REGIERUNG DROHT MIT AUSNAHMEZUSTAND
Mit der Ankunft der Corona-Pandemie wittern rechte Hardliner neue Chancen für die weitere Militarisierung des Landes
Straßen dicht Sicherheitskräfte kontrollieren die generelle Ausganssperre (Foto: privat)
„Die Hausaufgaben kommen über die WhatsApp-Gruppe der Mamas, heute waren es Satzkonstruktionen“, erklärt Daniela Orellana. Die alleinerziehende Mutter bekommt jetzt die Schulaufgaben ihrer zehnjährigen Tochter via Messenger auf ihr Handy. Die Regierung hat am 12. März alle Schulen in Bolivien schließen lassen. „Wegen Corona“, sagt die 30-Jährige und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seit 22. März sind nicht nur die Schulen und Universitäten dicht, sondern es herrscht generell eine Ausgangssperre. Nur zum Einkaufen und wenn es unbedingt notwendig ist, darf man das Haus verlassen.
Für Daniela Orellana ist es nicht nur deswegen eine schwierige Situation, weil sie nun ihre Tochter im Haus hat. Mit ihrer Schwester und ihrer Mutter betreibt sie einen kleinen Laden. „Momentan kaufen die Leute fast nichts mehr, nur noch Brot“, meint sie, „auch ansonsten ist es gerade schwer, wegen der Ausgangssperre Geld zu verdienen.“ Wie ihr geht es vielen: Geschätzt über 60 Prozent der Bolivianer*innen verdienen ihre Brötchen im informellen Sektor, auf Märkten, im Taxi oder als Minibusfahrer.
Wie leergefegt Straßenzug in La Paz (Foto: privat)
Die Ausgangssperre stößt nicht nur auf Verständnis. In den Randbezirken von El Alto kam es bereits zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und aufgebrachten Marktbesucher*innen. Auch in Bolivien ist das Coronavirus inzwischen Thema Nr. 1, auch wenn die Fallzahlen noch relativ gering sind. Alle wissen, dass sich das schnell ändern kann, Vertrauen in das Gesundheitssystem gibt es kaum, und selbst die De-Facto-Präsidentin Jeanine Añez empfahl ihren Landsleuten zu beten.
Mit dem Militär gegen die Uneinsichtigen
Innenminister Murillo kommt die Pandemie zupass. Das Thema Ausnahmezustand hatte der Hardliner im Kabinett von Añez auch schon vor der Corona-Krise immer wieder ins Spiel gebracht. Die Konflikte, die es seit dem Sturz von Präsident Evo Morales im November 2019 gibt, würde er am liebsten – so scheint es – mit dem Militär lösen. Bisher konnte er sich damit innerhalb der Regierung nur teilweise durchsetzen, mit Corona scheint er eine neue Chance zu wittern.
„Bleib zu Hause” Banner in La Paz (Foto: privat)
Murillo wird zusammen mit dem Verteidigungsminister Fernando López für das Massaker im November vergangenen Jahres in Senkata verantwortlich gemacht. Damals starben im Kugelhagel mindestens zehn Menschen, als Polizei und Militär aus dem blockierten El Alto Benzin aus einem Treibstofflager in Senkata für den benachbarten Regierungssitz La Paz abtransportieren wollten.
Die Regierung versucht das Massaker in Senkata aus der Welt zu schaffen
Fast überall mussten sie die Rechnungen sofort begleichen. Beweise, wie Arztbriefe über die Art der Verletzung oder die Projektile wurden ihnen nicht ausgehändigt. „Viele haben sich deswegen erst gar nicht behandeln lassen“, meint die Unterstützerin. Auch andere berichten von Drohungen. „Es gibt Verletzte, die damals einfach dort vorbeigegangen sind und angeschossen wurden. Als sie ins Krankenhaus gingen, um sich behandeln zu lassen, sagte man ihnen sie seien Terroristen, sie hätten das Treibstofflager in die Luft sprengen wollen“.
