Mexiko | Nummer 389 - November 2006

Links am Volkstribun vorbei

Regierung und Gegenregierung in Mexiko versuchen sich zu profilieren

Der eine redet von nationaler Einheit, der andere vom Volk: Mit großen Begriffen versuchen in Mexiko zwei Präsidenten für sich zu werben. Felipe Calderón ist offiziell gewählt, doch für viele war sein Sieg Wahlbetrug. Andrés Manuel López Obrador ließ sich zum Gegenpräsidenten wählen. Seine Partei PRD agiert nun zwischen Opposition im Parlament einerseits und auf der Straße andererseits.

Dinah Stratenwerth

Vicente Fox ist es noch, Felipe Calderón demnächst und Andrés Manuel López Obrador trotzdem: Präsident Mexikos. Calderón von der konservativen Partei der Nationalen Aktion PAN, offizieller Sieger der Wahlen vom 2. Juli, wird nicht müde zu betonen, dass er alle politischen Kräfte in seine Regierung einbinden will. Damit meint er vor allem López Obrador und seine AnhängerInnen von der Partei der Demokratischen Revolution PRD, die das Wahlergebnis wegen Betrugs nicht anerkennen. Obrador verweigert jegliche Zusammenarbeit mit Calderón. Mitte September ließ sich der kurz AMLO genannte Obrador von seinen AnhängerInnen per Akklamation zum Legitimen Präsidenten wählen. In einem Radiointerview legte er dar, wie er sich seine alternative Regierung vorstellt: Es soll Abgeordnete, Kommissionen und SenatorInnen geben, Hauptsitz der Gegenregierung ist Mexiko-Stadt, aber die PolitikerInnen wollen auch reisen, um mit allen MexikanerInnen an einem neuen Projekt der Nation zu arbeiten.
Wie das genau aussehen soll, dazu hat er keine konkreten Vorschläge. Einer der greifbarsten ist es, Monopole wie das Telekommunikationsimperium des Unternehmers Carlos Slim, drittreichster Mann Lateinamerikas, zu zerschlagen. Mit seinen weiteren Plänen bleibt AMLO seinen Wahlkampfversprechen treu: Nein zu Privatisierungen, Ja zu Sozialprogrammen für die verarmte Bevölkerungsmehrheit Mexikos. Selbst die Mittelklasse will er einbeziehen. Doch wie die Gegenregierung handeln soll, ließ er in dem Gespräch im Dunkeln. Erst einmal übernimmt er am 20. November offiziell das Amt als Legitimer Präsident Mexikos. Über das Protokoll haben sich seine MitarbeiterInnen schon viele Gedanken gemacht, obwohl AMLO behauptet, der Trubel interessiere ihn gar nicht.

Solidarität mit Oaxaca

Die Demokratische Nationalversammlung (CND), die Obrador per Akklamation zum Präsidenten erklärte, besteht aus vielen kleinen Gruppen, die in den Bundesstaaten Basisarbeit leisten. Sie entwickeln konkrete Vorschläge, wie ein besseres Mexiko aussehen soll. Dies sei die eigentliche Stärke der Bewegung, betonte ein Kommentator der linken Tageszeitung La Jornada. Viel wichtiger als ein Gegenpräsident sei eine starke Organisation aus dem Volk, die eigene Alternativen entwickle. Dabei sei es wichtig, so der Kommentar weiter, sich mit anderen Organisationen zu verbünden. Er meint damit vor allem die Versammlung der Völker Oaxacas (APPO), die aus einem LehrerInnenstreik entstanden ist und in der Hauptstadt des südlichen Bundesstaates seit Wochen Medien- und Regierungsgebäude besetzt hält. Die Protestierenden, die den Rücktritt des Gouverneurs fordern, befürchten, dass die Regierung demnächst die Bundespolizei losschicken wird, um die Proteste gewaltsam zu beenden (siehe Artikel Die Stille vor dem Schuss). Die CND müsse sich laut dem Jornada-Kommentator solidarisch erklären mit der APPO. „Ebenso wie wir alle ZapatistInnen waren, müssen wir nun alle APPO sein“, fordert er. Tatsächlich ähnelt das Programm der Protestbewegung um López Obrador zum Teil der Anderen Kampagne, die das Zapatistische Befreiungsheer im vergangenen Jahr ins Leben rief.
Seit Januar tourte das Sprachrohr der Bewegung, Subcomandante Marcos, durch die mexikanischen Bundesstaaten, um den MexikanerInnen zuzuhören und Organisationen zu vernetzen. Allerdings war die Andere Kampagne schon immer eine Bewegung jenseits der etablierten Politik (siehe Artikel Wer, wenn nicht wir?). Nach einer fünfmonatigen Pause in Mexiko Stadt reiste die ZapatistInnen-Delegation um den Comandante Null Marcos Anfang Oktober in den Norden weiter. Marcos kritisierte zwar ebenfalls den Wahlbetrug, doch stellte er klar: „Die Bewegung Obradors ist kein Weg für uns.“

