Mexiko | Nummer 461 - November 2012

„Mexiko ist ein terroristischer Staat“

Interview mit Antonio und Alejandro Cerezo von der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo

Das Comité Cerezo aus Mexiko-Stadt engagiert sich für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen in Mexiko und dokumentiert Fälle von Menschenrechtsverletzungen, an denen der mexikanische Staat durch polizeiliche oder militärische Einheiten beziehungsweise Paramilitärs beteiligt ist. Im September wurde ihnen für ihre Arbeit der Aachener Friedenspreis überreicht. Die LN sprachen mit ihnen in Berlin über Zusammenhänge der (Para-) Militarisierung mit neoliberalen Megaprojekten, der Situation der Menschenrechte, Wirkungen der politischen Repression in Mexiko und die Bedeutung des sogenannten Drogenkriegs als Deckmantel dafür.

Interview: Sophia Deck und Alke Jenss

Sie beide haben am kürzlich verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen mitgearbeitet.
Antonio: Wir haben an dem Bericht mitgeschrieben, der der UNO-Arbeitsgruppe zum gewaltsamen Verschwindenlassen 2011 in Mexiko überreicht wurde. Unsere Organisation Accuddeh hatte die Aufgabe, das Gesetz zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern zu lektorieren, das Präsident Calderón vor kurzem veröffentlicht hat. Alejandro war an der Lobbyarbeit mit Abgeordneten und Senatoren für die Abstimmung über das Gesetz beteiligt.
Gleichzeitig haben wir versucht, weiterhin die sozialen Bewegungen zu begleiten.

Dennoch sprecht ihr recht provokativ von der Herausbildung eines „terroristischen Staates” in Mexiko. Inwieweit ist denn die Verletzung von Menschenrechten von staatlicher Seite systematisch?
Alejandro: Es gibt vor allem ein Wachstum des Paramilitarismus. Damit versucht der Staat, sich die Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen vom Leib zu halten. Dieses Phänomen ist sehr schwer nachzuweisen, denn es gibt kaum Zugang zu Informationen über die Kommunikation oder darüber, wo die Militärs oder die Bundespolizei zivile Kräfte trainieren, um Massaker oder Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger zu verüben. Wir beobachten aber in den letzten Jahren immer mehr Fälle, in denen der Staat Zivilisten beauftragt, gegen soziale Bewegungen oder Menschenrechtsorganisationen aktiv zu werden. Die paramilitärischen Gruppen beginnen, Gebiete und die Bevölkerung zu kontrollieren.
Was der mexikanische Staat organisierte Kriminalität nennt, nennen wir in der Mehrheit Paramilitarismus. Der Staat ist nicht schwach, gescheitert oder von Kriminellen infiltriert. Wir müssen das vielmehr als staatliche Politik verstehen.

Welche Interessen stehen dahinter?
Alejandro: Wir können vor allem eine Beziehung zwischen wirtschaftlichen Großprojekten und den Regionen feststellen, in denen die meisten Angriffe auf soziale Bewegungen stattfinden. Wir sind der Meinung, dass eine Aneignung, eine Vertreibung vom Territorium durch paramilitärische Gruppen stattfindet und manchmal sogar durch das Militär oder die Marine. Als nächstes folgt die Ansiedlung von Unternehmen, die Agrarprodukte – Avocado in Michoacán, Eukalyptus für den Holzabbau oder die Ölpalme für Biodiesel in Chiapas – in Monokulturen anbauen. Oder es geht um Bergbau: 300 Bergbauprojekte gibt es allein in den Bundesstaaten Oaxaca, Michoacán und Guerrero. Als letzte Phase sehen wir die Legalisierung dieser Vertreibungen.

Militärische und ökonomische Prozesse sind also Ihrer Meinung nach miteinander verknüpft?
Antonio: Ja. In Michoacán zum Beispiel gab es zuerst Militäroperationen. Die Militärs machen Hausdurchsuchungen nach Waffen, dann kommen paramilitärische Gruppen und beginnen eine Art Terrorsituation herzustellen. Wenn die Leute ihr Land nicht verkaufen wollen, töten sie sie. Und auf diesem Land, das die Menschen verteidigt haben, fängt eine Woche später die Avocado-Agrarindustrie an zu arbeiten.
Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen der Paramilitarisierung und der ökonomischen Produktion.

Konnten Sie diese Verbindung auch in anderen Fällen dokumentieren?
Antonio: Ja, im Juárez-Tal in der Nähe von Ciudad Juárez, im Fall Piedra Larga in Oaxaca und im Fall Chihuahua. In letzterem begann 2008 mit der Militäroperation Conjunto Chihuahua eine systematische Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern und die physische Auslöschung von Widerstand.

