Bettina Bremme von ihrer Reise durch die Latenamerikanische Filmlandschaft mitgebracht hat, sind jedoch weder auf der geographischen noch der chronologischen Achse angesiedelt. Statt dessen hat sich die Autorin für eine thematische Ordnung entschieden. Und gerade darin liegt die große Stärke des Buches.

Markus Müller

Es sind große Themen, die im lateinamerikanischen Film verhandelt werden: Vergangenheitsbewältigung, Identität, der Gegensatz zwischen politisch und privat, Geschlechterverhältnisse, Grenzüberschreitungen. So zumindest vermittelt es die Autorin Bettina Bremme in ihrem überzeugend geschriebenen Buch MOVIE-mientos – Der lateinamerikaische Film: Streiflicher von unterwegs. Hinzu kommt ein genauer Blick auf die beiden großen Filmländer Kuba und Brasilien sowie ein Exkurs über den fremden Blick US-amerikanischer und europäischer RegisseurInnen auf Lateinamerika. Aber beginnen wir mit dem Anfang.
Nach der kubanischen Revolution 1959 hatten sich KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und Intellektuelle mit Leib und Seele der Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse verschrieben. Gut und Böse waren noch klar getrennt und die FilmemacherInnen schrieben Manifeste für ein „Kino der Revolution“. So zum Beispiel die beiden Argentinier Fernando E. Solanas und Octavio Getino, die 1966 die Gruppe „Cine Liberación“ gründeten. Dem Autorenkino wollten sie ein „Kino der Arbeitsgruppen, dem Kino der Ausflucht ein Kino der Wahrheit, dem institutionalisierten Kino ein Kino der Guerrilla“ entgegen setzen.
Interessant beschreibt Bremme auch die Widerstände in der Gesellschaft, auf die FilmemacherInnen gestoßen sind, die sich mit den Militärdiktaturen beschäftigt haben. Gonzalo Justianiano, der Regisseur des chilenischen Streifens Amnesia (1994), in dem ein ehemaliger Soldat seinen brutalen Vorgesetzten zufällig wiedertrifft, erzählt wie sein Film damals aufgenommen wurde: „Alle beglückwünschten mich ganz allgemein, sprachen von der guten Musik, den hervorragenden Darstellern. Aber das eigentliche Thema wurde nicht eingehend behandelt, man ging eher darüber hinweg“.
Aber nicht nur in Südamerika setzen sich die Filmschaffenden mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung auseinander. Es gehört zu den besonderen Bonbons von Bremmes Buch, auch über Filme etwas zu erfahren deren Existenz man bisher kaum für möglich gehalten hätte. So zum Beispiel der guatemaltekische Spielfilm El silencio de Neto/ Netos Schweigen, der die Ereignisse um den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas Jacobo Arbenz durch den US-Geheimdienst CIA im Jahr 1954 beschreibt.

Die Frau, die keinem gehört

In ihrem Kapitel „Geschlechterverhältnisse und weiblicher Blick“ begibt sich Bremme auf die Suche nach Frauengestalten jenseits von Heiliger und Hure. Ist die Lateinamerikanische Filmgeschichte auch voll von weiblichen Opferlämmern, mehren sich die Frauenfiguren, die ausbrechen aus dem Alltag, die den Sprung ins Ungewisse wagen, der sonst lediglich den Männern vorbehalten war. Julia, die Protagonistin aus dem wunderschönen mexikanischen Film Danzón von María Novaro, beschließt plötzlich, sich auf eigene Faust auf die Suche nach ihrem Tanzpartner Carmelo zu machen, fährt von Mexiko-Stadt nach Veracruz und entdeckt auf dieser Reise an sich selbst und der Welt Seiten, von denen sie niemals zu träumen gewagt hätte. Den entgegengesetzten Weg geht die Nonne Sor Juana Inés de la Cruz in dem Spielfilm Yo la peor de todas / Ich, die unwürdigste von allen der Argentinierin María Luisa Bemberg, die sich in die Einsamkeit des Klosters zurückzieht, weil ihr in der neuspanischen Gesellschaft keine andere Möglichkeit bleibt, um intellektuell fortzukommen. Zwei Frauenfiguren, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber am Ende haben sie doch eines gemeinsam: Sie fallen aus der Rolle, überschreiten Grenzen, die ihnen durch ihr Geschlecht gesetzt wurden.
Das überschwängliche Lob, das Bremme vielen Regisseurinnen zukommen lässt, teilen nicht wenige. Bremme zitiert zum Beispiel den mexikanischen Produzenten Jorge Sánchez mit den Worten. „Für mich sind die Regisseurinnen das Wichtigste am mexikanischen Film der letzten Jahre.“

