Literatur | Nummer 237 - März 1994

Mexiko: 1992 – 1993 – 1994

In dem Buch “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?” konzentriert sich Kielmann auf die Analyse des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens.

/ Andreas Kühler

Das Jahr 1992 wurde zum vorläufigen Höhepunkt der Bemühungen des mexikanischen Staates, in den erlauchten Kreis des Nordens aufgenommen zu werden. Carlos Salinas de Gortari repräsentierte einen Staat, der über umfangreiche Privatisierungen ein neoliberales Wirtschaftsmodell praktizierte, den man für ordnungsgemäße Schuldenrückzahlung mit einem Teilerlaß belohnte und dem der Wahlbetrug zu seiner Amtsübernahme vergeben wurde.
Die Internationalismusbewegung beschäftigte sich mit dem Quinto Centenario, da bot es sich für die internationale Buchmesse in Frankfurt an, mit der Wahl Mexikos als Schwerpunktland einerseits auf den fahrenden Zug des öffentlichen Interesses aufzuspringen, andererseits mit dieser Wahl den Versuch zu unternehmen, ein Land vorzustellen, das – scheinbar – gerade nicht mehr in Abhängigkeit gehalten und ausgebeutet wurde. Mexiko selbst wiederum benutzte die Schau, um sich selbst als an der “Schwelle” zum Norden stehend darzustellen und begegnete den letzten verbliebenen KritikerInnen mexikanischer “Demokratie” mit einem Gesetz zur Errichtung einer nationalen Menschenrechtskommission.

1993: NAFTA über alles

1993 setzte sich dieser Trend einerseits fort und fand mit dem vorherrschenden Thema NAFTA einen neuen Focus. Die Strategie der mexikanischen Regierung konzentrierte sich ganz auf die Ratifizierung dieses Abkommens, die US-Administration ebenfalls, wohl wissend, daß unter Inkaufnahme von Arbeitsplatzverlusten unter dem Strich durch diese Freihandelszone die Vorherrschaft des US-Kapitals langfristig gesichert würde.
Um so größer war der Schock Anfang 1994. Der Aufstand der Indígenas in Chiapas sorgte für Aufregung. Und zwar um so mehr, je stärker der Einzelne an die “erfolgreiche” (Wirtschafts-)Politik von Salinas geglaubt hatte. Nur wenige waren nicht überrascht, daß der Aufstand ausbrach, sondern daß er nicht schon früher ausbrochen war (Carlos Fuentes). Rücken dementsprechend in diesem Jahr die ungerechten und undemokratischen Verhältnisse, die Armut und Abhängigkeit ein wenig mehr ins Blickfeld des Interesses?
Zwei umfangreiche Länderkunden aus den Jahren 1992 bzw. 1993 sollen vor dem oben beschriebenen Hintergrund beleuchtet werden. Passend zur Buchmesse haben Biesemeister und Zimmermann einen umfangreichen Sammelband mit dem Titel “Mexiko heute” herausgegeben. In über 40 Einzelbeiträgen werden Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes analysiert. Daneben widmet sich ein gesondertes Kapitel dem deutsch-mexikanischen Verhältnis, und in einer Bibliographie ist die mexikanische Literatur in deutscher Übersetzung zusammengestellt. Es kann insgesamt aufgrund der Themenfülle und der Zusammenführung vieler Mexiko-SpezialistInnen als anspruchsvolles Informationsbuch und Nachschlagewerk gelten.
Aus einem Mexiko-Seminar des Instituts für wissenschaftliche Zusammenarbeit in Tübingen gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung erwuchs ein weiterer Sammelband “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?”, 1993 herausgegeben von Sevilla und Azuela. Hier werden in 15 Einzelbeiträgen ebenfalls die Bereiche Politik, Kultur und Wirtschaft abgehandelt. Auffällig ist, daß beide Aufsatzsammlungen, im Unterschied zu klassischen geographischen oder sozialwissenschaftlichen Länderkunden letzten Jahrzehnte, ihr Schwergewicht auf die Kultur legen. Letztere besticht zudem durch eine Konzentration auf politisch aktuelle Problembereiche und Fragestellungen.
In “Mexiko heute” beschreibt Lauth die Situation von Parteien, Wahlen und Demokratie. Er konzentriert sich bei der Kritik an der mexikanischen Demokratie hauptsächlich auf den Wahlbetrug, kommt allerdings zu dem Schluß, daß die 1988er Wahlen auch bei korrekter Stimmenauszählung wohl nicht von der Opposition gewonnen worden wären. Gleichsam sieht er eine nach wie vor große “tatsächliche Akzeptanz der PRI” im Kontext “einer sich immer stärker pluralistisch konstituierenden Gesellschaft”, die ihren Ausdruck findet “in der wachsenden Anerkennung der Opposition bis hin zum Eingeständnis von Niederlagen”. Mit keinem Wort erwähnt er dagegen die subtile und effiziente Absicherung der Vormachtstellung der PRI im mexikanischen Staat. Ganz anders bei Nohlen im anderen Sammelband, der sich speziell mit der mexikanischen Wahlreform auseinandersetzt. Er kritisiert den “sanften Autoritarismus” der “Sechs-Jahre-Monarchie”, die fehlende Gewaltenteilung und kommt zu dem Schluß: “Der ‘Mehr-Partizipations’-Rhetorik steht eine entschiedene Machterhaltung in der Wahlgesetzgebung gegenüber. Madlener erörtert in letzterem Band zusätzlich die “Stellung und Aufgaben der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos”. Diese seit 1992 gesetzlich verankerte Einrichtung sollte primär bereits begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Von Anfang an gab es Zweifel, ob sie die Unabhängigkeit besitzen würde, um einen effektiven Menschenrechtsschutz auch präventiv gewährleisten zu können. So konnte sie – wie erwartet – die umfangreichen Menschenrechtsverletzungen Anfang dieses Jahres nicht verhindern, allerdings zusammen mit den Medien und einer durch NAFTA und die diesjährig anstehenden Wahlen sensibilisierten Öffentlichkeit immerhin zur Aufklärung bzw. Anprangerung des Regimes beitragen.

