OLODUM – MEHR ALS MUSIK
OLODUM – MEHR ALS MUSIK
LN: Wie definiert Ihr Eure Musik?
Joao Jorge: Den Rhythmus nennen wir Samba-Reggae, eine Mischung aus traditionellem Samba mit Reggae und politischen Botschaften. Die Musik ist eine Synthese der afrikanischen und brasilianischen Kultur mit der Utopie auf ein anderes Brasilien.
Verfolgt Ihr mit der Musik bestimmte Ziele?
Die Musik Olodums ist zur Erholung und zur Bildung des politischen Bewußtseins da; sie ist religiös und gefühlvoll. Es werden verschiedene Aspekte des Lebens behandelt. Sie verurteilt die Politiker, die die Schwarzen diskriminieren, beschreibt unsere historischen Persönlichkeiten wie Lampiao, Maria Bonita, die Königin von Saba, den Pharao von Ägypten usw. Zugleich ist sie eine Botschaft der Hoffnung.
Euer Lied “Avisa lá” wird auch von Gil und Caetano auf ihrer LP “Tropicália 2” interpretiert. Wie sind Eure Kontakte zu den “quatro baianos” Gil, Caetano, Maria Bethania und Gal Costa?
Gil ist seit vielen Jahren ein Weggenosse im antirassistischen Kampf, und auch Caetano hat sich in den letzten Jahren den Ideen Olodums angeschlossen. Das Thema des Karnavals 1994 war der Tropicalismo, den sie begründeten. Caetano Veloso beteiligte sich zusammen mit Roberto Beto, unserem Kunstdirektor, an den Kostümen (fantasias). Wir führten Blocos de Indios auf, die an die 70er Jahre erinnerten. Gal Costa hat Revolta do Olodum aufgenommen und Bethania hat von Caetano Reconverso gespielt, ein Lied, das von Bahia handelt und fragt “wer hat noch nicht Olodum im Pelourinho spielen gesehen?”.
Die Beziehung zu ihnen ist eng, obwohl es damals in Bahia zwei verschiedene Wege von Widerstand gab. Caetano, Gil, Gal Costa und Maria Bethania leisteten mit ihrer künstlerischen Konzeption der Diktatur Widerstand. Sie verließen sehr früh Brasilien und produzierten weiterhin brasilianische Musik von hoher Qualität. Unsere Situation war schwieriger, weil wir in Brasilien blieben und die Diktatur am eigenen Leibe erlitten. Wir haben eine eigene Vorstellung von Philosophie, Kunst, Kultur und Widerstand; dem Widerstand der Jugendlichen, die in den 70er Jahren Brasilien nicht verlassen haben und die afrikanische und karibische Kultur mit dem antirassistischen Kampf verbanden.
Was sagt Ihr zu dem Vorwurf, Eure neueste LP sei zu kommerziell geworden?
Olodum ist eine populäre Gruppe, die für alle verständlich sein soll. Die Musik, die wir jetzt machen, ist zugänglicher als früher. Vorher sprachen wir von Dingen, die ohne genauere Kenntnisse schwierig zu verstehen waren. Z.B. spielen wir ein Stück über die Pharaonen. Heute sagt Olodum etwas über die Welt aus, in der wir uns befinden, wo vieles zum Leben fehlt und die Politiker betrügen. Jetzt ist es direkter. Wir machen Musik, die von mir, dir und dem politischen Alltag handelt. Wir benutzen mehr portugiesisch, während wir früher in afrikanischen Sprachen, wie Yorubá (Benin, Nigeria) sangen, die nicht jeder verstand. So sehr wir auch politisieren möchten, haben wir die Aufgabe, Menschen zu sein. Wir möchten in einer menschlichen Welt leben anstatt in einer illusionären Welt aus Luft, die nur über politische Fragen redet. Wir haben viele Lieder über das Ende der Apartheid und über die Befreiung Nelson Mandelas gemacht. Jetzt wurde Nelson Mandela befreit und es gab Präsidentschaftswahlen. Was sollen wir machen, nicht mehr über die Armut in Südafrika reden? Olodum hat den künstlerischen Weg einer langsamen, schrittweisen Revolution eingeschlagen. Z.B. sind das Klavier und das Saxophon nicht Eigentum der Weißen, der Gelben oder der Schwarzen. Es sind Instrumente, die sich vor langer Zeit entwickelten. Jedes Volk kann sie benutzen und Musik mit ihnen machen. Eine 15 Jahre alte Gruppe ist zu jung, um in einem Bereich der künstlerischen und menschlichen Erfahrung gefangen zu bleiben. Wir müssen mit allem experimentieren: Schallplatten, Computer, Video, Aufnahmegerät. Wenn wir ein Konzert auf dem Mond geben könnten, würden wir es tun.