Der fremde Blick auf Lateinamerika

Eines der interessantesten Kapitel von MOVIE-mientos ist jenes, in dem sich Bremme mit dem fremden Blick auf Lateinamerika beschäftigt. „Latin America according to Hollywood“: Das sind pittoreske Kulissen mit Indianer und Dorfkirche, wo die eigentlichen ProtagonistInnen, meist NordamerikanerInnen, ihr persönliches Drama veranstalten. Latinos kommen da meist nur in Form von „schmierigen Halunken“ und Pistoleros vor. Die Reproduktion derartiger Klischees hat die mexikanische Regierung bereits 1922 dazu veranlasst, Hollywood-Streifen mit der Begründung zu zensieren, sie förderten „die böswillige Einstellung gegenüber Mexiko“.
Aber nicht nur in Hollywood wurden Filme mit lateinamerikanischen Schauplätzen produziert. Bremme stellt auch das europäische Autorenkino vor. So schaffte Werner Herzog mit Aguirre, Der Zorn Gottes (1974), in dem sein liebster Feind Klaus Kinski einen größenwahnsinnigen Conquistador spielt, den internationalen Durchbruch. So meisterhaft und ästhetisch hochwertig Herzogs Film auch sein mag, er weist ein ähnliches Problem auf wie viele Hollywood-Streifen. Die LateinamerikanerInnen selbst, vor allem die Indígenas, spielen stets untergeordnete Rollen, sind quasi Bestandteil der Natur.
Bremme möchte von den lateinamerikanischen Filmen in erster Linie wissen, welche gesellschaftspolitischen Themen sie aufgreifen, wie sie diese verarbeiten und wie das Publikum darauf reagiert. Ihr Erkenntnisinteresse ist also in erster Linie kultursoziologischer Natur. Dabei macht die Autorin keinen Hehl um ihre eigene politische Position und klopft die Filme und ihre MacherInnen auf deren politische Aussagen und Positionen ab. Gleichzeitig nimmt sie die Werke auch als Kunstform ernst und legt ästhetische Kriterien bei der Beurteilung an.
Mit MOVIE-mientos hat Bettina Bremme einen großartigen Beitrag zur Verbreitung der Kenntnis über den lateinamerikanischen Film geleistet. Das Buch ist von einer solchen Informationsfülle, dass es nicht einmal im Ansatz vorgestellt werden könnte. So haben die Kapitel, die den beiden Filmländern Kuba und Brasilien gewidmet sind, hier diesmal ebenso wenig Platz gefunden wie das Kapitel zu den GrenzgängerInnen und Grenzüberschreitungen, in dem sich Bremme den filmschaffenden Latinos und Latinas außerhalb Lateinamerikas nähert.
MOVIE-mientos ist in packendem journalistischem Stil geschrieben und richtet sich sowohl an Filmfreaks, die sich auf unbekanntes Terrain wagen möchten, als auch an Lateinamerikaverliebte, die mehr über die Kultur des Subkontinents erfahren möchten. Und niemand ist gezwungen, das Buch gleich von der ersten bis zur letzten Seite durchzulesen. Hier und da ein Kapitel je nach Interesse und Tagesform erhöht möglicherweise gar den Informationsgewinn, weil die Menge der vorgestellten Filme durchaus zur Überlastung des Gehirns führen kann. An den Schmetterling-Verlag geht ein bisschen Tadel und ein ganz dickes Lob. Die vielen Rechtschreibfehler waren wirklich unnötig. Aber das Layout ist mit der dreispaltigen Gestaltung, den vielen Fotos und den optisch hervorgehobenen Filmhinweisen am Rand sehr benutzerInnenfreundlich und übersichtlich.. Auf jeden Fall: Ein prima Weihnachtsgeschenk.

Bettina Bremme: Movie-mientos – der lateinamerikanische Film: Streiflichter von unterwegs. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2000, 314 S., 49,80 DM
(Neuauflage 2007 ca. 16 Euro)

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