Guatemala | Nummer 378 - Dezember 2005

Nichts gelernt aus Mitch

Guatemala nach dem Hurrikan Stan

Wochen nach dem Sturm leben in Teilen Guatemalas noch immer Menschen unter Plastikplanen. Oft kam Hilfe erst nach Wochen. Die Naturkatastrophe zeigt soziale und politische Schwächen des mittelamerikanischen Landes. Sei es, dass Hilfsgüter auf dem freien Markt wiedergefunden werden, sei es, dass Massengräber auftauchen, die verschwiegen werden sollten.

Susanne Schmitz

Durch Stan starben Anfang Oktober 669 Personen in Guatemala, 386 wurden verletzt. Außerdem werden 844 Personen vermisst, die aller Voraussicht nach ihr Leben verloren haben. So die offiziellen Angaben von CONRED (Nationale Koordinationsstelle zur Reduzierung von Katastrophen). Das allein sind schon mehr als doppelt so viele Tote wie nach dem Hurrikan Mitch im Jahr 1998. Hinzu kommen jene 1.500 bis 2.000 Menschen, die unter einer Schlammlawine begraben sind, die am Lago Atitlán die zwei Dörfer Panabaj und Tzanchaj verschüttet hat. Dort konnten
lediglich 77 Leichen geborgen werden.
In dramatischer Weise wurde durch Stan die ökologische und soziale Fragilität des Landes deutlich. Gerade der armen Bevölkerung bleibt weiterhin oft nichts anderes übrig, als an steilen Hanglagen oder in Ufernähe ihre Häuser zu errichten und Felder anzulegen. Es scheint, als hätte keine der staatlichen Behörden aus den Folgen von Mitch gelernt: CONRED bemüht sich zwar, zur Vorbeugung und Reduzierung von Naturkatastrophen Strategien zu entwickeln. Doch was nach dem Eintreten einer Katastrophe zu tun ist, darüber hat sich in Guatemala kaum jemand Gedanken gemacht. Es existiert kein Notfallplan. Mögliche Strategien scheitern schon daran, dass viele BürgermeisterInnen gar nicht wissen, wie viele Menschen überhaupt in ihren Gemeinden leben.

Zerstörte Hütten und teures Essen

Insgesamt sind von den Folgen Stans mehr als 3 Millionen Menschen betroffen. Über 9.000 Häuser und Hütten wurden komplett zerstört und über 25.000 Häuser und Hütten sind beschädigt. 30% des guatemaltekischen Territoriums sind betroffen, am stärksten die bevölkerungsreichsten und gleichzeitig ärmsten Regionen San Marcos, Quetzaltenango und Sololá. Tausende leben nach wie vor in den Notunterkünften, da das Land, auf dem ihre Häuser standen, weggeschwemmt oder verschüttet wurde. Wann ihnen von der Regierung Alternativern zur Verfügung gestellt werden können, steht in den Sternen. Vor Weihnachten sicher nicht. In unzähligen Dörfern schlafen die Menschen weiterhin unter Plastikplanen.
Besonders für die Menschen im Hochland, die ihre Häuser verloren haben, könnten die nun kommenden kalten Monate lebensgefährlich werden. Zudem wird gerade in den armen Hochlandregionen, die von der Subsistenzwirtschaft leben, für das nächste Jahr mit einer gravierenden Lebensmittelknappheit gerechnet, da die diesjährige Ernte sehr gering ausfallen wird.
In den Wochen nach Stan stiegen die Preise für Lebensmittel vor allem in den westlichen Landesteilen so stark an, dass eine Vorratskaraffe Trinkwasser umgerechnet fünf Euro statt 1,20 Euro und ein Karton mit 30 Eiern 4,50 Euro statt 2,10 Euro kostete. Die Ombudsstelle für Menschenrechte (PDH, Procuraduria de Derechos Humanos) sah sich daraufhin gezwungen, die Preise für zahlreiche Produkte in verschiedenen departamentos zu überprüfen. Anfang November war der Preis für ein Pfund Mais in einigen Gegenden in Sololá um das Zehnfache gestiegen und kostete 1,40 Euro statt 13 Cent (wobei der Tageslohn auf dem Land rund 2,60 Euro beträgt).

Traumatisierte Kinder

„Einige Kinder bei uns in den Herbergen fangen automatisch an, ihre Sachen in eine Tüte zu packen und hinaus zu rennen, sobald sie die ersten Regentropfen hören“, so der Pfarrer Jorge Méndez aus Patulul. „Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen bekommen Panik, sobald es zu regnen anfängt; seit dem 4. Oktober haben sie sich nicht wieder getraut, in die Nähe des Flusses zu gehen. Sie haben noch gar nicht gesehen, dass das Wasser wieder gesunken ist“, beschreibt Maria von der Organisation für kommunitäre Gesundheit ASECSA die gravierenden psychischen Folgen des Hurrikans. ASECSA hat ein Nothilfeteam aus Ärzten und Psychologen zusammengestellt, die in weit entfernten Gemeinden punktuell Sprechstunden anbieten. Doch eine 20-minütige psychologische Beratung kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Durch den Verlust von Familienangehörigen, Hab und Gut und durch den wochenlangen Zustand von Angst und Hilflosigkeit sind die Menschen schwer traumatisiert.