Wie beurteilen Sie die Menschenrechtssituation?
Antonio: Wir sehen einen Prozess der Einschränkung von Menschenrechten der Bevölkerung unter dem Vorwand des „inneren Feindes“ – des Drogenhandels. Der Drogenhändler kann irgendeine Person sein, die „eliminiert“, „neutralisiert“ wird. Das bedeutet, dass man ihm eine Kugel in den Kopf schießt.
Es werden Gesetze erschaffen, die die Ausübung der Menschenrechte einschränken. YoSoy#132 hat entdeckt, dass es auf öffentlichen Plätzen einiger Gemeinden des Bundesstaates Estado de México und in den öffentlichen Verkehrsmitteln von Mexiko-Stadt verboten ist, Flyer zu verteilen. Das ist eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße belegt ist. Es ist verboten, ein Plakat anzubringen. Man schränkt also das Recht auf Protest ein.

Welche Rolle spielen Polizei und Militär?
Antonio: Die institutionelle Militarisierung und die des sozialen Lebens sind ein weiteres Charakteristikum, auf dessen Basis wir sagen, dass in Mexiko ein terroristischer Staat aufgebaut wird. Es sind nicht nur 60.000 oder 50.000 Militärs in den Straßen, sondern Militär und Polizei beginnen, sich in eine soziale Kaste zu verwandeln. In der Präsidentschaft Calderóns wurde der Sold der Armee um 110 Prozent erhöht. Keinem Arbeiter hat man seinen Lohn in diesem Ausmaß erhöht. Es gibt ein Stipendienprogramm für Söhne von Militärs, von der Sekundarstufe bis zur Universität. In der Bundespolizei verdient man je nach Position zwischen 11.000 und 17.000 Pesos monatlich. Das sind sehr hohe Gehälter im Vergleich zum Mindestlohn, der bei 60 Pesos pro Tag liegt. Man schafft also nicht nur militärische Präsenz in den Straßen, sondern die Existenz als Militär oder Polizist wird zu einer Option, die eigene sozio-ökonomische Situation zu verbessern. Dazu kommt die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit. In 17 Bundesstaaten sind die Chefs der bundesstaatlichen Ministerien für öffentliche Sicherheit Militärs. Im Fall von Ciudad Juárez ist ein Militär sogar Chef der städtischen Polizei.

Gibt es in diesem Klima der Angst und der schwindenden Solidarität auch die umgekehrte Reaktion, dass die Menschen sich vermehrt organisieren?
Alejandro: Nein, im Gegenteil. Was wir in erster Linie beobachten ist, dass die Repression demobilisiert. Der Terror nimmt den Menschen den Mut, anzuzeigen was passiert. Ein aktuelles Beispiel ist, dass die Leute bei der Studierendenbewegung YoSoy#132, die viele Verletzungen der Menschenrechte dokumentiert hat, nicht wollen, dass ihre Namen veröffentlicht werden. Also erfährt niemand, was mit den jungen Leuten der Studierendenbewegung passiert. Der Terror hat ein gesellschaftliches Verstummen bewirkt und das wiederum zerbricht solidarische Bindungen. Das ist nichts Neues. Wenn man die Berichte der Nunca más Guatemala, der Nunca más Kolumbien liest, scheint es, als ob der mexikanische Staat Gebrauchsanweisungen zur Terrorisierung anwenden würde.
Das soll nicht heißen, dass keine Opferbewegungen entstünden oder Bewegungen, die sich beim Anblick davon, wie extrem die Terrorsituation ist, verteidigen. Auch wenn man sich die lateinamerikanische Geschichte ansieht, die Diktaturen in Chile, Argentinien, Guatemala, wird deutlich: Die politische Repression bewirkt eine beschleunigte Zersetzung des sozialen Gewebes. Ich habe Angst mit einer anderen Person zu sprechen, denn ich weiß nicht, ob sie zur Polizei gehört, ob sie mich anzeigen wird.

