Bolivien | Nummer 346 - April 2003

Präsidiabel wider Willen

Evo Morales sucht seine Rolle in der bolivianischen Politik

Als Führer der Cocabauern und Cocabäuerinnen in der Provinz Chapare wurde Evo Morales bekannt. Sein Überraschungswahlerfolg 2002 machte ihn zum parlamentarischen Oppositionsführer und potentiellen Präsidenten. Gleichzeitig versucht Morales, mit Fundamentalkritik am System seine Führungsrolle in den sozialen Bewegungen des Landes zu festigen: ein politischer Spagat, der ihn seine Glaubwürdigkeit kosten könnte.

Ulrich Goedeking

Als am 12. und 13. Februar in La Paz Schüsse fielen, als
Frustration und Unzufriedenheit sich in einem kurzen, spontanen Ausbruch von Ausschreitungen und Plünderungen entluden, war Evo Morales genauso überrascht wie die Regierung Sánchez de Lozada. Die Polizei, deren Protest gegen eine geplante Lohn- und Einkommensteuer zum Ausgangspunkt der Unruhen wurde, gehört nicht zu den traditionellen Verbündeten des Oppositionsführers. Es blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als – wie auch viele andere – auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Einen Anknüpfungspunkt zu finden, war nicht schwer. Der Schuldige war schnell ausgemacht: der IWF und seine vermeintlichen Lakaien in der bolivianischen Regierung. Mit dem dröhnenden Protest gegen IWF und Neoliberalismus war Morales wieder auf vertrautem Terrain: Evo, die Stimme der Volksbewegung gegen Ausbeutung und Fremdbestimmung.
Noch im Juli 2002 hatte sich Evo Morales in einer anderen Rolle wiedergefunden. Mit seiner Partei „Bewegung zum Sozialismus“ (Movimiento al Socialismo) MAS war der Führer der Cocabauern der wichtigsten Cocaanbauprovinz Chapare im Norden Cochabambas zur Präsidentschaftswahl am 30. Juni angetreten. Für ihn ging es darum, ein Zeichen zu setzen. Schon bei der letzten Wahl hatte er mit großem Vorsprung den Wahlkreis Chapare gewonnen. Anfang 2002 hatten ihn die anderen Parteien in einer konzertierten Aktion aus dem Parlament geworfen. Begründung: Angeblich sollte Evo Morales für Ausschreitungen mit mehreren Toten in Cochabamba verantwortlich sein. So wäre schon eine sichere Rückkehr ins Parlament für ihn zur Bestätigung geworden. Aber es kam anders.
Mit hauchdünnem Vorsprung vor dem Wahlfavoriten Manfred Reyes Villa landete Evo Morales auf dem zweiten Platz. Und plötzlich war er der einzige, der nach der bolivianischen Verfassung dem Wahlsieger Gonzalo Sánchez de Lozada das Präsidentenamt streitig machen durfte. Evo Presidente?
Der Schreck war groß, bei vielen seiner WählerInnen, die eine Proteststimme hatten abgeben wollen, ohne mit einem solchen Erfolg zu rechnen, und auch bei Evo Morales selbst. Dies wurde nach der Wahl deutlich, zu lange brauchte der Kandidat für die Entscheidung, ob er nun in jedem Fall Opposition betreiben wollte oder grundsätzlich für das Präsidentenamt zur Verfügung stehen würde. Sánchez de Lozadas MNR und der MIR von Ex-Präsident Jaime Paz Zamora nahmen ihm die Entscheidung ab und bildeten eine Koalition ohne Morales.

