Kultur | Nummer 251 - Mai 1995

“Musik ist keine universelle Sprache”

Interview mit Jocy de Oliveira

Interview: Martin Ziegele

Wir wußten nicht einmal, daß es eine Opernszene in Brasilien gibt. Warum ist das hier in Europa nicht so bekannt?
Ich denke, daß das mei­ste, was aus Brasilien kommt, Pop oder andere eher kommerzielle Dinge sind. Und meistens, wenn die Regierung Dinge in die Welt schickt, denkt sie viel mehr in den stereotypen Bildern von Brasilien, die auch die Europäer im Kopf haben. Und das sind Kar­neval und Fußball – und das war`s. Sie kümmern sich viel zu wenig um die sehr verschieden­artige Kultur, die Brasilien hat. Ich meine die zeitgenössi­sche Kunst, sicher auch Folklore und all` die An­denken an unsere Tradi­tionen. Die Kultur ist sehr umfassend.
Was haben Sie außer­halb Brasiliens schon ge­macht?
Ich trete schon seit 30 Jahren in Europa und im Ausland auf, lange Zeit aber in erster Linie als Pianistin. Und einige mei­ner Schallplatten wurden hier in Deutschland veröf­fentlicht, weil ich viele Jahre mit dem Einüben der Werke von Messiaen verbracht habe. Auch Neue Musik, wie beispielsweise Wer­ke von Cage oder Stock­hausen, habe ich sehr viel auf­ge­führt. In­zwi­schen habe ich auch sehr viel selbst komponiert.
Wen wollen sie mit Ihrer Musik erreichen?
Ich habe einige meiner Werke Open-Air gespielt, und da hatten wir wirklich ein riesiges Pu­blikum, was sehr interessant ist, weil ich dann Werke wie die­ses Leu­ten nahebringen kann, die sonst nicht unbedingt ins Theater gehen. Sie sind diese Art von Musik nicht gewöhnt, und es ist eine Herausforderung, ihre Re­aktion zu bekommen.
Wollen sie dem Publikum eher klassische oder expe­rimentelle Opern vorfüh­ren, oder steht der Inhalt im Vorder­grund? Sie ver­suchen ja auch, die Kultur der Yanomami darzustel­len.
Der erste Teil von “illud tem­pus”behandelt mehr mythische Texte, der zweite Teil befaßt sich mit weiblichen Träumen. Und dann habe ich auch ein paar Ge­schichten und Träume eingebaut, die sich auf die Yanomami bezie­hen, die alte Steinzeit-Kul­tur, die in Brasilien immer noch existiert. Im letzten Teil kommen zwei Märchen vor, die ich so er­zähle, wie ich sie sehe…
…und die in Brasilien be­rühmt sind?
Nicht unbedingt. Die Wolfs­frau beispielsweise ist aus der mexikanischen Wüste. Ein an­deres Mär­chen kann man mit klei­nen Abwandlungen sowohl in Brasilien als auch in Nord­amerika finden. Es ist manchmal unglaublich: In verschiedenen Kulturen werden sie zwar leicht un­terschiedlich erzählt, aber diese berühmten Märchen sind immer wieder zu er­kennen.
Steht die Rolle der Frau in­nerhalb der Gesellschaft und der Natur im Mittel­punkt des Werkes?
Ja, im Mittelpunkt steht die Frau, aber auf sehr verschiedene Arten und in einer sehr subtilen Weise, nicht ganz offensichtlich und nicht richtig linear oder er­zählend. Meine Art zu erzählen ist sehr sym­bolisch. Es ist wich­tig, das Publikum zu vielen unter­schiedlichen Empfindun­gen und Eindrücken anzu­regen, da­mit sie ihre eige­nen Träume dazu entwic­keln. Die Hauptsache ist, Symbole zu benutzen, um einen magischen Augen­blick zu erzeu­gen, um diese ganzen Mythen, die irgendwie verloren gegan­gen sind, wiederzugewin­nen.
Sehen sie sich selbst als eine brasilianische Künst­lerin oder eher als eine ex­perimentelle Weltkünstle­rin?
Ich fühle mich nicht wirklich brasilianisch oder chinesisch oder japanisch oder was auch immer. Und ich denke, daß durch die Musik, die keine univer­selle Sprache ist…
Was meinen sie damit, daß die Musik keine uni­verselle Spra­che ist?
Sie ist es absolut nicht, denn wenn sie Beethovens Fünfte in Madras spielen würden, fänden es die Leute dort furchtbar. Sie würden es für etwas wirk­lich Exotisches, Fremdes halten. Sie sind es nicht gewöhnt.
Das wäre ein falsches Kon­zept. Aber der charis­matische Effekt eines Stückes oder der magische Augenblick einer Auffüh­rung – damit kann man wirklich Kulturen zusam­menbringen. Das ist etwas, was ich gerne intensiver machen würde. Das habe ich in den USA viel mehr gemacht als in Europa: Beispielsweise nur mit dem Set-Designer und vielleicht zwei Schauspie­lern zu kommen, um dann mit Musikern und Schau­spielern von dort zu ar­beiten und die Möglichkeit eines Ideenaus­tausches zu haben, um dann ein ge­meinsames Werk vorfüh­ren zu können.
Ich habe vier Stücke für das Fernsehen gemacht. Die einzige Bedingung, die ich stellte war, daß ich al­les selber machen durfte, daß ich bei der ganzen Aufnahme beteiligt sein durfte und daß alles exakt gemacht wurde, ohne Cuts – genau so, wie ich es mir ausgedacht hatte.
Das ist also möglich?
Ja, das war möglich. Es war perfekt. Aber das war ein öffent­licher Sender. Mit einem kom­merziellen Sen­der wäre es nicht möglich gewesen, sie würden es nie­mals machen.
Also können das Fernse­hen und die Massenme­dien ein Trä­ger für Ihre Botschaft oder für Ihr Ex­periment sein?
Ja, ich habe Video und alle möglichen Arten von visuellen Möglichkeiten, wie Holographie und Laser genutzt und auch ei­nige Stücke zur Unterhaltung gemacht. Ich denke, sie sind nur ein Medium. Es ist egal, was der Vermittler ist.

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