PRONASOL als soziales Feigenblatt?

Bei der Analyse der ökonomischen Situation fällt im Sammelband “Mexiko heute” auf, daß zwar eine detaillierte Behandlung von Landwirtschaft, Erdölwirtschaft, Verschuldung, Umweltproblematik und Tourismus erfolgt, durch diese Aufteilung in Einzelaufsätze jedoch kein Gesamteindruck bzw. keine konsequente Bewertung der Wirtschaftspolitik Salinas entsteht. So wird das “Solidaritätsprogramm” (PRONASOL) als Kontrapunkt neoliberaler Wirtschaftspolitik hingestellt und von Kürzinger das Fazit gezogen: “Ungeachtet der Unwägbarkeiten und Probleme kann der Zukunft mit gedämpftem Optimismus entgegengesehen werden”. Gleichwohl kommt ein anderer Autor (Sangmeister) zu dem Schluß: Es steht zu befürchten, “daß die sozialen (Folge-)Kosten der Auslandsverschuldung, die noch über längere Zeit zu tragen sind, wie schon bisher überwiegend den ärmeren Bevölkerungsschichten aufgebürdet werden, sofern keine verteilungspolitische Kurskorrektur der mexikanischen Wirtschaftspolitik erfolgt”. An dieser Stelle böte sich die kritische Analyse des “Solidaritätsprogramms” an – sie erfolgt jedoch nicht. Dabei wäre in diesem Zusammenhang gerade gut die Einbindung dieses Programms in die Strategie neoliberaler Flexibilisierung und den staatlichen Rückzug aus der Verantwortung für die gesellschaftspolitische Umverteilung herauszustellen gewesen.
In dem Buch “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?” konzentriert sich Kielmann auf die Analyse des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Er beschreibt darin das Konzept, die Chronologie der Verhandlungen und gibt im Anhang eine kurze Beschreibung der Hauptbestandteile. Kein Wort hingegen taucht auf über die Akteure, weder scheint es handelnde Subjekte mit einem bestimmten Interesse für dieses Abkommen zu geben, noch irgendwelche Personen, die sich gegen die Ratifizierung wandten.
Zur Situation der “Indianer in Mexiko” schreibt Masferrer Kan in “Mexiko heute” einiges über die Fragen, wer denn eigentlich als “Indianer” zu bezeichnen ist, wo sie leben und über ihre Religionen. Er endet in dem Kapitel “Der mexikanische Staat und die Indios” mit der Erwähnung der Verfassungsänderung, wodurch der Staat jetzt als multiethnisch ausgerichtet definiert wird. Jetzt wo es eigentlich spannend wäre weiterzufragen, ob sich dadurch eventuell etwas positiv für die indianische Bevölkerung ändern wird, endet der Artikel. Ausführlicher beschäftigt sich Köhler mit dem komplizierten Verhältnis von Assimilation und Marginalisierung der Indianer Mexikos in dem anderen Sammelband. Er kommt zu dem Fazit, daß es nach wie vor kaum Aufstiegschancen für Indígenas gibt und ihnen nach wie vor nur die Erledigung der Drecksarbeit bleibt. In einem weiteren Beitrag beschreibt Guidi die “Auswirkungen des mexikanischen ‘Nationalprojektes’ auf eine mixtekische Gemeinschaft in Oaxaca”. Dabei bilanziert sie anhand einer ausgezeichneten Fallstudie treffend, daß “das Streben nach Fortschritt in Wirklichkeit nur Rückschritt bedeutet hat”.
Die Auseinandersetzung mit den aufgeführten Aufsätzen führt zu dem Ergebnis, daß, bei aller Heterogenität der AutorInnen der Sammelbände, letztlich beide zu einem gewissen Teil typisch für das eingangs beschriebene Zeitgefühl der Jahre 1992 bzw. 1993 sind. Dabei ist das erstere (Mexiko heute) ein wenig mehr der Ideologie des “Schwellenlandes” aufgesessen und das zweite in einigen Beiträgen sowohl aktueller als auch treffender.

Biesemeister/Zimmermann (Hrsg.) Mexiko heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. Vervuert, 1992. ISBN 3-89354-543-3. 88,-DM
Sevilla/Azuela (Hrsg.) Mexiko – die institutionalisierte Revolution? Unkel/Rhein Horlemann, 1993 ISBN 3-927905-82-8 38,-DM

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