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„LN ist nicht neutral“

Berichterstattung über Strauß und Repression gegen Linke

Chile-Solidarität in der BRD: Eine Einordnung zum Editorial der LN 74 (September 1979).

Von Christopher Knauth

Pinochet und Strauß Dieses Foto vor dem Denkmal der deutschen Einwanderer „UNSERN AHNEN“ am Llanquihue-See fand sich 1977 auf dem Cover der LN wieder

Franz Josef Strauß war über Jahrzehnte ein entscheidender Protagonist in der Geschichte der westdeutschen Bundesrepublik. Mitglied des Bundestages seit 1949, trat er als Verteidigungsminister Mitte der 1950er Jahre für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ein. Die von ihm veranlasste Verhaftung Rudolf Augsteins wegen Landesverrats („Spiegel-Affäre“ 1962) markiert den größten Angriff auf die Pressefreiheit in der Geschichte der BRD. Den Putsch in Chile am 11. September 1973 kommentierte Strauß mit den Worten: „Wenn das Militär zugreift, geht es eben anders zu als beim Franziskanerorden, der Suppe an die Armen verteilt.” Im November 1977 besuchte Strauß seinen Freund Pinochet in Chile und ließ sich strahlend mit ihm vor dem Denkmal der deutschen Einwanderer „UNSERN AHNEN“ am Llanquihue-See fotografieren. Die LN 55 berichteten darüber: „Terrorist und Sympathisant“.

Strauß wollte mehr: Kanzler werden. Die LN 74 hatten analysiert, wie Strauß versuchte, seinen Besuch in Chile innenpolitisch zu instrumentalisieren. Indem er auf gemäßigte Christdemokraten in Chile wie Frei einschlug, wollte er auch seinem Mitbewerber um das Kanzleramt Helmut Kohl schädigen. Mit dem Bloßlegen von Strauß’ Beziehung zum Putschgeneral Pinochet haben die Lateinamerika Nachrichten den Widerstand gegen einen möglichen Bundeskanzler Strauß in der BRD gestärkt. Der Bayer scheiterte bei der Bundestagswahl 1980 und hatte damit auch keine Chancen mehr gegenüber CDU-Chef Kohl.

Die Repression gegen Linke in der BRD begann 1972 mit dem „Radikalenerlass“ des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt. Bewerber*innen für und Mitarbeiter*innen im öffentlichen Dienst sollten auf ihre Verfassungstreue hin überprüft werden. Das richtete sich vor allem gegen linke Lehrer*innen im Schuldienst, die schnell als „linksradikal“ oder „Sympathisanten von Terroristen“ gebrandmarkt wurden. Diese Repression erreichte 1977 ihren Höhepunkt im „deutschen Herbst“. Dazu gehört auch der Beschluss des 6. Strafsenats des Berliner Kammergerichts vom 26. Juli 1979, die LN 73 („WIE STRAUSS DEN SACK FREI SCHLUG UND DEN ESEL KOHL MEINTE“) nicht an den Gefangenen Klaus Viehmann auszuhändigen. In den Worten des Kammergerichts: Die „Ausführungen in dem Druckerzeugnis ‚Lateinamerika Nachrichten 73‘ … sind geeignet, den Angeschuldigten, der dringend verdächtig ist, einer terroristischen Vereinigung anzugehören [ein Hinweis auf den Paragraph 129] … gegen jede staatliche Gewalt … aufzuwiegeln und so die Ordnung in der Anstalt zu gefährden“. Das Editorial der LN 74 stellt diesen Vorgang in den Zusammenhang der innenpolitischen Entwicklung in der BRD.

Darüber hinaus enthält das Editorial auch einen klaren Hinweis auf die journalistische Arbeitsweise der Lateinamerika Nachrichten: „Stein des Anstoßes ist die Titelgeschichte unseres letzten Heftes. Wir hatten in dem Artikel versucht, noch einmal in aller Deutlichkeit die innenpolitische Wirkung des Strauß-Besuches in Chile im November 77 in der BRD herauszustellen. Am besten geht so etwas immer, wenn man so wenig wie möglich interpretiert und kommentiert, sondern schlicht Strauß, Pinochet, Frei, Kohl usw. selbst sprechen läßt. Dementsprechend ist der vom Berliner Kammergericht inkriminierte Artikel zum überwiegenden Teil auf Zitaten aufgebaut. Politische Berichterstattung zur Schaffung einer kritischen Gegenöffentlichkeit, wie sie von den LN betrieben wird, ist nicht neutral – sie entsteht auf der Basis bewußter Solidarität mit den unterdrückten Völkern Lateinamerikas und arbeitet konkret für die Solidaritätsbewegung in der BRD.“

Die jüngsten Repressionsmaßnahmen gegen die „Letzte Generation“ zeigen Parallelen. Mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung, nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs, sollen die Umweltaktivist*innen diffamiert und kriminalisiert werden. Die aktuelle Debatte dazu gibt dem Editorial eine traurige Aktualität.

Christopher Knauth ist neu in der LN-Redaktion. Von 1974 bis 1983 war er in der Lateinamerika-Solidarität in Konstanz und Freiburg aktiv

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