Erste Wochen nach Stan

Denn hilflos, wie sie waren, blieben die Opfer der Katastrophe zunächst sich selbst überlassen. In zahlreichen weit von den Straßen und Städten entfernten Dörfern in der Region Sololá war auch drei Wochen nach Stan noch keine Hilfe angekommen. Die Menschen warteten in ihren notdürftig mit Plastikplanen gebauten Behelfsunterkünften auf Hilfe. „Die Unterstützung ist nur dort angekommen, wo auch die Kommunikationsmedien vor Ort sind. Wie es dort aussieht, wo die Medien nicht hinschauen, weiß keiner,” erzählt Juanita von Werke und Projekte (Obras y Proyectos) der Franziskaner.
Die Identifizierung der tatsächlich Betroffenen sowie die Sicherstellung, dass die Hilfe auch wirklich bei ihnen ankommt, gestaltet sich in vielen Orten als schwierig. In manchen Dörfern existieren bis zu 20 verschiedene Listen, die angeben, wer in welchem Maße betroffen ist und wer welche Güter erhalten hat. Auch durch die vielen völlig unabhängig voneinander agierenden Hilfsorganisationen, von der Sozialarbeit der Ehefrau des Präsidenten (SOSEP) bis zu den ausländischen UnterstützerInnen, erscheint es kaum möglich, vor Ort zuverlässige Daten zu erhalten, wohin schon Hilfe in welchem Umfang gelangt ist. Eigentlich soll sie bei jenen ankommen, die nach der Zerstörung ihres Hauses oder aus Angst vor weiteren Erdrutschen im Gemeindesaal Zuflucht gesucht hatten. Um das sicherzustellen, ziehen es zahlreiche Hilfsorganisationen vor, Grundnahrungsmittel oder Kleidung direkt vor Ort an die Betroffenen statt an selbsternannte Koordinatoren oder die Gemeindeverwaltung zu geben.

Politische Hilfe

Denn zahlreiche GemeindevertreterInnen beklagen eine politisch motivierte und ungleiche Verteilung der Hilfsgüter. Quer durchs Land ist zu hören, eingetroffene Lebensmittel, ob staatliche, internationale oder private, seien nicht oder nicht in vollem Umfang an die Bedürftigen verteilt worden: Örtliche Autoritäten nutzten sie für politische Zwecke und verteilten sie vor allem oder ausschließlich an ihre Anhänger. Oder sie verkauften sie gleich. In einigen Fällen kamen nur circa ein Drittel der Hilfslieferungen bei den Betroffenen an, bis zu zwei Drittel blieben bei den VermittlerInnen beziehungsweise KoordinatorInnen. Nicht selten waren die Fälle, in denen der Bürgermeister einige Hilfslieferungen lange Zeit in einem Lager hortete, statt sie an die Betroffenen zu verteilen, so dass weitere Hilfslieferungen wieder umkehrten, als sie die voll gefüllten Lager sahen. In Tecpán wurde auch die Armee bezichtigt, einen Großteil der Nothilfe einbehalten und nur einen Teil an die Notunterkünfte ausgeliefert zu haben.
Die Nahrungsmittelknappheit gibt auch der Diskussion um Genmais neuen Aufwind. Genveränderter Mais soll im Kampf gegen Lebensmittelknappheit nach Stan eingesetzt werden. Eine biotechnische Beraterin des State Department der USA, Madelyn E. Spirnak, beriet im Oktober Kongressmitglieder sowie MitarbeiterInnen des Ministeriums für Gesundheit und Landwirtschaft über die Vorteile von genverändertem Mais in Krisenzeiten. Dieser sei vor allem wegen seiner doppelt so hohen Rentabilität ein wertvolles Mittel im Kampf gegen den Hunger. Spirnak versicherte, die USA seien bereit, Guatemala mit Technologie-Projekten für genveränderten Mais, Reis und Bohnen zu unterstützen. Im Zuge der Lebensmittelnothilfe des Programa Mundial de Alimentos gelangte bereits genveränderter Mais der Sorte Starlik nach Guatemala.

Massengrab freigelegt

Durch einen Erdrutsch wurde in dem Dorf Las Nubes im departamento Quetzaltenango ein geheimes Massengrab freigelegt. Dies berichtete Rudy Castillo von der für die Region zuständigen Zweigstelle der Ombudsstelle für Menschenrechte (PDH) am 10. Oktober. Aller Voraussicht nach enthält das geheime Grab die sterblichen Überreste von im Bürgerkrieg vom Militär ermordeten Personen, insbesondere aus den 80er Jahren. In der Region leben vor allem Mayas.
Castillo hatte die Staatsanwaltschaft informiert, die nun den Fall untersuchen und die Opfer des Massakers identifizieren muss. Die BewohnerInnen der Ortschaft, die den grausamen Fund gemeldet hatten, brauchen Schutz vor möglichen Repressalien und bitten die verschiedenen Menschenrechtsinstanzen die Untersuchung der Opfer sicherzustellen.
Währenddessen halten diese gefährlichen und chaotischen Zustände die Regierung nicht davon ab, mit riesigen Werbekampagnen in den Zeitungen die vermeintlichen Fortschritte bei der Behebung der durch den Wirbelsturm Stan verursachten Schäden zu preisen. Die Opposition kritisiert die Millionenkosten solcher Werbekampagnen, wirft der Regierung politische Vorteilnahme vor und fordert sie auf, diese einzustellen.
Optimistisch erklärte Präsident Óscar Berger Anfang November nach 30 Tagen die Phase des Notstandes zunächst für beendet. Doch nach massiver Kritik an seiner Aussage, Guatemala befinde sich angesichts des an 445 Stellen erfolgten Wiederaufbaus fast wieder in einem Zustand der Normalität, wurde der Notstand vom Kongress nun doch noch verlängert. Dies bedeutet unter anderem, dass jene internationalen Hilfsorganisationen, die Nahrungsmittel, Medizin, Decken, Kleidung oder ähnliches als Nothilfe nach Guatemala liefern, von der Mehrwertsteuer befreit sind.
Doch Decken und Nahrungsmittelpakete machen einen fehlenden Plan für den Katastrophenfall nicht wett. Den braucht Berger für das nächste Mal.

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