Evo Morales, der Cocabauern-Gewerkschaftler

Über viele Jahre schien Morales auf das Thema Coca festgelegt zu sein. Als Anführer der organisierten Cocabauern des Chapare stand er im Mittelpunkt eines unter den gegebenen Machtverhältnissen fast unlösbaren Konfliktes. Jede gewählte bolivianische Regierung der letzten Jahrzehnte stand und steht unter immensem Druck der US-Antidrogenpolitik. Deren Linie ist eindeutig. Es gilt, gegen die Cocabauern vorzugehen und deren Pflanzungen zu vernichten, wenn nötig, mit Gewalt. Diese, organisiert in ihrer Gewerkschaft, wehrten sich immer, wenn nötig, ebenfalls mit Gewalt. Wenn die Ausschreitungen im Chapare eskalierten, dann folgte in aller Regel wieder eine Phase der Verhandlungen zwischen Regierung und Cocabauern, die allerdings nie zu tragfähigen Ergebnissen führen konnten. Über Jahre hinweg schlug das Pendel zwischen Verhandlungen und Gewalt mal in die eine, mal in die andere Richtung aus.
Viele Cocabauern sind protesterfahren. Es handelt sich nicht um traditionell im Chapare ansässige Migranten, sondern um Indigenas. Nicht wenige kamen nach 1985 aus den Minengebieten. Damals, als im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Politik die großen, staatlichen Minen geschlossen wurden, trieb die Suche nach Arbeit viele ehemalige mineros entweder in die Städte oder eben in den Cocaanbau. Aus den Minen brachten sie jahrzehntelange Erfahrung gewerkschaftlicher Organisation und des Kampfes gegen Diktaturen mit. Zwar sind sie indigener Abstammung, verstehen sich selber aber in erster Linie als Proletarier, nicht als Indígenas. Evo Morales war so Gewerkschaftsführer, nicht Spitzenvertreter explizit ethnisch begründeter Forderungen.
Als Interessenvertreter der Cocabauern befindet sich Morales in einem Dilemma. Interesse der Cocabauern ist es, ihre Einkommensquelle zu sichern. Kaum ein Zweifel besteht daran, dass die Coca des Chapare zum größten Teil in der Kokainproduktion landet. Gerne spricht Evo Morales von der Legalisierung der Coca und all den nützlichen Produkten vom Tee bis zu Medikamenten, die aus Coca hergestellt und exportiert werden könnten. Nur ist kaum vorstellbar, dass im Fall der Legalisierung die Teefirma ebenso gut für Cocablätter bezahlen würde wie die ZwischenhändlerInnen, die das wertvolle Blatt letzten Endes in die Kokainproduktion befördern.

Evo Morales, der Indígenaführer

Unausgesprochen fordern die Cocabauern im Kern das Recht, die Coca weiter an den zu verkaufen, der am besten zahlt, ohne danach zu fragen, was er mit den Blättern macht. Evo Morales kann nicht vorgeworfen werden, er sei persönlich mit dem Kokainhandel verbandelt, diese Anschuldigung geht ins Leere. Trotzdem aber liegt hier ein Problem von Morales Rolle als Cocabauernführer, das für den Oppositionspolitiker Morales mit Machtanspruch zur Achillesferse wird.
Seit den späten 90er Jahren protestieren die organisierten Bauern mehr und mehr gegen die Regierungen in La Paz. Ihren Dachverband, die CSUTCB (Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia), weist zwar die Bezeichnung „gewerkschaftliche Konföderation bäuerlicher ArbeiterInnen“ als Gewerkschaft aus, allerdings haben in den 80ern und 90ern ethnisch begründete Forderungen in der CSUTCB immer größeres Gewicht bekommen. Die CSUTCB wurde zur Bühne erbitterter Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ambitionierten BauernführerInnen um die Vorherrschaft in der nationalen Bauernbewegung. Einer von ihnen war Evo Morales.
Sein schärfster Konkurrent war und ist Felipe Quispe, genannt „El Mallku“. Der Aymara Quispe hat seine Basis um den Titicacasee in der Nähe von La Paz. Sein politischer Diskurs war immer deutlich „ethnischer“ geprägt als der von Morales. Gerne spielt er mit der Drohung, die Weißen aus dem Land zu werfen, und verweist auf eine idealisierte indigene Vergangenheit untergegangener Reiche. Bei so manchem Weißen in La Paz löst er damit Horrorvorstellungen von vermeintlich unkultivierten indianischen Horden aus, die über die Stadt herfallen könnten. Auch Quispe sitzt inzwischen im Parlament, allerdings nach einem Wahlergebnis von insgesamt sechs Prozent mit einer deutlich kleineren Fraktion als Evo Morales.
Wenn es bei Evo Morales um ethnisch-kulturelle Argumente ging, stand im Wesentlichen immer das Thema Coca im Vordergrund; die Jahrhunderte alte Tradition des Cocaanbaus, der traditionelle Konsum und die kulturelle Bedeutung als heilige Pflanze. Sachlich völlig richtig betonte der oberste Cocabauer immer wieder diese Punkte, nur dass dieser Diskurs angesichts dessen, dass ökonomisch die Nachfrage aus dem Kokainsektor viel wichtiger ist, immer ein wenig aufgesetzt wirkte. Im Kampf um die Führungsrolle in der nationalen Bauernbewegung mussten nun die ethnisch-kulturellen Elemente im politischen Diskurs des Aymara Quispe Evo Morales notwendigerweise deutlicher werden, der Gewerkschaftsführer Morales wurde in seiner Außendarstellung mehr und mehr auch zum Indígenaführer Morales.