Inzwischen hat sich die Situation etwas verändert. Mithilfe von Anwälten und der „Permanenten Versammlung für die Menschenrechte” aus El Alto konnte zumindest erreicht werden, dass sie die Behandlungskosten erstattet bekommen. Die De-Facto-Regierung versucht das Massaker aus der Welt zu schaffen. Dabei droht sie, nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, auf der einen Seite denjenigen, die öffentlich über das Massaker reden, mit Verhaftung und versucht auf der anderen Seite, die Familien der Opfer mit Geldangeboten zu locken. Jüngst hat sie das Entschädigungsangebot an die Familien von 50.000 auf 100.000 Bs (13.500 Euro) erhöht. „Das führt zu Streit, denn es gibt Familien, die das Angebot annehmen wollen, andere sagen, dass sich das Leben ihrer Angehörigen nicht durch Geld aufwiegen lässt“, sagt Daniela Orellana. Die Regierung verlangt als Gegenleistung, dass die Angehörigen nicht vor Gericht ziehen.
Murillo und sein Ministerkollege López behaupten immer noch, dass die Sicherheitskräfte keinen Schuss abgefeuert haben. Einer parlamentarischen Befragung haben sie sich bisher verweigert. Die plurinationale Versammlung hat daraufhin Verteidigungsminister López das Misstrauen ausgesprochen, was laut Verfassung dazu führt, dass er entlassen werden muss. Das hat De-Facto-Präsidentin Añez auch getan, ihn aber am selben Tag erneut zum Verteidigungsminister ernannt.
„Ein unglaublicher Rechtsruck und eine Militarisierung der Politik“
LGBT-Aktivist César Antezana „Die Ereignisse im November haben die Büchse der Pandora geöffnet“ (Foto: privat)
Antezana sieht die MAS ambivalent: „Auf der einen Seite ist es richtig, dass die MAS-Regierung bis heute für einen laizistischen Staat und für die Pluralität Boliviens steht und damit auch für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender, auf der anderen Seite hat die MAS bereits 2009 eine konservative Wende gemacht.“ Im Rahmen der Verfassungsgebenden Versammlung gab es damals zu Beginn auch Beschlüsse, die Homo-Ehe zuzulassen, eine weitreichende Autonomie für Indígenas in der Verfassung zu verankern und den Landbesitz zu beschränken. „In der Verfassunggebenden Versammlung in Oruro waren die Beschlüsse noch da, später bei der Versammlung in Sucre, fehlte beispielsweise die Homoehe.“
„Die MAS ist mitverantwortlich“
Viele solidarisierten sich mit den indigenen Bewohner*innen des TIPNIS, auch die städtische Mittelschicht. Es kam zu einem Marsch auf La Paz und die Regierung Morales musste zurückrudern. Ein Teil der jungen städtischen Wählerschicht kehrte hier Morales den Rücken zu, so auch Anthony Pérez. Der junge Ingenieur war zwar nie überzeugter MAS-Anhänger, hatte aber gleichwohl „mal für die MAS gestimmt“, wie er meint. „Jetzt sollte die MAS auf gar keinen Fall mehr an die Macht kommen“, meint Pérez. „Sie war zu lange an der Regierung und wurde am Ende zu korrupt.“
Deswegen, so der junge Ingenieur, sei ein Regierungswechsel notwendig. Es waren Leute wie Anthony Pérez, die im Oktober auf die Straße gingen und den Rücktritt von Morales forderten und letztlich den Ausgangspunkt für den vom Militär erzwungenen Rücktritt von Morales bildeten. Zwar ist er mit der jetzigen Regierung auch nicht einverstanden, „aber sie ist immer noch besser als die MAS an der Regierung.“
Es kann gut sein, dass die jetzige Regierung noch eine Weile an der Macht bleibt. Aufgrund der Corona-Virus Krise wurde der Wahltermin am 3. Mai verschoben. Noch ist nicht abzusehen, ob und wie schnell sich das Covid-19-Virus im Land verbreitet. Bislang sind die bestätigten Fallzahlen noch sehr gering.