Nicaragua | Nummer 382 - April 2006

Mit der Geduld am Ende

Nicaraguas ÄrztInnen warten seit 1998 auf Lohnerhöhungen

Für das Recht auf Gesundheit und angemessene Gehälter im öffentlichen Gesundheitssektor kämpft María Hamlin Zúniga seit 38 Jahren. In Nicaragua gründete sie das Netzwerk Mittelamerikanischer Basisgesundheitsinitiativen mit. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit der gebürtigen US-Amerikanerin über den in Nicaragua seit November andauernden Streik von ÄrztInnen und Angestellten öffentlicher Krankenhäuser, die medizinischen Versorgungsengpässe und die Rolle des Internationalen Währungsfonds.

Stephanie Zeiler

Die nicaraguanische Verfassung schreibt eine kostenlose und umfassende Gesundheitsversorgung für alle vor. Warum sieht die Realität so anders aus?

Nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 begannen der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, eine Reihe grundsätzlicher Strukturanpassungsprogramme durchzuführen. Damit wollten sie die Auslandsverschuldung Nicaraguas, darunter auch finanzielle Verpflichtungen aus der Zeit der Somoza-Diktatur vor 1979, begleichen. Diese Programme führten zu starken Einschnitten im Sozialsystem: Sozialleistungen wurden gekürzt, die Kosten für die Grundversorgung mit Energie und Wasser wurden angehoben und viele Arbeiter und Angestellte entlassen. Heute ist die Mehrzahl von ihnen arbeitslos oder im informellen Sektor unterbezahlt beschäftigt. Viele andere sind nach Costa Rica emigriert, wo zur Zeit mehr als 500.000 Nicaraguaner arbeiten. Die meisten als Hausangestellte, Bauarbeiter oder auf dem Feld.

Nicaragua ist eines der 18 Länder, denen die Finanzminister der G8-Staaten im vergangenen Jahr die Schulden erlassen haben. Ist vom angekündigten „Durchbruch im Kampf gegen die Armut“ etwas zu spüren? Hat sich die Gesundheitsversorgung verbessert?

Die G8-Staaten haben für ihre Entschuldungsinitiative der ärmsten Entwicklungsländer damit geworben, dass die freigesetzten Gelder zur Armutsbekämpfung genutzt werden könnten. Seit 1999 wurden Nicaragua pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar erlassen. Tatsächlich sind jedoch nicht mehr Gelder in soziale Programme geflossen. Der IWF war unerbittlich in seinen Verhandlungen mit Nicaragua. Er erklärte, das Land müsse weitere Kürzungen im Sozialsystem in Kauf nehmen, um seinen Verpflichtungen nachkommen zu können. Und das, obwohl Nicaragua einen Haushaltsüberschuss vorweisen konnte. Die Regierungsbeamten haben sich zwar hin und wieder beschwert, dass der IWF so einen Druck ausübe, in den Verhandlungen hat das Wirtschaftsministerium dann aber doch keine eindeutige Gegenposition bezogen. Die Sturheit des IWF und die Schwäche der nicaraguanischen Regierung hat den Gesundheitssektor am Ende besonders stark getroffen.

Unter welchen Bedingungen arbeiten Angestellte und ÄrztInnen an staatlichen Krankenhäusern heute?

Einige staatliche Krankenhäuser haben Privatstationen. Für diese gibt es aber weder ein zusätzliches Budget noch Personal. In den Hospitälern besteht dadurch eine Konkurrenzsituation. Diese geht auf Kosten der Patienten, die auf staatliche Versorgung angewiesen sind. Denn natürlich bekommen Privatpatienten mehr Zuwendung. Auch das ist eine Form der Privatisierung.
Während des seit November andauernden Streiks der Ärzte und Angestellten öffentlicher Krankenhäuser wurden alle privaten Dienstleistungen gestoppt. Die Streikenden forderten, Privatstationen in öffentlichen Kliniken abzuschaffen. Denn die Gelder, die Privatpatienten extra zahlen, fließen in der Regel allein in die Taschen der Krankenhausdirektion. Dabei reicht umgekehrt das staatliche Budget nicht einmal aus, um auf den Stationen eine Grundversorgung zu garantieren: Oft gibt es keine Medikamente und keine Betten. Wenn es doch welche gibt, befinden sie sich in einem miserablen Zustand. Die Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung sind schlecht. Die Gebäude sind verfallen.

Seit Mitte November streiken ÄrztInnen und Angestellte der Krankenhäuser in Nicaragua. Warum?

Laut der Hilfsorganisation Oxfam International verdienen Ärzte und Krankenschwestern in Nicaragua ebenso viel wie ihre Kollegen in Malawi. Mit dem Unterschied, dass das afrikanische Land laut Weltbank ein 70 Prozent niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen hat als Nicaragua. Im Nachbarland Honduras verdient ein Arzt monatlich dreimal so viel. Das ist in jeder Hinsicht ungerecht und inakzeptabel. Denn das macht es unmöglich, die Qualität der öffentlichen Versorgung zu verbessern.

Wie hat sich der Streik auf die Gesundheitsversorgung ausgewirkt?