Evo Morales, der parlamentarische Oppositionsführer

Zu diesen beiden Rollen kommt seit Mitte 2002 die des Oppositionsführers, und auch diese hat Evo Morales schon mit unterschiedlichen Akzenten ausgefüllt. Morales als Parlamentarier mit eigenen Gesetzesinitiativen und Morales als fundamentaler Kritiker des herrschenden Systems— in der kurzen, seitdem vergangenen Zeit hat Bolivien schon beides erlebt. Gegenwärtig dominiert die Fundamentalopposition. Und so nutzte er die Unruhen vom 12./13. Februar einmal mehr, um sich als Systemkritiker zu profilieren. Anfang 2003 hat Morales zusammen mit gewerkschaftlichen Organisationen und verschiedenen Interessengruppen den „Generalstab des Volkes“, den Estado Mayor del Pueblo, aus der Taufe gehoben, ein weiterer Versuch, der erhofften Führungsrolle in den sozialen Bewegungen einen organisatorischen Rahmen zu geben.
Auch den Weltpolitiker Evo Morales gibt es inzwischen. Solidaritätsadressen gehen in Richtung Hugo Chávez nach Venezuela, und nicht ungeschickt knüpft er an die Sehnsucht vieler globalisierungskritisch Engagierter in der Welt nach Identifikationsfiguren, nach „guten“ AkteurInnen und politischen AnführerInnen an. Egal wie viele unterschiedliche Interessen, Rivalitäten, persönliche Eitelkeiten und Machtgier es im eigenen Lager gibt – nach außen gilt es, das Bild vom Kampf des organisierten Volkes gegen die Herrschenden und den Neoliberalismus zu vermitteln. Und als Speerspitze der Bewegung steht Evo Morales gerne im Rampenlicht.

Evo Morales, der Staatspräsident?

