Film | Nummer 296 - Februar 1999

Pfeifend durch die Schlaglöcher

Das 20. “Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films“ in Havanna

Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, das Großereignis jedes Jahr auf die Beine zu stellen, ist das “Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films” das wichtigste auf dem Kontinent. Kein anderer Ort bildet ein solches Panorama des südamerikanischen Kinos wie Havanna. Der Wettbewerbssieger des Festivals, der kubanische Film “Das Leben ist Pfeifen”, ist übrigens ab 10. Februar auch auf der Berlinale zu sehen.

Bettina Bremme

Es geht ein Phänomen um in Havanna. In den Patios der Altstadt und im Foyer des Nationaltheaters. In den Schlangen vor den Lebensmittelläden und auf den Rücksitzen der Taxis. An der Strandpromenade, dem Malecón. Da, wo Liebespaare wie die Vögel auf der Stange sitzen und sich von niemandem stören lassen, sinken plötzlich Leute in Ohnmacht, wenn bestimmte Reizworte an ihr Ohr dringen: Zum Beispiel „Freiheit“. Oder „Doppelmoral“. Der Altenpflegerin Julia wird immer beim Wort „Sex“ schwindelig. Der Ballettänzerin Mariana, die sonst die Männer mit den Augen auszieht, verschlägt eine unverhoffte Begegnung den Atem. Und Euripidio, der bisher immer nur von einem Tag auf den anderen gelebt hat, fällt plötzlich die große Liebe fast buchstäblich auf den Kopf: eine stoppelhaarige Gringa in einem Heißluftballon. Genauso schnell, wie sie gekommen ist, ist sie allerdings auch wieder entschwunden.
In Fernando Perez’ „La Vida es silbar“ („Das Leben ist Pfeifen“) – dem kubanischen Wettbewerbsbeitrag auf dem Festival des Neuen lateinamerikanischen Films in Havanna – sind sie kaum zu trennen: die Sehnsucht nach der Wahrheit und die Panik davor, die Suche nach dem Glück und die Furcht davor. Frei nach dem John-Lennon-Zitat: „Das Leben geht vorbei, während du damit beschäftigt bist, andere Dinge zu erledigen“ laufen und taumeln die Hauptfiguren durch Havanna. Wenn sie glauben, unmittelbar vor dem Ziel zu sein, ist das Objekt der Begierde gerade schon wieder um die nächste Ecke gebogen. Auch Perez’ („Madagascar“) vor Symbolen übersprudelnde Bildsprache entzieht sich immer in letzter Sekunde simplen Deutungszugriffen. Das gilt auch für die politische Metaphorik, die – trotz zahlloser Anspielungen und Seitenhiebe auf die Situation in Kuba – immer wieder die Kurve ins Philosophische kriegt. Die Gedanken sind frei. „Ich möchte, daß man mich pfeifen läßt, wie ich will“, erklärte Perez schlicht und vielsagend auf der Pressekonferenz.
Auf dem Festival, das vom 1. bis 11. Dezember stattfand, wurde „Das Leben ist Pfeifen“ von der internationalen Jury mit Preisen geradezu überhäuft: „Premio Coral“ für den besten Film, die beste Regie und die beste Kamera. So ergab sich bei den Festspielen, die dieses Jahr ihr 20. Jubiläum feierten, eine scheinbar paradoxe Situation: Einerseits liegt die Filmproduktion des Gastgeberlandes seit Jahren, aufgrund der Wirtschaftskrise, fast vollständig am Boden. „Das Leben ist Pfeifen“ war 1998 der einzige abendfüllende Spielfilm, der ohne ausländische Beteiligung entstehen konnte. Gleichzeitig sind sein subversiver Humor und sein Optimismus der beste Beleg für die Vitalität des kubanischen Kinos. „Die Krise des kubanischen Films ist eine ökonomische, keine kreative“, meint der Regisseur Daniel Díaz Torres, der dieses Jahr in der Jury saß, selbstbewußt. Diese mußte sich zwischen 60 langen Spielfilmen entscheiden, darunter auch Werke, die bereits auf anderen Festivals gezeigt worden waren, wie etwa „La Nube“ („Die Wolke“) von Fernando E. Solanas oder „Central do Brasil“ von Walter Salles. Wie bereits in den letzten Jahren waren das argentinische und das brasilianische Kino sehr präsent.
Kein anderer Ort bietet ein solches Panorama des lateinamerikanischen Kinos wie Havanna. „Das Festival wird jedes Jahr größer“, freut sich Díaz Torres. „Und ich würde fast wagen, zu behaupten, daß es weltweit das Festival ist, das am meisten Publikum in die Kinos zieht – zwischen 300.000 und 400.000 Besucher innerhalb von zehn Tagen. Es vermittelt einen Überblick über die verschiedensten Ansätze des Filmschaffens in Lateinamerika. Es gibt allen Tendenzen Raum.“ In der Bandbreite liegt die Stärke, aber auch in der Unübersichtlichkeit des Festivals. Hinzu kommt, daß das Programm stets nur von einem Tag auf den anderen bekannt gegeben wird. Das Pendeln zwischen den über die ganze Stadt verstreuten Kinos gleicht einer Hindernisrallye. Das Festival hat einen anstrengenden, unberechenbaren Charme. Aber auch einen unwiderstehlichen. Um das zu spüren, muß man sich bloß auf der Aussichtsterrasse des Festivalzentrums im Hotel Nacional – ein wunderschönes Art-Deco-Gebäude – niederlassen und mit dem Blick ins Meer eintauchen. Oder sich den Festivaltrailer anschauen, eine anarchische Mischung aus grellem Comic und Slapstick-Revue in Schwarz-Weiß. Da tanzt eine Frau in Irrsinnstempo und mit wechselnden Maskeraden auf der Kaimauer des Malecón. Um sie herum flirren bizarre bunte Zeichen, die mit Filzstiften frei Hand coloriert sind. Bei jeder Kopie des Trailers hat sich die Phantasie auf eine etwas andere Art ausgetobt.