Sehen Sie eine politische Linke in Mexiko, die in der Lage, wäre diesen Prozess aufzuhalten? Da ist die Bewegung YoSoy#132, López Obrador hat sich von der PRD verabschiedet…
Alejandro: Wir sehen viel Unzufriedenheit aufgrund der Verstärkung der neoliberalen Politik. Wichtig ist aber auch das politische Bewusstsein darüber, wohin wir wollen. Wir müssen wenigstens damit anfangen, zu definieren, was wir nicht wollen, und dann etwas anderes machen als das. Ich glaube, dass Mexiko in dieser Phase ist. Wir müssen zur politischen Bildung zurückkehren, Theorie und politische Praxis zusammenzuführen. Es braucht einen neuen Schub einer sozialen Alternative, die aus der Bewegung selbst entsteht.
Auch wenn es der mexikanischen Linken nicht gefällt, es gibt in Mexiko nur einen Bezugspunkt, der auf nationaler Ebene eine große Masse, auch Jugendliche, verknüpft: López Obrador mit MORENA (Bewegung der nationalen Regeneration). YoSoy#132 ist eine andere Welle der Bewegung.
Antonio: Die große Herausforderung für die Linke in Mexiko ist nun, das Zersplitterte zu vereinen. Es gibt Opferbewegungen, die Friedensbewegung, die Kampagne gegen das gewaltsame Verschwindenlassen. Es gibt eine große Vielfalt. Aber was wir bisher nicht vermocht haben ist, uns untereinander zu vernetzen.

Was bedeutet die Verleihung des Aachener Friedenspreises für die Arbeit des Comité Cerezo?
Antonio: Die Anerkennung verleiht unserer Arbeit Legitimität. Das ist genau so wichtig wie die Anerkennung der Menschen in Mexiko. Der Aachener Friedenspreis macht uns etwas sichtbarer, in Mexiko, in Europa, und ermöglicht uns dadurch, mit den Fallbegleitungen fortzufahren. Er garantiert uns keinen Schutz, aber immerhin lässt er die politischen Kosten für den mexikanischen Staat steigen. In Mexiko wird die Aktivität von Menschenrechtsverteidigern kriminalisiert. Der Preis gibt uns die Möglichkeit zu sagen, dass unsere Arbeit rechtmäßig ist. Und das macht es dem mexikanischen Staat etwas schwerer, uns zu kriminalisieren.

Infokasten:

Comité Cerezo

Im September 2012 wurde die Arbeit des Comité Cerezo mit dem Aachener Friedenspreis gewürdigt. 2001 wurden Alejandro und Antonio Cerezo zusammen mit ihrem Bruder Héctor und Pablo Alvarado verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, an einem Sprengstoffanschlag in Mexiko-Stadt beteiligt gewesen zu sein. Während der Haft waren sie Folter ausgesetzt. Die Organisation Comité Cerezo gründete sich, um ihre Freiheit zu erwirken und weitete seine Arbeit dann auf die Verteidigung weiterer politischer Gefangener aus. Alejandro konnte das Gefängnis 2005 verlassen, seine Brüder 2009.
In den letzten Jahren sprechen soziale Bewegungen und Menschenrechtsverteidiger_innen von massiv verstärkter staatlicher Repression, gewaltsamen Vertreibungen und extralegalen Hinrichtungen. Angesichts dessen diversifizierte das Comité seine Arbeitsbereiche und machte sich in der mexikanischen Menschenrechtsarbeit durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, Morddrohungen gegen Menschenrechtsaktivist_innen, Hausfriedensbruch, Verfolgungen oder Abhörungen unverzichtbar. 2010 gründete das Comité die auf Schutz und Sicherheit von Aktivist_innen spezialisierte Organisation Accudeh.
Workshops für Bildungsmultiplikator_innen und die Stärkung von landesweiten wie lokalen Organisationsprozessen sind Teil der Arbeit, wie etwa die Weiterbildung der Menschenrechtskommission der Bewegung #YoSoy132. Für Aktivist_innen bietet das Comité Fortbildungen zu Menschenrechtsthemen, Dokumentation, Sicherheitsfragen und Erinnerungsarbeit an.
In den ersten fünf Monaten des Jahres 2012 dokumentierte das Comité etwa ein Menschenrechtsvergehen pro Tag, noch vor zwei Jahren durchschnittlich einen Angriff pro Woche. Der letzte Bericht des Comités spricht von 38 Fällen von durch staatliche Stellen oder paramilitärische Gruppen Verschwundenen aus dem Umfeld der Menschenrechtsbewegungen in ganz Mexiko zwischen Januar 2011 und Mai 2012. Im gleichen Zeitraum dokumentierte das Comité 29 extralegale Hinrichtungen. Auch das Comité selbst ist Zielscheibe von Aggressionen.
Sowohl am Arbeitsbereich zum „schmutzigen Krieg“, Straflosigkeit und Gewalt des Permanenten Völkertribunals wie an der Nationalen Kampagne gegen gewaltsames Verschwinden ist das Comité beteiligt.


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