Geschacher im Parlament

Für die außerparlamentarische Opposition brauchen die ZapatistInnen Obrador nicht und die Institutionen interessieren sie nicht. Innerhalb dieser Institutionen loten die Parteien derzeit ihre Möglichkeiten aus. Der Gouverneur von Oaxaca ist von der ehemaligen Staatspartei PRI. Daher vertreten manche Kommentatoren die Ansicht, dass die PAN-geführte Regierung gar nichts gegen seinen Rücktritt hätte. Warum sie ihn dennoch schützt, habe mit der Mehrheit im Kongress zu tun. Denn dort ist Calderón auf Bündnisse angewiesen, um handlungsfähig zu sein. Und die PRI unterstützt die Konservativen nicht immer. Anfang Oktober lehnten die PRI-Abgeordneten, ebenso wie die der PRD, Calderóns Agenda der Gesetzesentwürfe schlichtweg ab. Er wird also in Verhandlungen beweisen müssen, wie offen er wirklich für die Ideen der anderen Parteien ist.
Im Abgeordnetenhaus ist die PRD die zweitstärkste Fraktion. Die Abgeordneten sind bereits überein gekommen, dass sie Calderóns Präsidentschaft nicht anerkennen. Allerdings nicht ohne interne Querelen: Ein Teil der PRD schließt nicht mehr aus, mit der PAN-Regierung zusammen zu arbeiten. Die Gruppe um den Senatssprecher Navarrete nennt sich Neue Demokratie. Die PRD-Fraktion konnte sich zwar einigen, geschlossen Calderón als Präsidenten abzulehnen, doch auf Dauer könnte die Fraktion sich spalten.
Im Senat hingegen haben die Kontrahenten PRD und PAN sich erfolgreich gegen die PRI zusammengeschlossen: Sie beschlossen, aus dem Hauptstadtdistrikt einen autonomen 32. Bundesstaat zu machen. „Calderón hat uns angewiesen, in dieser Angelegenheit die Hauptstadt und die PRD zu unterstützen“, erklärte PAN-Senatsmitglied Federico Döring die Entscheidung.
Im Senat ist sozialdemokratisch-rechtsliberale Zusammenarbeit also möglich, auf der Straße nicht. Doch ist es schizophren, einerseits auf dem Zócalo zu zelten und die Institutionen zu kritisieren und andererseits im Parlament zu verhandeln? Auf diese Frage hatte AMLO im Radiointerview schnell eine Antwort: Nein. Im Gegensatz zum Präsidenten sei der Kongress ordentlich und ohne Betrug gewählt. Zudem haben ja die Abgeordneten mit der Exekutive praktisch nichts zu tun. Gleichzeitig wolle er seine Regierung nicht mit der Partei gleichsetzen. Die Nachfrage, ob er dann nicht Angst habe, alleine zu bleiben, beantwortete er ebenfalls mit einem klaren Nein. Schließlich stehe das Volk hinter ihm.

Wer ist das Volk?

Das ist AMLOs Legitimationsbasis: Er vertritt „das Volk“, das bei dem Wahlbetrug um sein Recht gebracht wurde, demokratisch zu entscheiden. AMLOs Gegenregierung will allen die Möglichkeit bieten, mit zu entscheiden. Nicht nur seine politischen Gegner, auch viele Intellektuelle unterstellen AMLO daher inzwischen, wie ein Volkstribun aufzutreten. Der Historiker Krauze erinnerte daran, dass zum Volk alle MexikanerInnen gehören, auch jene, die entweder Calderón oder gar nicht gewählt haben. Das waren immerhin um die 60 Prozent. Es sei also nicht „das Volk“, das hinter AMLO stehe, sondern einfach ein Teil aller MexikanerInnen, so Krauze.
Während AMLO vom Volk spricht, setzt Calderón seit den Wahlen vor allem auf nationale Einheit und Integration. Er versucht, Themen der PRD wie Armutsbekämpfung in seinem Programm stark zu machen, um an Legitimation zu gewinnen. Gegenüber der chilenischen Tageszeitung Mercurio kündigte er sogar an, er wolle AMLO „links überholen“. Im Wahlkampf hatte er dessen Vorschläge für eine sozialverträglichere Politik noch als gefährlichen Populismus diffamiert. Dass ihm jemand den Wandel hin zu sozialer Politik abnimmt, ist fraglich.


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