Welches sind Eure Ziele als Teil der Schwarzenbewegung?
Olodum ist wahrscheinlich das spektakulärste Element der brasilianischen Schwarzenbewegung. Seit 1695, dem Ende des Quilombo de Palmares, gab es keine Organisation mit solcher Energie zum Kampf und dessen Verbreitung. Als wir 1979 anfingen, gab es keine Organisation, die die Erfahrungen des Candomblé und der Capoeira zusammenfasste. Olodum führt zusammen mit dem Movimento Negro Unificado, der Gewerkschaft und indianischen Gruppen den Kampf gegen die Apartheid und für Bürgerrechte. Hauptziel von Olodum ist, die Anerkennung der Schwarzen durchzusetzen. Wir müssen noch für viele Sachen kämpfen, die Schwarze in anderen Ländern schon haben. Wir haben keine schwarzen Minister, keine schwarzen Generäle, keine schwarzen Ökonomen in Brasilien, Ausnahmen gibt es im Fußball und der Musik. Unser Ziel ist es, in Bereichen wie Handel, Industrie, Universität, Armee, Politik präsent zu sein. Wir benutzen eine neue Form, die Politik, Kultur, Kunst und Erziehung mischt und das schwarze Selbstbewußtsein und den antirassistischen Kampf fördert. Der Zugang zu Olodum ist nicht auf Schwarze beschränkt. Im Gegenteil, wir möchten, daß Nichtschwarze an unseren Aktionen teilnehmen. Wir handeln wie Mandela und der ANC: sie haben ein rassistisches System bekämpft und sich auf die Machtübernahme vorbereitet. Als sie an die Macht gelangten, regierten sie mit allen. Unsere Perspektive ist, an die Macht zu kommen und für alle zu regieren – nicht wie jetzt, wo die Minderheit der Mehrheit befiehlt.
Glaubt Ihr, daß dieser Weg mit Parteien zu gehen ist?
Wir beteiligen uns an keiner Partei. Dies muß ein Wunsch der Gesellschaft sein. Man braucht Parteien und die Zivilgesellschaft, Kirche, Presse, Rechtsanwälte, Architekten, Ingenieure, Arbeiter, um das Land zu verändern. Es muß ein neues soziales Gespräch geben. Die heutigen Parteien, die Olodum fördern, sind linke Parteien, weil wir eine demokratische und progressive Organisation sind. Unsere Priorität liegt bei der PCB, PCdoB, PT und einigen Bereichen der PDT. Diese Parteien haben die gleiche Zielsetzung wie wir. Auch progressive Kräfte der Kirche möchten das Elend und die Armut beenden. In Brasilien ist Rassismus durch die Ausbeutung der Frauen, der Armen etc. charakterisiert. Also müssen wir alle Betroffenen zusammenrufen, um etwas dagegen zu tun.
Letztes Jahr hat Cristina Maria Santos Rodrigues (Präsidentin von Olodum 1983-1989) eine Kampagne gegen den Sextourismus initiiert.
Vor zwei Jahren gründete Cristina eine Frauengruppe zur Verteidigung der Rechte der Frauen. Als sie die Möglichkeit hatten, nach Deutschland zu kommen, erfuhren sie vom Frauenhandel mit Brasilianerinnen aus dem Nordosten, die durch fingierte Heiraten nach Europa kommen. Salvador und Recife sind die am stärksten betroffenen Städte, was die sexuelle Ausbeutung betrifft. Es wird versucht, auf Fälle aufmerksam zu machen. Die Frauen haben es geschafft, die brasilianischen Frauen und Männer aufzurütteln, indem sie das Seminar Mae, Mulher e Maria initiiert haben. Es ist öffentlich für Frauen und Männer und Gäste von verschiedenen Orten und wird einmal im Jahr im Casa do Olodum veranstaltet.
Früher war der Pelourinho/Maciel der Platz, wo die schwarzen SklavInnen ausgepeitscht wurden. Ihr habt Euch diesen Platz zurückerobert. Heute gibt es das Problem der Sanierung vieler Häuser. Wie sieht der Kampf der AnwohnerInnen aus, um in ihren Häusern zu bleiben?
