Literatur | Nummer 433/434 - Juli/August 2010

Mutter ohne Kind

Claudia Piñeiros Roman Elena weiß Bescheid

Rita ist tot. Ihre Mutter Elena scheint die einzige zu sein, die nicht an einen Selbstmord der Tochter glaubt. Um aufzuklären, was wirklich passiert ist, begibt sich die an Parkinson erkrankte Frau auf eine Reise ins innere von Buenos Aires und die gemeinsame Vergangenheit mit ihrer Tochter.

Heike Loth

Elena hat Parkinson und „sie“, die „verdammte Scheißkrankheit“, beherrscht ihr gesamtes Leben und erscheint als Strafe, als Erniedrigung. Elenas Zeit wird getaktet von Medikamenten, denn nur durch diese ist sie in der Lage, wenigstens teilweise und für wenige Stunden über ihren Körper zu verfügen. Ihre Zeit ist die, die sie der Krankheit entreißen kann. So begibt sie sich auf die wahrscheinlich letzte Reise ihres Lebens, um den Tod ihrer Tochter Rita aufzuklären. Elena glaubt nicht an Selbstmord und sie muss es schließlich wissen, sie ist die Mutter. Da sie nicht in der Lage ist, die Ermittlungen selbst zu führen, begibt sie sich in die Vergangenheit, um eine Schuld einzufordern und einen Körper zu finden, über den sie Macht ausüben kann und der dadurch für sie die Wahrheit herausfinden soll. Die LeserInnen begleiten sie bei diesem schier unmöglichen Vorhaben und lernen dabei Elena kennen, tauchen ein in ihre Gedankenwelt und in ihre Erinnerungen an ein längst vergangenes Leben und erfahren die Tragik ihrer Erkrankung. Sie erfahren, welche Herausforderungen ganz normal erscheinende alltägliche Handlungen wie Aufstehen und Sich-Anziehen darstellen können. Wie unvorstellbar schwer und kräfteraubend muss es für diese Frau sein, aus einem Vorort von Buenos Aires in die Hauptstadt aufzubrechen? Anhand von Elenas Reflexionen und Erinnerungen zeichnet die Autorin Claudia Piñeiro das Bild einer konfliktreichen Mutter-Tochter-Beziehung. Streit, Schmerz und enttäuschte Erwartungen prägen den Alltag der beiden Frauen: „So ging es an allen restlichen Tagen. Spaziergang, Peitschenknallen, Abstand, und zuletzt Schweigen. Die Worte änderten sich, der Auslöser ihres Streits, aber der Ton, die Melodie, der Ablauf blieb immer gleich.“ Die Gegenwart jedoch ist noch dunkler, denn ohne Rita ist Elena allein, mit ihrer Krankheit allein und vielleicht keine Mutter mehr. Ein Kind ohne Eltern ist eine Waise, doch wie nennt man eine Mutter, deren Kind tot ist? Was wie ein Krimi beginnt, endet als psychologische Offenbarung der (Anti-) Heldin Elena.
Der Roman spricht die großen Themen des Lebens an: Zeit, Tod, Einsamkeit, Schmerz – und dahinter auch Liebe. Eine Liebe zwischen Mutter und Tochter, die verborgen ist hinter enttäuschten Erwartungen und falschen Vorstellungen. In einfachen Sätzen, klaren Worten, offen und ohne Schnörkel wird das Leben geschildert und eine tragische Wahrheit beschrieben. Der Roman bedauert nicht, urteilt nicht, sinniert nicht und ist nicht emotional überladen. Vielmehr überlässt er das Ausmaß seiner Tragik den verständnisvollen LeserInnen. Die Innenansichten der Figuren sind nur dort zugänglich, wo sie entscheidend sind. Das Besondere liegt hier in der Symbolkraft der Aktion: Die LeserInnen müssen die Handlungen und Ereignisse im Leben der beiden Frauen entschlüsseln, um an die dahinter liegende Wahrheit zu gelangen. Sie müssen geduldig sein und warten, bis Elena, gelähmt durch ihre Krankheit, im Sessel einer fremden Frau sitzend, nicht mehr ausweichen kann und endlich Bescheid weiß. Sie ist eine Frau, die kein Mitleid verlangt – sie kämpft. Elena weiß Bescheid ist ein Roman über eine Mutter, die leben will, obwohl ihre Tochter tot ist, und ein Roman über eine Tochter, die sterben wollte, weil ihre Mutter krank ist.

Claudia Piñeiro // Elena weiß Bescheid // Unionsverlag // Zürich 2009 // 186 Seiten // 16,90 Euro

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