Literatur | Nummer 313/314 - Juli/August 2000

Mit dem Kopf nach unten

Eduardo Galeano zieht ein Resümee über unsere Zeit

„Mit der sprachlichen Eleganz und der gedanklichen Schärfe, die ihn zu einem der ersten Autoren Lateinamerikas machten, legt Eduardo Galeano zum Jahrtausendwechsel eine schonungslose Bilanz vor“, so der Klappentext der deutschen Ausgabe von Galeanos neuestem Buch. Der Uruguayer Eduardo Galeano, Autor des viel beachteten Die offenen Adern Lateinamerikas, hat 1998 mit dem Buch Die Füße nach oben eine essayartige Zusammenstellung der jüngsten Geschichte verfasst, die jetzt in deutscher Sprache erschienen ist.

Alexander Jachnow

Der Aufbau des Buches lädt dazu ein, es anfangs querzulesen. Die Texte sind – teils in Kästen, teils als Fließtext – thematisch so locker geordnet, dass man nur schwerlich nach der Ordnung sucht, die sich dahinter verbirgt.
Was man findet, ist eine Sammlung von Ereignissen, irgendwo zwischen Essays, Erzählungen und Zeitungsartikeln, die uns die Welt wie ein Panoptikum vorstellt, bizarr und verkehrt. Beispiele aus dem Alltag beleuchten den heimlichen und unheimlichen Rassismus, die Amnestie der Generäle, die Verbrechen der Wirtschaft und die der Kirche.
Das Buch ist nun in einer gelungenen Übersetzung von Lutz Kliche im Peter Hammer Verlag auf deutsch erschienen. Es ist mehr als nur eine Zusammenstellung bestürzender Tatsachen aus dem lateinamerikanischen Alltag, denn es beansprucht, ein Lehrbuch zu sein: „Patas Arriba – Die Schule der Welt auf dem Kopf.“ Die Kapitel werden präsentiert wie einzelne Unterrichtseinheiten. Das wichtigste Lernziel ist es, in dieser verkehrten Welt voranzukommen. Sarkastisch werden die dazu nötigen Methoden beschrieben. Galeano nimmt seine Beispiele aus der Realität – ganz offensichtlich ohne lange suchen zu müssen – und berichtet von den Ungerechtigkeiten, die in den letzten Jahrzehnten eher zu- als abgenommen haben.
Diese Schule lehrt uns, dass der Mörder straffrei bleibt, wenn er eine Uniform trägt, dass die, die oben sind, die Angst für die, die unten sind, produzieren lassen, dass es am liebsten gesehen wird, wenn alle einsam und verzweifelt bleiben. Vom Angstunterricht zum Ethikseminar: eine Chronologie grausamer Realität, und die Meisterklasse in Straffreiheit beweist uns einmal mehr, was wir immer noch nicht glauben wollen: dass es keine Gerechtigkeit gibt in der Welt.
Vielleicht sollte es die Absicht des Buches sein, den Lesern den fatalistischen Glauben zu nehmen, dass sich alles wenigstens allmählich zum Besseren entwickelt. Das Gegenteil wird hier bewiesen. Das Buch ist, mit seiner ganzen Fülle an Informationen, an zurückhaltender Sachlichkeit und seinem vorsichtigen Versuch, die Leser für die Ereignisse auf dieser Welt stärker zu sensibilisieren, es ist mit und trotz all dem – ein trauriges, ja, ein verzweifeltes Buch.
Wer Fakten braucht und Argumente, und wer den Hass auf die Ungerechtigkeit dieser Welt erst noch suchen muss, dem sei Die Füße nach oben herzlich empfohlen. Jedoch zeigt es keine Perspektiven für die Zukunft und auch in seiner Geschichtsschreibung findet sich kaum ein Lichtblick.

Bestandsaufnahme

„Zustand und Zukunft einer verkehrten Welt“ lautet der Untertitel der deutschen Übersetzung – zu unrecht, denn in diesem Buch geht es nicht um die Zukunft, die sich auf den vier letzten Seiten des Buchs zusammenstaut, mit einem diffusen Funken Hoffnung versehen, der scheint wie ein Pflichtprogramm. Galeano widmet sich vor allem dem Zustand. Und der ist nun mal erbärmlich, auch in diesem Buch: Die Welt, so fürchterlich wie sie ist, ist Galeanos verkehrte Welt. Und die ist schon wie Palabras Andantes mit Holzschnitten illustriert, die dem Buch eine besondere Note geben. Die Schnitte stammen von dem mexikanischen Künstler José Guadalupe Posada, dessen wunderbare Darstellungen bereits zur vergangenen Jahrhundertwende die Tageszeitungen Mexikos bebilderten. Seine Themen sind der Tod, das gesellschaftliche Leben und allerlei Surreales.
Galeanos Art zu schreiben ist der von Egon Erwin Kisch nicht unähnlich, es fehlt ihm jedoch die gewisse Pointiertheit. Er ist ein guter, ein gewissenhafter Schriftsteller, wenngleich sein mahnender Zeigefinger etwas ermüdet, ebenso seine rhetorischen Fragen, auf die ohnehin jede/r die Antwort wüsste.
Eduardo Galeano, der viele Jahre des Exils in Argentinien, Spanien und Mexiko verbrachte, wird in diesem Jahr sechzig Jahre alt. Als er Die offenen Adern Lateinamerikas schrieb, war er dreißig. Seinem meist beachteten Werk ist es zu verdanken, dass öffentlich Kritik an der offiziellen Geschichtsschreibung geübt wurde, dass der Blick geschärft wurde auf das andere Lateinamerika, den ausgebluteten Kontinent. Es fehlt in keinem guten Bücherregal zwischen Tijuana und Punta Arenas.
In den letzten dreißig Jahren hatte Lateinamerika nicht viel Gelegenheit, wieder zu Kräften zu kommen, geschweige denn, zur Selbstbestimmung. Auch diese enttäuschte Hoffnung spiegelt sich in den Texten. Galeanos Leben – über das er sich literarisch selbst wenig geäußert hat – ist vermutlich enger verknüpft mit den Ereignissen, die er beschreibt, als seine sarkastische Sachlichkeit vermuten ließe. Doch wer die Füße nach oben kehrt, der lässt auch den Kopf hängen. Hier ist sie nachzulesen, die wahre und deprimierende Entwicklung Lateinamerikas.
So ist Die Füße nach oben schließlich auch ein modernes Geschichtsbuch, so traurig wie die Informationen, die darin komprimiert werden. Und im Wesentlichen handelt es sich um Informationen, hinter denen die Darstellung zurücktritt. So deutet es auch der letzte Satz des Buches an:
„Wenn Sie wissen möchten, wie die Geschichte weitergeht, lesen, hören oder sehen Sie Tag für Tag die Nachrichten.“

Eduardo Galeano: Die Füße nach oben. Zustand und Zukunft einer verkehrten Welt, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2000, 360 S., 36,80 DM.

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