Kolumbien | Nummer 322 - April 2001

Morde ohne Opfer, Täter ohne Strafe

Interview mit Erick Arellana Bautista, Regisseur des Filmes N.N.

Gregor Maaß, Harald Neuber

Dein Film thematisiert das Problem von in Kolumbien verschwundenen Personen. Wie viele Menschen verschwinden im Jahr in Kolumbien?

In den letzten Jahren haben wir die Erfahrung gemacht, dass pro Tag etwa eine Person verschwand, wobei sich diese Zahl in den letzten zehn Jahren stets erhöhte. Im Jahr 2000 waren insgesamt etwa 300 Menschen betroffen.

Warum verschwinden in Kolumbien Menschen und wen betrifft das?

Das gewaltsame Verschwindenlassen ist Teil der politischen Praxis gegenüber der Opposition. Die Betroffenen sind fast immer Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, Studentengruppen oder politischen Gruppen.

Wo sind die Verantwortlichen zu suchen, und was passiert mit den verschwundenen Menschen?

Die Verantwortlichen sind meistens Militärs und Paramilitärs, die zusammen arbeiten. Nach der Gefangennahme werden die Personen in Folterzentren gebracht. Dort werden sie misshandelt, gefoltert und ermordet. Ihre Leichname werden auf Mülldeponien geschafft oder anonym an unbekannten Orten vergraben. Die Überreste schafft man also an Orte, wo sie unauffindbar sind. Dadurch wird die Zurückverfolgung der Täter unmöglich.

Kann man sagen, dass sich das Verschwindenlassen von Menschen zu einer Strategie im Bürgerkrieg entwickelt hat?

Ja. In Kolumbien hat diese Strategie ihre Anfänge bereits Ende der Siebziger Jahre und wurde zuerst gegen Mitglieder der Guerilla und deren Sympathisanten angewandt. Angesichts der mit politischen Häftlingen überfüllten kolumbianischen Gefängnisse, entwickelten sich außergerichtliche Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Menschen zu einer wirksamen Methode im Kampf gegen die Opposition.

Welche Möglichkeiten bleiben den Angehörigen der Verschwundenen?

Die Methode des Verschwindenlassens ist genau dafür gedacht, dass keiner die Möglichkeit hat, den Leichnam aufzufinden. Ich kenne nur einen Fall, wo ein Verschwundener wieder aufgetaucht ist. Die Person wurde gefoltert und danach in einem Müllsack auf eine Deponie geworfen. Die Folterer dachten, er wäre tot. Er hatte jedoch überlebt und konnte fliehen. Heute lebt er in London. Aber das ist eben nur ein einzelner Fall.

Im Juli 2000 hat die kolumbianische Regierung das Verschwindenlassen als Straftat anerkannt. Welche Auswirkungen zeigen sich?

Die Familienangehörigen haben zwölf Jahre für dieses Gesetz gekämpft. Festzustellen ist, dass eine Woche nach dem Inkrafttreten eine Frau von ASFADDES ermordet wurde, und wenig später zwei weitere Mitglieder verschwanden. Die kolumbianische Regierung vermittelt nach außen ihren scheinbar guten Willen. Sie sagen, sie wären demokratisch, sie hätten ein Gesetz verabschiedet, in Wirklichkeit hat sich die Situation jedoch verschlimmert.

Was hat dich persönlich zu dieser Thematik geführt? Warum hast du diesen Film gemacht?

Meine Mutter Nydia Erika Bautista war Mitglied der Guerilla M-19. Sie wurde 1987 von Mitgliedern der 20. Militärbrigade gefangen genommen und dann an einen Ort drei Kilometer außerhalb von Bogotá gebracht, wo sie gefoltert und schließlich ermordet wurde. Den Leichnam meiner Mutter warfen sie neben die Landstraße. Im Jahr 1990 fanden wir dort ihre Überreste, und erst dann konnten wir gegen den Staat klagen. Fünf Jahre später erreichten wir, dass erstmals in der Geschichte Kolumbiens ein General, General Belandia, seines Amtes enthoben wurde, weil er geltendes Recht verletzt hatte.
Ich hatte damals sehr widersprüchliche Gefühle. Meine Mutter hatte mir immer von ihrer Arbeit erzählt. Außer ihrer Mitarbeit in der Guerilla M-19 hat sie mir nie etwas verschwiegen. Als man sie verschwinden ließ, war ich dreizehn Jahre alt. Ich fühlte mich verloren, wusste nicht wo ich sie suchen sollte. Ich empfand große Unsicherheit, Schmerz und auch Angst, denn man wusste, was meist mit den Verschwundenen geschah. Doch immer dachte ich, sie würde eines Tages lebendig zurückkommen. Als wir ihre Überreste fanden, war das eine große Wende. Es ging mit einem Mal nicht mehr darum, sie lebendig aufzufinden, sondern ihr Lebenswerk weiterzuvermitteln und daraus eine Perspektive zu gewinnen. Darum habe ich diesen Film gemacht.