Schneller als gedacht könnte Evo Morales gezwungen sein, sich wieder mit der Rolle des Realpolitikers auseinander zu setzen. Er selbst kündigte nach den Februarunruhen den baldigen Sturz der Regierung Sánchez de Lozada an. Zwar scheint der Präsident wieder leidlich sicher im Sattel zu sitzen, aber noch ist nicht absehbar, in welcher Form und in welchem Ausmaß gewalttätige Proteste wieder aufflammen könnten. Ob Morales tatsächlich den Präsidentensessel im Blick hat? Er müsste mit dem Problem des Haushaltsdefizits ebenso fertig werden wie gegenwärtig Sánchez de Lozada, er müsste sich fragen, ob er wirklich einen dramatischen Bruch mit den USA, mit dem IWF und den internationalen Kreditgebern mit allen absehbaren Folgen riskieren will. Und ein Präsident Morales müsste zwangsläufig Entscheidungen treffen, die in krassem Gegensatz zu seinen heutigen Maximal-Forderungen von heute stehen und ihn viele Sympathien kosten würden.
Evo Morales verkörpert die Ablehnung eines Teils der bolivianischen Gesellschaft zur lähmenden Stagnation der bolivianischen Politik, zur Sackgasse des neoliberalen Modells, das Bolivien in 17 Jahren eben nicht die versprochene wirtschaftliche Dynamik gebracht hat. Diese Position braucht eine politische Stimme, und sie braucht auch Spitzenpersönlichkeiten, die sie nach außen vertreten können. Aber Morales ist weit davon entfernt, so wie Brasiliens neuer Präsident Lula aus einer gewerkschaftlichen Tradition heraus, mit deutlichem Akzent auf sozialen Fragen und mit Unterstützung von sozialen Bewegungen ein regierungstaugliches, mehrheitsfähiges Projekt zu formulieren.
Die kommenden Jahre werden in Brasilien zeigen, ob mit der Regierung Lula der politische Mainstream Lateinamerikas ein sozialeres Gesicht bekommt, ob tatsächlich der etwa in Chile gepflegte Marktfetischismus vom „Modell“ zur politischen Extremposition wird. Ob dies gelingt, ist noch lange nicht ausgemacht. Sicher scheint, dass vom Schicksal der Regierung Lula im mächtigen Brasilien viel für die lateinamerikanische Linke abhängt. Sollte Lula als Präsident erfolgreich sein, könnte dies linker Politik auch in wirtschaftlich und politisch so schwachen Staaten wie Bolivien Spielräume öffnen. Mit einem starken Nachbarn im Rücken würde es sich leichter regieren.
Aber Evo Morales wird sich, wenn er wirklich die Option auf die politische Macht aufrecht erhalten will, erst einmal um Mehrheitsfähigkeit bemühen müssen. Eine Spekulation sei gewagt: Wenn es in Bolivien tatsächlich im Zuge neuer vehementer Proteste zu einer Staatskrise kommen sollte, falls die Regierung Sánchez de Lozada wirklich stürzt, dann könnte Evo Morales bei Neuwahlen eher Stimmen verlieren als gewinnen. Er würde nicht mehr als Underdog antreten, dem man ohne Sorgen eine Proteststimme gibt, sondern jeder Wähler und jede Wählerin würde sich fragen: „Will ich eine Regierung Morales?“. In den Wahlen der vergangenen Jahrzehnte haben die BolivianerInnen im Zweifelsfall immer pragmatisch gegen unkalkulierbare Experimente gestimmt, ein Wahlverhalten, das nicht zuletzt auch die von vielen mit Entsetzen zur Kenntnis genommene Präsidentschaft des früheren Diktators Hugo Banzer ab 1997 möglich gemacht hat. Ohnehin würde Evo Morales Koalitionspartner brauchen, denn das bolivianische Wahlrecht sieht, ähnlich wie in Deutschland, nur einen Wahlgang vor – ohne absolute Mehrheit müssen im Parlament Koalitionen geschmiedet werden.
Vielleicht ist es Bolivien zu wünschen, dass Evo Morales noch einige Zeit in der Opposition verbleibt, um seine Rolle neu zu definieren. Er hätte Gelegenheit, bislang radikal formulierte politische Positionen in eine regierungstaugliche Form zu gießen, ohne dabei deren Substanz aufzugeben und die Glaubwürdigkeit bei seinen WählerInnen zu verspielen. Vielleicht kann er so der Versuchung widerstehen, so wie Hugo Chávez in Venezuela die Gesellschaft radikal zu polarisieren. Und vielleicht ist Morales selbst gar nicht so unglücklich darüber, vorerst nicht Präsident sein zu müssen.

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