Bolivien | Nummer 357 - März 2004

Mesa im Spagat

Der Präsident bemüht sich um mehr Partizipation, gerät dabei aber unter Druck

Eine Änderung der Verfassung hin zu mehr partizipativer Demokratie wurde in Bolivien in die Wege geleitet. Damit wurde einer verfassungsgebenden Versammlung, die die Zukunft der bolivianischen Republik neu gestalten soll, ein legaler Boden geschaffen.
Obwohl Präsident Mesa zumindest in Teilen den Forderungen der Opposition entgegenkommt, gerät er immer stärker unter Druck. Der Gewerkschaftsdachverband COB hat eine neue Streik- und Protestwelle gegen Mesas Regierungspolitik angekündigt. Und die Weltbank koppelte finanzielle Unterstützung für Bolivien an die de facto Privatisierung des bolivianischen Erdgases.

Anja Witte

Mehr politische Mitbestim-
mung der Bevölkerung hatte Boliviens Präsident Carlos Mesa im Oktober vergangenen Jahres versprochen. Am 20. Februar 2004 verabschiedete er jetzt eine erweiterte bolivianische Verfassung. 15 Artikel der Magna Carta wurden modifiziert. Die geplante verfassungsgebende Versammlung und der demokratische Mechanismus des Referendums, die bislang verfassungswidrig waren, sind damit legitim.
„Eine größere Partizipation der BürgerInnen ist jetzt möglich,“ erklärte der Präsident des Kongresses Hormando Vaca Díez. Eine neue bürgerliche Gesetzesinitiative erlaubt es den BolivianerInnen von nun an, der Legislative eigene Gesetzesprojekte vorzuschlagen.
Eine weitere Veränderung betrifft das Monopol der politischen Repräsentation: Gesellschaftliche Gruppierungen wie beispielsweise die indigene Bevölkerung oder die Gewerkschaften können jetzt genau wie die Parteien direkte KandidatInnen bei nationalen Wahlen aufstellen. Außerdem wurde die parlamentarische Immunität begrenzt, die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt und der persönliche Datenschutz erhöht.

Mehr Mitbestimmung
für das Volk
Carlos Mesa, der sich selbst in seiner Antrittsrede im Oktober vergangenen Jahres in kurioser Anspielung auf den Preußenkönig zum ersten Diener des Staates ernannte, hatte damals versprochen: „Ich werde auf die Forderungen der Menschen auf der Straße eingehen.“
Die Verfassungsmodifikation ist ein Schritt in diese Richtung. Die verfassungsgebende Versammlung, die voraussichtlich zwischen 2004 und 2005 Zusammentreten soll und ein Referendum über die Zukunft der Erdgasvorkommen des Landes waren und sind wichtige Punkte auf dem Forderungskatalog der Protestgemeinschaft, die während heftiger Unruhen im vergangenen Jahr die Demokratie auf eine schwere Probe stellte. Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada musste damals angesichts heftigster Proteste gegen seine neoliberale Politik und den geplanten Verkauf des Erdgases an die USA und Mexiko von seinem Amt zurücktreten.

Schonfrist abgelaufen
Die Opposition hatte Mesa zu Beginn seiner Präsidentschaft eine Bewährungsfrist eingeräumt, das heißt eine Zeit ohne Mobilisierungen. Spätestens seit Mesas Rede an die Nation im Januar und der Bekanntgabe seines Plans, wie er das Budgetdefizit des bankrotten Staates beseitigen will, ist diese Schonzeit abgelaufen.
Anfang Februar kündigte er an, eine Steuer für finanzielle Transaktionen zu erheben und Abgaben für die BolivianerInnen der Mittel- und Oberschicht, deren Besitz mehr als 50.000 US-Dollar wert ist.
Aber auch die ärmere Bevölkerung bleibt nicht verschont. Insbesondere die geplante Liberalisierung des Preises für Kraftstoffe beträfe alle, weil dadurch die Kosten für Haushaltsgas und Benzin anstiegen. Die Gewerkschaften des Transportwesens riefen sofort zu Streiks und Blockaden auf, einigten sich aber mit der Regierung wiederum auf eine vorläufige „Waffenruhe“.
Mesa brachte auch ein neues Energiegesetz auf den Weg. Laut der digitalen spanischen Zeitschrift América Económica haben transnationale Energiekonzerne, die von dem Geschäft mit dem Gas profitieren würden, wie beispielsweise REPSOL, keine Einbußen zu erwarten.