Joel: Der Sanierungsplan der Regierung wurde ausgeführt: 80% des historischen Zentrums wurden bereits in vier Etappen saniert. Jetzt beginnt die fünfte Etappe in San Antônio, Pascoal. Pelourinho, Maciel, Terreiro de Jesus, Praça da Zé wurden schon restauriert. Die ehemaligen Anwohner mußten in Vororte umziehen. Sie benutzten die Entschädigungen, um ein Stück Land in der Peripherie zu kaufen, aber viele bekamen zu wenig Geld ausgezahlt.
Die Sanierung des historischen Zentrums war in Wirklichkeit ein Plan des Gouverneurs von Bahia, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Nach der Sanierung ist er als Kandidat aufgestellt worden. Eigentlich ist es ein wichtiges Projekt gewesen, die historischen Häuser zu restaurieren, aber in das historische Zentrum ist der Kommerz eingezogen. Die Bewohner sind vertrieben worden. Wir haben es nicht geschafft, gegen ein so starkes System anzukommen; nur einige kulturelle Treffpunkte, wie die Bar do Reggae, konnten erhalten werden. Die Finanzierung reichte nicht zur Beendigung der Sanierung aus. Es gibt noch immer viele Häuser, wo nur die Fassaden stehen. Die Straßenhändler sind jetzt marginalisiert und haben keinen Standort mehr, weil sich die bahianische Bourgeoisie in der Altstadt breitgemacht hat.
Welche Funktion hat die Escola Criativa do Olodum?
Joao Jorge: Die Escola Criativa do Olodum ist eines der wichtigsten sozialen Projekte von Olodum. Letztes Jahr wurde ein altes Haus für die Schule im Pelourinho gekauft und mit der Sanierung begonnen. Heute wird sie von 350 Kindern zwischen 6 und 16 besucht. Verschiedene Kurse wie Percussion, Tanz, Portugiesisch, Geschichte sowie Gesundheitsvorsorge werden angeboten. Es wird eine “interethnische” Pädagogik benutzt, die von dem Bahianer Mauro Almeida entwickelt wurde und indianische, schwarze und europäische Erfahrungen mischt, ohne sie zu bewerten. Die Escola Criativa ist auch Partner des Projektes Axé. Die musikalische Ausbildung schloß die Kinder von der Straße zusammen, die keine Straßenkinder sind. Wir nehmen alle Kinder, wir geben allen die gleiche Behandlung, egal ob sie auf der Straße leben oder Familie haben. Im Moment befindet sich die Kinderband, die Banda Mirim, in Port Bouin, Südfrankreich zu einem internationalen Austausch mit französischen Jugendlichen, wo sie Französisch, Informatik und Videotechnik lernen. Danach werden die französischen Jugendlichen nach Bahia fahren, um Percussion zu lernen.
Ihr habt jetzt einen Verlag gegründet, das erste Buch ist im Frühjahr erschienen. Was sind die Themen für die nächsten Bücher?
Die nächsten Bücher werden für und über Kinder sein, z.B. ein Candomblé-Buch für Kinder, ein Buch über die Geschichte der Schule von Olodum und das politische und ideologische Engagement. Die Idee ist, Publikationen über afrobrasilianische Themen rauszugeben: Freiheit und Demokratie.
Vor einiger Zeit wollte die ganze Welt, daß es keine Mauer gibt. Viele wollten, daß der Kampf zwischen Palästinensern und Juden aufhört, wie auch die Apartheid. Aber die ganze Welt denkt, daß es in Brasilien Gleichberechtigung gibt. Wir haben viele Gründe zu sagen, daß dies nicht zutrifft und es noch viel zu verändern gibt. Deshalb ist es wichtig, unsere Utopien und Träume ausdrücken zu können, damit die Menschen nicht nur sagen: dort gibt es Strände, Getränke, schöne Menschen und Karneval. Diese Sachen haben einen hohen Preis und wir sind die Opfer davon. Zwei unserer Mitglieder wurden von der bahianischen Militärpolizei angeschossen. Einem anderen wurde der Arm von der Militärpolizei gebrochen. Heute hat sich das Verhältnis zur Polizei durch die politische Macht von Olodum verändert. Doch nicht alle Brasilianer haben die Möglichkeit, frei und ohne Bedrohungen zu reden. Wir müssen trotz Ängsten weiterkämpfen, bis wir unsere Ziele erreicht haben.