Sag es niemandem weiter

Auffallend war die Fülle von Festivalbeiträgen über das Erwachsenwerden und die Suche nach Identität – angefangen bei mystischen Epen in der Tradition des magischen Realismus – wie „Un embrujo“ („Eine Verzauberung“) von Carlos Carrera aus Mexiko – bis hin zu Low-Budget-Filmen mit viel Improvisation und sperriger, semidokumentarischer Optik. In Alejandro Agrestis „El viento se llevó lo que“ („Der Wind nahm mit, was…“), der den zweiten Preis erhielt, haut eine zwanzigjährige Taxifahrerin aus Buenos Aires Richtung Patagonien ab. Sie strandet in einem eigenartigen Kaff, dessen einzige Verbindung zur Außenwelt das Kino ist. Schnell avanciert die Fremde zur Starreporterin der selbstgedrehten Wochenschau. Agrestis Erzählweise ist so verspielt und sprunghaft wie der Charakter seiner Protagonistin.
In dem argentinischen Film „Plaza de Almas“ („Platz der Seelen“) von Fernando Díaz ist ein junger Maler verzweifelt bemüht, der schwangeren Freundin und dem einsamen Großvater einen Ruhepol zu bieten. Dabei verliert er fast sich selbst aus den Augen. Psychodelische Sprühgemälde und eine Schauspielerin, die mit fiebrigem Ernst Hamlets Monolog vom „Sein oder Nichtsein“ rezitiert – in „Plaza de Almas“ ist der einzige Ausweg die Kreativität.
Dagegen scheint die junge Schauspielerin in „Lena’s Dreams“ mit ihrer Kunst am Ende zu sein. Nach Jahren des Durchwurstelns und Klinkenputzens steht die New Yorkerin kubanischer Abstammung immer noch vor demselben Dilemma. Für die Parts von Hausmädchen und anderen Klischee-Latinas erscheint sie vielen Filmproduzenten zu „upper class“ und „nicht ethnisch genug“, für die interessanten Hauptrollen wiederum „zu ethnisch“. Die US-amerikanische Produktion „Lena’s Dreams“ war einer von mehreren Filmen, die sich mit der Identität junger Hispanos in den Vereinigten Staaten auseinandersetzen.
Ein peruanischer Film avancierte – sicher allein schon wegen des auch auf Kuba immer noch sehr umstrittenen Themas Homosexualität – zum Lieblingsstreifen des Festivalpublikums:“No se lo digas a nadie“ („Sag es niemandem weiter“) von Francisco Lombardi. Darin versucht ein junger Peruaner, seine Leidenschaft für Männer zu unterdrücken und ein „normales Leben“ zu führen. Tatsächlich gelingt es ihm zwischendurch sogar, sich in eine Frau zu verlieben. Was „das Problem“ natürlich nicht löst…. Der Film beginnt zwar etwas klischeehaft – in dem blutleeren Ambiente der Oberschicht Limas – entwickelt sich dann aber immer mehr zu einem lebendigen, unorthodoxen Gruppenbild – mit vielen latenten Schwulen und der einen oder anderen Anstandsdame.
Im Gegensatz zu all diesen Filmen, die das Thema Erwachsenwerden und Identitätssuche variieren, wirkt die Protagonistin des kolumbianischen Films „La Vendedora de Rosas“ („Die Rosenverkäuferin“) von Víctor Gaviria so desperat, als sei sie nie Kind gewesen: Die dreizehnjährige Mónica und ihre Freunde dröhnen sich pausenlos mit Klebstoff zu, um ihr Leben auf der Straße zu ertragen. In der Nacht vor Weihnachten steigert sich ihre innere Rastlosigkeit immer mehr. Der kolumbianische Film, der den dritten Festivalpreis erhielt, strahlt eine fiebrige Energie und Wahrhaftigkeit aus, neben der manch andere Darstellung von Straßenkindern als Sozialarbeiterromantik verblaßt.
Mit einem Kapitel politischer Gewalt beschäftigt sich der peruanische Film „Coraje“ („Courage“) von Alberto Durant. Er erinnert an María Elena Moyano, Anführerin einer Frauenorganisation in Villa El Salvador, einem Armenviertel von Lima. Moyano war 1992 vom „Leuchtenden Pfad“ ermordet worden, weil sie sich geweigert hatte, zu kooperieren. Durants María Elena ist keine statuarische Kämpferin, sondern eine impulsive und lebenslustige Frau, deren größte Stärke – ihre an Sturheit grenzende Beharrlichkeit – gleichzeitig ihre Achillesferse ist. Die Schwachstelle des Films ist, daß er sich so sehr auf die Hauptperson konzentriert, daß alle anderen Gestalten und die politischen Hintergründe kulissenhaft und schematisch wirken.