Radikale Gewerkschaften bilden die Opposition
Mesa beugt sich nicht nur dem Druck des Internationalen Währungsfonds, sondern regiert für die Interessen der Elite resümierte der Vorsitzende der COB, Jaime Solares. In seinen Augen führt der neue Präsident lediglich die Politik der Regierung von Sánchez de Lozada fort und damit das neoliberalen Modell der letzten zwanzig Jahre. Solares hat Mesa bereits den Krieg erklärt.
Die Opposition formiert sich neu: Der Gewerkschaftsdachverband COB mobilisiert erneut für einen unbefristeten Generalstreik und Blockaden. Dabei kann er auf volle Unterstützung des Indigenenführers und Abgeordneten der MIP (Movimiento Indígena Pachacuti) Felipe Quispe zählen.
Seit Oktober haben sich die Gewerkschaften zu radikalen Wortführern der Opposition aufgeschwungen. Die COB und die Gewerkschaft von El Alto fordern eine “Neugründung” Boliviens. Sie wollen das Parlament auflösen, statt dessen eine Volksversammlung mit VertreterInnen aller Interessengruppen einberufen und alle weiteren Verhandlungen und Zahlungen an IWF und Weltbank einstellen.

Ein zahmer Evo
Einer der wichtigsten Oppositionsführer, Evo Morales, Vertreter der Kokabauern, Präsidentschaftskandidat und Vorsitzender der MAS (Movimiento al Socialismo), hat sich bislang abwartend zu den Regierungsvorhaben Mesas geäußert.
Der Verfechter eines sozialistischen Staatsmodells kritisierte zwar, dass Mesa keine konkrete Änderung des Wirtschaftsmodells vorsieht und sich nicht gegen die von USA und IWF geforderte Koka-Ausrottung wendet.
Er kündigte aber weiterhin eine “kritische Unterstützung” an und beteiligte sich nicht an Aufrufen gegen die Regierung. Von Seiten der Gewerkschaften erntet Morales für seinen Kurs heftige Kritik. Gewerkschaftsführer Solares forderte Morales auf, Stellung zu beziehen, „ob er auf der Seite der Bevölkerung steht oder mit der Regierung geht“.
Die MAS nimmt momentan eine Vermittlerrolle zwischen den verhärteten Fronten ein, in der Hoffnung auf ein gutes Ergebnis bei den kommenden Kommunalwahlen und einen eventuellen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2007.

In der Kreditzange
Nach Angaben des Online-Magazins Econoticias Boliva hat die Weltbank inzwischen ganz unverblümt ihre Forderungen an Bolivien auf den Tisch gelegt. Die Kredite in Höhe von 300 Millionen US-Dollar für die kommenden zwei Jahre gebe es nur, wenn das bolivianische Gas exportiert werde.
Neben einem positiven Entscheid beim Referendum über die Zukunft des bolivianischen Gases, fordere die Weltbank noch eine Senkung des Haushaltsdefizits von den geplanten 8,75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 6,8 Prozent und Fortschritte in der Armutsbekämpfung.
Falls diese Bedingungen nicht erfüllt würden, so berichte das Online-Magazin Econoticias Boliva weiter, reduziere sich die finanzielle Unterstützung auf 45 Millionen US-Dollar jährlich.
Boliviens Regierung hat ein großes Interesse daran, der Bevölkerung ein Ja zum Verkauf des Gases abzuringen. Das ist auch die Ursache für den medialen Run auf die Meinungsbildung der BürgerInnen.
Die bolivianische Regierung startete eine Kampagne: Werbesendungen flimmern über die bolivianischen Fernsehschirme, die Tageszeitungen füllen Anzeigen, die den Verkauf der bolivianischen Erdgasvorkommen in die USA und nach Mexiko anpreisen. Dieser Verkauf hätte nur Vorteile für die Entwicklung Boliviens. Nicht geworben wird dagegen für die Übereinkünfte der bolivianischen Regierung mit der Weltbank.

Viele sind die Kämpfe leid
Ob und in welchem Ausmaß die BolivianerInnen den Mobilisierungen gegen Mesa in nächster Zeit folgen werden, ist noch ungewiss. Große Teile der Bevölkerung sind die Kämpfe leid. Die Mittelschicht steht zu großen Teilen hinter Mesa und fürchtet, dass er durch kommende Auseinandersetzungen zu Fall gebracht werden könnte.
Im wohlhabenderen östlichen Tiefland war schon im Oktober wenig von den Protesten zu spüren. Hier herrscht die Tendenz, sich vom entfernt liegenden, viel ärmeren Andenhochland und der dort lebenden aufständischen Bevölkerung zu distanzieren. Von den größtenteils indigenen Hochlandbauern, die eine zentrale Rolle bei den blutigen Unruhen gespielt haben, ist voraussichtlich bis Mitte April keine große Mobilmachung zu erwarten. Denn im landwirtschaftlich geprägten Bolivien bestimmen die Zyklen von Aussaat und Ernte auch den Zeitraum sozialer Proteste.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren