Chile | Nummer 310 - April 2000

„Pinochet vor Gericht!“

Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität ist beantragt

“Juicio a Pinochet”, „Pinochet vor Gericht“, mit diesem Ruf begrüßte die Menge den neuen chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos bei diversen Veranstaltungen zu seinem Amtsantritt im März. Sein Amtsvorgänger Eduardo Frei hatte gerade noch rechtzeitig sein Versprechen einlösen können, während seiner Amtszeit den Ex-Diktator in die Heimat zurückzubringen und die „chilenische Souveränität“ wiederherzustellen. Dass Augusto Pinochet jedoch wegen der unter seiner 17jährigen Herrschaft begangenen Verbrechen jemals einem Richter gegenüberstehen oder gar eine Strafe antreten wird, daran glaubt in Chile momentan kaum jemand – obwohl laut Umfragen 57 Prozent der Bevölkerung ein Verfahren gegen Pinochet gut heißen würde. Aber sollten die medizinischen Gutachten bei dem 84jährigen eine Altersdemenz diagnostizieren, könnte dieser gar nicht erst vor Gericht gestellt werden.

Sandra Grüninger

Noch während Pinochet im Flugzeug saß, wurde beim zuständigen Richter Juan Guzmán die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität beantragt. Erst damit würde Pinochet, der am 11. März 1998 quasi übergangslos vom Oberbefehlshaber der Streitkräfte zum Ehrensenator auf Lebenszeit wurde, zum Normalbürger, der sich auch vor Gericht verantworten muss. Doch das wird noch dauern, denn das Gericht wird frühestens im Juni über die Immunität entscheiden.
Inzwischen hat Guzmán medizinische Gutachten zur physischen und psychischen Gesundheit des Generals angefordert. Schon die Ärzte in London hatten Pinochet unter anderem geistige Unfähigkeit attestiert (mentalmente incapacitado). Trotz seiner vitalen und stockschwingenden Ankunft in Chile heißt es aus Pinochet-Kreisen, er habe Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und wirke gelegentlich abwesend. Beste Voraussetzungen, den alten Mann als nicht mehr zurechnungs- und prozessfähig zu erklären. Ungewiss ist, wann die Verteidigung diese Karte ausspielen wird. Während die Pinochet-Anhänger “ihren General” so bald wie möglich für die Gerichte unantastbar wissen möchten, wird es der Regierung Lagos schwerfallen, der Welt zu zeigen, dass in Chile eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverbrechen stattfindet, wenn Pinochet nicht einmal die Immunität aberkannt wird.

24 Richter entscheiden über die Immunität

Über die Immunität werden die 24 Richter der Corte de Apelaciones in einfacher Mehrheit abstimmen. Diese Richter sind auch Aspiranten für die höchsten Richterposten am Obersten Gerichtshof, für die sie vom Präsidenten ernannt und von einer Zweidrittel-Mehrheit im Senat bestätigt werden müssen. Bei aller richterlicher Unabhängigkeit gewinnt die Entscheidung über Pinochets Rechtsstatus hierdurch eine politische Dimension und verlangt geschicktes Manövrieren in der Karriereplanung, denn im Senat sind die Rechtskonservativen und das Mitte-Links-Regierungsbündnis fast gleich stark vertreten; qualifizierte Mehrheiten können nur durch koalitionsübergreifende Absprachen erreicht werden.
Augusto Pinochet war der erste, der in Chile dank der von ihm geschaffenen Verfassung als Ex-Präsident in den Genuss der Ehrensenatoren-Würde kam. Zwei Jahre später folgte ihm nun, am 21. März 2000, Eduardo Frei. Außen vor blieb bei dieser Regelung Patricio Aylwin, der erste Präsident nach dem Ende der Diktatur, der für eine Übergangszeit von nur vier anstatt sechs Jahren regierte. Um diese Ungleichheit etwas wett zu machen, beschloss das Abgeordnetenhaus im vergangenen Jahr eine Verfassungsänderung, nach der alle ehemaligen Präsidenten die Immunität über ihre Amtsperiode hinaus behalten und zudem eine lebenslange Abgeordnetendiät beziehen. Diese Verfassungsänderung muss nun am 25. März – mitten in der Debatte zu Pinochets Immunität – noch einmal im Senat ratifiziert werden. Das hat bereits zur ersten Spaltung der Abgeordneten der Regierungskoalition geführt. Denn was eigentlich dem Christdemokraten Aylwin nutzen sollte, könnte sich nun als Rettungsanker für Pinochet erweisen. Als ehemaliger Präsident hätte er Immunität auf Lebenszeit, auch nach einem Ausscheiden aus dem Senat. Was den Spielraum für einen von der Rechtsaußenpartei UDI geforderten “würdigen Rückzug” Pinochets aus dem politischen Leben erweitern würde. Die Sozialisten und die Partei für die Demokratie (PPD) haben deshalb angekündigt, gegen die Verfassungsreform zu stimmen, während die Mehrheit der Christdemokraten Aylwin die Stange halten und vermutlich auch die Rechtskonservativen der Verfassungsänderung zustimmen werden. Allerdings hat deren Partei der „Nationalen Erneuerung“ (RN) ihren Abgeordneten parteiunabhängiges Abstimmen zugestanden, so dass schwer zu sagen ist, wie die Auszählung ausgehen wird.

Eine der Klagen: die Todeskarawane

Von diesem Ergebnis und der daraus folgenden rechtlichen Garantie für Pinochet als ehemaligen Präsidenten wird dann auch die weitere Strategie der Pinochet-Anwälte abhängen. Die Juristen, die zu den besten Chiles zählen, werden sich mit den 76 Klagen auseinandersetzen müssen, die inzwischen in Chile gegen den einstigen Capitán General vorliegen. Dabei geht es unter anderem um die Caravana de la Muerte. Die so genannte Todeskarawane, eine landesweite „Säuberungsaktion“, bei der 1973, kurz nach dem Militärputsch, unter der Leitung des Generals Arellano Stark über 70 Gewerkschafter und Funktionäre linker Parteien exekutiert wurden. Stark handelte im Auftrag des Oberbefehlshabers Pinochet. Im Fall “Pisagua” geht es um ein Massengrab in der Wüste im Norden Chiles, in dem Anfang der 90er Jahre Dutzende von Leichen von Verschwundenen gefunden wurden. Vom Wüstenklima konserviert, wiesen die Körper noch Folterspuren auf, selbst Augenbinden und Fesseln waren noch erhalten.
Diese Verbrechen werden in Chile heute nicht mehr bestritten. Das Problem ist jedoch, die Verantwortlichen auszumachen, denn alle Beteiligten schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Da es sich allerdings bei der Caravana de la Muerte um so viele Exekutionen in kurzer Zeit handelt, so argumentieren die Kläger, müsse eine offizielle Anweisung des damaligen Staatsoberhauptes Pinochet vorgelegen haben.
Diese Verbrechen fallen in die Zeit der Amnestie, die die Junta für die Jahre 1973 bis 1978 verordnete. Allerdings gilt nach jüngsten Interpretationen das Verschwindenlassen, so lange der Körper nicht auftaucht, als „unbeendetes“ Verbrechen, das noch andauert und deshalb nicht unter die Amnestie fällt.
Konkreter und – nach Angaben aus Pinochet nahestehenden Kreisen – kritischer könnten für den ehemaligen Diktator die Verfahren im Zusammenhang mit zwei anderen Fällen werden: der Ermordung des Gewerkschafters Tucapel Jiménez im Jahr 1982 und der Operación Albania, bei der 1987 der Geheimdienst CNI fünfzehn Widerstandskämpfer in einer konzertierten Aktion erschoss. Beide Verbrechen wurden also nach 1978 begangen und fallen damit nicht unter das Amnestiegesetz. Nachdem der Fall „Tucapel Jiménez“ 17 Jahre lang von der Justiz untersucht worden war, ohne dass irgendetwas geschehen wäre, wurde er 1998 auf öffentlichen Druck hin einem anderen Richter, Sergio Muñoz, übergeben. Dieser machte in Rekordgeschwindigkeit nicht nur Verdächtige aus und ließ diese festnehmen, sondern er war auch der erste chilenische Richter , der Pinochet in England verhören ließ.
Auch wenn seit der Verurteilung des ehemaligen Geheimdienstchefs Manuel Contreras und des Brigadiers Pedro Espinoza wegen der Ermordung von Allendes Außenminister Orlando Letelier in Washington noch keine weiteren Militärs verurteilt wurden, so werden doch immer mehr Militärangehörige zu Zeugenaussagen vor Gericht zitiert oder in Untersuchungshaft genommen. Etwas, was die Streitkräfte zunehmend beunruhigt. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Pinochets Nachfolger Ricardo Izurieta, zeigte sich “besorgt über die Aggressivität einiger Kommentare über das Heer”.