Die meisten Krankenhäuser befinden sich in der Hauptstadt Managua. Sie sind alle vom Streik betroffen. In der im Nordwesten des Landes gelegenen Stadt León kam es sogar zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei, dem Ministerium und den Streikenden. Der größte Versorgungsengpass herrscht jedoch auf dem Land. Es fehlen Betten und Medikamente und Laboruntersuchungen werden auch nicht mehr durchgeführt. Wer trotzdem behandelt wird, muss zahlen. Spätestens seitdem sich die Versorgung nur noch auf Notfälle beschränkt, suchen viele Menschen gar keinen Arzt mehr auf. In Nicaragua kursieren also längst Meldungen über tote Mütter und Kinder.

Was genau sind die Forderungen der Streikenden? Haben sich diese seit November verändert?

Gefordert werden eine Anhebung der Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und die Bereitstellung von Medikamenten. Die Forderungen gehen auf Vereinbarungen zurück, die bereits in den 1990er Jahren getroffen, und bereits von der vorigen Regierung nicht gehalten wurden. Bis 1998 waren rund 80 Prozent der zuvor beschäftigten Ärzte entlassen worden. Damals wurde eine Kommission aus Mitgliedern des Finanz- und Gesundheitsministeriums sowie der Zentralbank einberufen, um das Problem mit den Löhnen zu lösen. Sie schlugen eine Lohnanhebung um 300 Prozent vor. Die entlassenen Ärzte riefen den Obersten Gerichtshof an – 2002 waren sie wieder im Gesundheitssektor beschäftigt. Die Lohnerhöhungen blieben aber dennoch aus.
2004 wandten sich die Betroffenen an das Arbeitsministerium, das sich auf die Seite der Ärzte stellte. Aber auch daraufhin bewegte sich am Ende nichts. Letztlich warteten Ärzte und Angestellte ab, bis das Budget des Gesundheitssektors für 2006 veröffentlicht wurde: Wieder keine Lohnanhebung. Und an diesem Punkt war dann auch ihre Geduld am Ende. Heute fordern die Gewerkschaft der Ärzte (Médicos Pro Salario) und die der Angestellten (FETSALUD) eine sofortige Lohnanhebung um 15 Prozent und eine weitere um den gleichen Prozentsatz bis zum Jahresende. Erst nach vier Monaten Streik konnten sich die beiden Lager auf eine gemeinsame Forderung einigen. Jetzt warten alle nur noch auf die Antwort des IWF. Das heißt, am Ende entscheiden doch wieder die Banker.

Welche Rolle spielt der IWF denn nun genau im aktuellen Konflikt?

In den Verhandlungen zwischen der Regierung und den Ärzten ist ein Lohnanstieg nicht vereinbar mit den vom IWF gestellten Bedingungen. Diese schreiben das Einfrieren der Gehälter im öffentlichen Sektor bis 2008 vor. Dabei wird argumentiert, dass die öffentlichen Löhne im Durchschnitt längst das Niveau des privaten Sektors erreicht hätten. Bewusst außer Acht gelassen wird dabei jedoch, dass der Lohndurchschnitt sich aus der Summe aller Gehälter berechnet. Das heißt, sie unterscheiden nicht angemessen zwischen dem Spitzenverdienst einer Führungskraft und den Niedriglöhnen von Lehrern, Polizisten oder Angestellten im Gesundheitswesen. Das Lohngefälle in Nicaragua ist gravierend – das Gehalt des Gesundheitsministers und seiner Angestellten liegt zehn bis 25mal so hoch, wie das der Ärzte. Während das Monatsgehalt eines Mediziners sich lediglich auf 136 US-Dollar beläuft, verdient der Minister im gleichen Zeitraum alleine 6.200 US-Dollar.
Der IWF hat der Regierung Bolaños mit seinen Forderungen die Hände gebunden. Nach den andauernden Streiks sieht es nun aber so aus, als sei der IWF ein Stück weit bereit, einzulenken. Damit nähert er sich auch dem Nationalen Plan der Regierung, der bereits vorsieht, das Lohnniveau im Gesundheits- und Erziehungswesen an die aktuellen Bedürfnisse des Landes anzugleichen.

Im Februar haben in Nicaragua auch die Busfahrer gestreikt. Sie konnten ihre Forderungen schon nach acht Tagen durchsetzen. Warum lenkte die Regierung hier so schnell ein?

Im Grunde ist dieser Streik mit dem der Ärzte nicht vergleichbar. Im Transportwesen streikten die Arbeiter innerhalb der vergangenen zwei Jahre bereits fünfmal. Hinzu kamen die Energiekrise, die exorbitanten Benzinkosten und die niedrigen Fahrkartenpreise. Im Februar garantierte die Regierung den Busfahrern dann eine finanzielle Unterstützung, finanziert durch Steuereinnahmen und Profite der transnationalen Konzerne. Erfüllt haben sie ihr Versprechen bislang jedoch nicht.
Besonders die arme Bevölkerungsschicht Nicaraguas ist dem Transportsektor regelrecht ausgeliefert, wenn sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist. Die Menschen haben die ewigen Streiks satt. Viele unterstützen deshalb auch den Arbeitskampf der Ärzte nicht. Manche sehen zwar, dass die Mediziner viel zu wenig verdienen, aber umgekehrt leben 80 Prozent der Bewohner Nicaraguas in Armut. Sie beschweren sich über den schlechten Gesundheitsservice, fehlende Medikamente und schlechte Behandlungen durch die Angestellten der öffentlichen Kliniken.

Übersetzung: Christian Klemm

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