Politik im Lebensalltag

Die Verbrechen der Diktaturen und die Gewaltverhältnisse, die unter dem Deckmäntelchen offizieller Demokratie weiter existieren, sind nach wie vor ein wichtiges Filmthema. Einige der Festivalbeiträge kreisen um die Suche nach der historischen Wahrheit. Auch hier ist auffällig, wie oft die Identitätssuche der jungen Generation zum Ausgangspunkt genommen wird. In „La Cruz del Sur“ („Das Kreuz des Südens“) reist ein Mann, der in den USA aufgewachsen ist, nach Chile, um das Erbe des Vaters, den er nie kennengelernt hat, anzutreten. Nichtsahnend tappt er in ein politisches Tretminenfeld. Die venezolanische Produktion „Antes de morir“ („Vor dem Sterben“) spielt in einem nicht näher definierten südamerikanischen Land, das unschwer als Argentinien zu identifizieren ist. Ein junger Polizist, dessen Familie während der Diktatur ermordet wurde, sieht sich mit der Rückkehr des Mörders, eines CIA-Agenten konfrontiert. „Man muß vergessen, um zu überleben“ – die Liste der Ausflüchte, die ihm auch in seiner Polizeieinheit entgegenschlagen, ist lang. Spuren verwischen und „Archive verbrennen“ – der zynische Ausdruck für die Beseitigung von Zeugen – in diesem Thriller ist nur die Generation der Kinder – der Nachkommen der Opfer und der Täter – bereit, der Vergangenheit ins Auge zu sehen.
„Amaneció de golpe“: „Mit einem Schlag aufwachen“ oder „Durch einen Putsch aufwachen“ – der Titel des venezolanischen Films über den gescheiterten Militärputsch von Hugo Chávez vor sieben Jahren läßt mehrere Übersetzungen und Lesarten zu. Absurde, grausame, tragikomische short cuts einer Nacht, die Venezuelas Selbstbild von der stabilen Demokratie erschütterte. Der streckenweise brilliante Film von Carlos Azpurúa zeichnet die politischen Eliten als so dekadent und schmierig, daß es schon erstaunt, daß er teilweise mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde. Die jüngste politische Entwicklung zeigt, daß die Realität oft die filmerische Wirklichkeit übertrifft: Am 6. Dezember wurde ausgerechnet Hugo Chávez zum neuen Präsidenten Venezuelas gewählt.
Filme wie „Mit einem Schlag aufwachen“ und „Das Leben ist Pfeifen“ leben von Schnappschüssen und Momentaufnahmen, vom ständigen Wechsel der subjektiven Blickwinkel. Sie wühlen sich durch die Schlaglöcher eines Lebensalltags voller Absurditäten und Unberechenbarkeiten. Ein Motiv ist nach wie vor zentral: Die Suche. Nur hat sich das Verhältnis zum Objekt verschoben. Im Gegensatz zu den Filmen aus der kämpferischen Phase des Neuen Lateinamerikanischen Kinos fehlt eine wegweisende politische Perspektive, ein philosophisches Gerüst, eine gültige Antwort. Das erweckt manchmal den Eindruck von Verlorenheit. Gleichzeitig schimmert eine Lust an der Uneindeutigkeit und dem Facettenreichtum des Lebens durch. So meint Fernando Pérez: „Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.“ Das Politische findet sich im Privaten. Also überall.

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