Die Pinochet einst treu ergebene UDI forderte im Gespräch mit Präsident Lagos, die seit zehn Jahren andauernde Übergangsphase zur Demokratie, die so genannte transición endgültig zu beenden und Pinochet einen “würdigen Rückzug” zu ermöglichen. Was im Klartext heißt, einen Schlusspunkt hinter die Diktatur zu setzen und alte Geschichten nicht wieder aufzuwärmen. Die UDI verfolgt damit weiterhin die Linie des gegen Lagos knapp unterlegenen rechten Präsidentschaftskandidaten Joaquín Lavín, die Vergangenheit und Pinochet nicht zu verleugnen, sie aber hinter sich zu lassen und „gemeinsam nach vorne zu blicken“, anstatt immer neue Konflikte um die Person Pinochets auszutragen.
In diesem Sinne unterstützte die Rechte auch den Dialog am mesa de diálogo, des unter Eduardo Frei eingerichteten Runden Tisches, über die Menschenrechtsverletzungen in Chile, an dem VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen, der Regierung und des Militärs teilnahmen. Ziel war es, die Wahrheit über die Menschenrechtsverbrechen und über den Verbleib der seit über 25 Jahren Verschwundenen herauszufinden. Fast hätte Eduardo Frei auch hier noch einen glorreichen Schlusspunkt hinter seine Amtszeit setzen können. Die gemeinsame Erklärung war Anfang März schon aufgesetzt, doch wenige Tage vor dem offiziellen Unterzeichnungstermin wurde Pinochet plötzlich mit Marschmusik und militärischen Ehren empfangen. Für die Menschenrechtsvertreter ein Schlag ins Gesicht, die sich hierauf von der Erklärung distanzierten, da die konkreten Tatsachen der militärischen Unterstützung für Pinochet offensichtlich mehr Gewicht hatten als die versöhnlichen Worte am Dialogtisch. Auf Seiten der Opfer der Diktatur waren diese “Verhandlungen” von Anfang an zwiespältig aufgenommen worden und beispielsweise von der Organisation der Angehörigen der Verhaftet-Verschwundenen nie anerkannt worden, da ihr Ziel die Herbeiführung von Wahrheit und Gerechtigkeit sei: Und diese Werte ließen sich nicht verhandeln.
Ricardo Lagos wird diesen Dialog über Menschenrechte auch unter seiner Regierung weiterführen und hat gleichzeitig im Zeichen des Dialogs Runde Tische mit Gewerkschaftern und Unternehmern, sowie mit den Mapuche eingerichtet. Pinochet ist für ihn seit seiner Rückkehr nach Chile ein rein juristisches Problem, für das Richter Guzmán zuständig ist. Dieser hat unlängst die Exhumierung der Massengräber auf dem Zentralfriedhof in Concepción, im Süden Chiles, angeordnet. Dort wurden einige Leichen mit Gewaltspuren wie Einschusslöcher, gebrochene Knochen und Schädel gefunden, die vermutlich von Verschwundenen stammen. Auch auf dem Zentralfriedhof in Santiago wurden in den letzten Jahren die anonymen Gräber aus den 70er Jahren geöffnet und darin während der Diktatur verhaftete Männer und Frauen gefunden, so dass sich nach und nach einige der symbolisch leeren Grabnischen neben dem Mahnmal für die Opfer der Diktatur auf dem Zentralfriedhof füllen. Auf Hinweise von Seiten der Militärs, wo weitere seit Jahrzehnten verschwundene Verhaftete verscharrt worden sind, warten deren Angehörige allerdings auch zehn Jahre nach Ende der Diktatur weiterhin vergebens.

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