Du befindest dich jetzt im Exil in Deutschland. Welche Erfahrungen musstest du machen und wie wurdest du hier aufgenommen?

Es war kompliziert, nach Deutschland zu gelangen. Zunächst einmal musste ich Kolumbien innerhalb von vier Tagen verlassen. 1995 wurde General Belandia seines Amtes enthoben. Zwei Jahre später wurde der Prozess dann vor dem Militärstrafgericht verhandelt. Drei bereits verhaftete Militärs wurden wieder freigelassen, und noch in der selben Woche gab es Angriffe von Militärs und Paramilitärs gegen Menschenrechtsvertreter. In diesen Tagen wurde eine schwarze Liste mit den Namen von Menschenrechtsvertretern bekannt, auf der auch mein Name zu finden war. Ich musste das Land verlassen, und mit dem Land meine Mitstreiter und meine Freunde. Dann kam ich an einen Ort, wo die Vorstellungen von meinem Land nicht weit über Fußball, Drogen, Guerillas und Kaffee hinaus gehen. Du willst deine Geschichte erzählen und kannst sie nicht erklären. Das zerbricht dir die Seele, und es ist das, was das Exil besonders schmerzhaft macht. Nicht die Worte zu haben, um zu erklären, was einem widerfahren ist, woher man kommt. Es ist auch ein Verlust der eigenen Identität, du fühlst dich wie auf einer Insel, fühlst dich am Ende.

In dem Film kommen Angehörige von Verschwundenen zu Wort. Du hast dich also der Gefahr ausgesetzt und bist für diese Aufnahmen nach Kolumbien zurückgekehrt?

1998 begannen wir mit der Gruppe ISKA das Kultur – Projekt „Urbanisierung der Erinnerung“. Wir wollten einige Straßen Bogotás mit den Namen von Verschwundenen benennen, um das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Während dieser Arbeit steigerte sich unser Bedürfnis, die Vorgänge zu dokumentieren. Es gab bisher keine Art von Dokumentation über die Verschwundenen, und außerdem mussten wir beobachten, dass ihnen keiner mehr Aufmerksamkeit schenkte. Viele von den Angehörigen gingen ins Exil, die Älteren starben und viele Mitstreiter waren ermordet worden. Wir sahen also die Notwendigkeit, diese Dokumentation hier und jetzt zu beginnen. Nicht wie an anderen Orten Lateinamerikas, wo man immer danach und niemals noch im selben Moment begann, zu dokumentieren, zu verarbeiten. Die internationalen Prozesse zu Verschwundenen in Lateinamerika, beispielsweise in Argentinien, beginnen erst jetzt, viele Jahre später. Diese späten Erfolge haben uns motiviert sofort zu beginnen, während die Verbrechen noch immer geschehen. Darum bin ich nach Kolumbien zurückgekehrt, allerdings begleitet von der Friedensorganisation Peace Brigades International. Allein hätte ich nicht einmal den Flughafen passieren können.

Wie reagierte die Stadtverwaltung auf eure Vorschläge, Straßen in Bogotá nach den Namen von Verschwundenen zu benennen?

Die Regierung in Kolumbien zeigt immer zwei Gesichter. Das eine ist das demokratische, und sie sagten uns, wie gut und toll sie diese Idee fänden. Das andere Gesicht aber hält dich hin und sagt dir du müssest abwarten, denn die Wege der Bürokratie seien lang und benötigten ihre Zeit. Bis jetzt gibt es erst drei Straßen, die die Namen von Verschwundenen tragen.

Der Film wird gerade in verschiedenen Städten Deutschlands vorgeführt. Welche Erwartungen verbindest du damit?

Unsere Idee, diesen Film in Deutschland zu präsentieren, hat zwei Absichten. Zum einen wollen wir, dass die Menschen hier in Deutschland durch konkrete Fakten erfahren, was in Kolumbien passiert. Und zum anderen, dass sich die Betroffenen in Kolumbien nicht alleine fühlen, dass sie in ihrem politischen Kampf nicht isoliert sind. Wir hoffen auf starke internationale Unterstützung, damit wir den Film auch in Kolumbien zeigen können.

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