Nummer 379 - Januar 2006 | Subkulturen

Schrei aus dem Untergrund

Rock marginal in Lima 1983-2000

Peru kehrte 1980 nach einer Militärdiktatur formal zur Demokratie zurück, während gleichzeitig der maoistische Leuchtende Pfad (sendero luminoso) seinen „Volkskrieg“ gegen den Staat begann. Doch es kam nicht zu dem erhofften demokratischen Übergang. Das autoritäre System und Gewalt blieben während der zwei folgenden Dekaden Teil des täglichen Lebens.
Die Diktatur hatte den Rock wegen seiner Fremdartigkeit abgelehnt. Es war eine dunkle Epoche für die Rockmusik. In diesen Jahren war der peruanische Rock eine treue Kopie des englischsprachigen Rocks. Zu Beginn der 80er Jahre beeinflusste der argentinische Rock den peruanischen dahingehend, dass dieser schließlich auf Spanisch gesungen wurde.
In diesem Kontext tauchte eine weitere musikalische Ausdrucksform auf: der rock subterráneo, der Untergrund-Rock. Im Unterschied zu allem bis dahin Existierenden war er musikalisch eine Neuschöpfung. Er drückte die Frustration angesichts der Mittelmäßigkeit der erhofften Demokratie aus, und er lehnte gleichermaßen die Gewalt und das autoritäre System des Staates wie das des Leuchtenden Pfades ab.

Ricardo Ramírez Castañeda

Der rock subterráneo war der Ausdruck einer Jugend, die nicht ins kapitalistische System passen wollte. Jugendliche mit politischen Ideen, die sich aus der Linken und dem Anarchismus nährten, und deren kritischer Blick den von der Konsumgesellschaft produzierten Problemen galt.
Demgegenüber stand der kommerzielle Rock, den die subterráneos als oberflächlich verachteten, weil er mit seinen tanzbaren Rhythmen und einfachen Texten in ihren Augen eine Gleichgültigkeit ausdrückte und die Probleme des Landes banalisierte.

Die Geburt

Der rock subterráneo trat im August 1983 mit dem Debüt der Band Leuzemia ans Licht. So begann, was in kurzer Zeit eine bedeutende Jugendbewegung wurde. Im deutlichen Unterschied zum angelsächsischen „Underground” war der rock subterráneo nicht kommerziell und negierte die konventionelle Ästhetik. Es war die Musik der nicht angepassten rockenden Jugend, eine Gegenströmung zu allen anderen peruanischen Rockern: die spanische Sprache, die lärmende Musik und die Thematisierung von Alltagsproblemen in den Liedern. All dies machte ihn zur Schöpfung und authentischen Ausdrucksform eines Teils der urbanen Jugend.
Diese Untergrund-MusikerInnen hatten meist keine musikalische Ausbildung. Gemeinsam war ihnen eine kritische Einstellung gegenüber der Gesellschaft. Sie lebten in einer Situation geprägt von sozialer Marginalisierung und Ausgeschlossenheit, von Enttäuschung und Pessimismus gegenüber der Zukunft. Jugendliche, die nicht an die Versprechungen der Demokratie und die „Güte” des Kapitalismus glaubten.
Vielleicht wegen seiner Ästhetik der Gewalt hatte der rock subterráneo nur wenige weibliche Interpreten. In den ersten Jahren gab es lediglich Maria T-ta mit ihrer Gruppe Empujón Brutal, die in ihren Liedern die feinen Damen der Gesellschaft ironisch betrachteten und den Missbrauch der Hausangestellten kritisierten.
Die AnhängerInnen der Bewegung identifizierten sich mit den subterráneos, da sie dort den Ausdruck für ihre Frustrationen und ihre Ablehnung der Gesellschaft fanden, die sie ausschloss. Mehrheitlich waren es Jugendliche aus der Unterschicht und der verarmten Mittelklasse.
Nach Leuzemia kamen weitere Bands: Narcosis, Autopsia, Zcuela Crrada und Guerrilla urbana. Letztere änderte 1986 ihren Namen in Ataque Frontal, um nicht in Verbindung mit dem Leuchtenden Pfad gebracht zu werden.
Diese Musik fand sich nicht in Plattenläden oder im Radio. In jenen Jahren machte man die Aufnahmen in kleinen einfachen Studios, manchmal bei den Musikern zu Hause. Die Masterbänder wurden dann in Doppelkassettenrekordern vervielfältigt. Die Hüllen der Kassetten wurden gemalt, die Texte per Hand geschrieben und im Anschluss fotokopiert.
Ein weiteres starkes Ausdrucksmittel des rock subterráneo waren die „Fanzines“, Musikzeitschriften, in denen über alles mögliche geschrieben wurde. Sie waren eine Kollage getippter Texte, Zeichnungen und Fotografien.
Die Konzerte wurden von den Bands selbstverwaltet an den unterschiedlichsten Orten organisiert: Diskotheken, Bars, Stadien, Universitäten.
Im Februar 1985 realisierte man das Straßenkonzert „Rock en Río Rímac” an dem die InitiatorInnen der Bewegung teilnahmen: Leuzemia, Narcosis, Guerrilla Urbana und Zcuela Crrada, zusammen mit anderen Gruppen unterschiedlicher Stilrichtungen.
Das Konzert endete im Kugelhagel der Polizei, während Narcosis das Lied „Sucio policía” sang.
Im Jahr 1985 gab das bedeutendste peruanische Label eine Schallplatte von Leuzemia mit dem Titel „1985” heraus. Es war die einzige Schallplatte rock subterráneo und eine der meist verkauften des Jahres, obwohl sie nirgendwo beworben wurde. Nach diesem „Erfolg” löste sich die Gruppe am Jahresende auf. Sie folgten dem Weg der anderen Gründergruppen. Die Bewegung verlor so ihre Köpfe, die zu Vorbildern für ihre NachfolgerInnen wurden.

Die Radikalisierung

Im Jahr 1987 konsolidierte sich die zweite Bandgeneration: Eutanasia, Flema, Q.E.P.D. Carreño, Sarita Colonia y los Desgraciados, Excomulgados, Sociedad de Mierda, Voz Propia, Eructo Maldonado, Psicosis, Kaos und G-3. Diese Gruppen generierten aus unterschiedlichen Genres (Punkrock, Hardcore und Dark) einen politischeren Diskurs. Ihre soziale Kritik war einfach und wütend, mit hohem anarchistischem Einfluss, jedoch ohne schlüssige Ideologie.
Die Radikalisierung des Diskurses spaltete die Bewegung in verschiedene Strömungen. Stil übergreifende Konzerte fanden nicht mehr statt. Intoleranz machte sich in der Bewegung breit, die als etwas sehr offenes, pluralistisches und tolerantes gegenüber jeder Form von Gegenkultur begonnen hatte. Schließlich setzte man den subterráneo mit dem Punk und dem Punkrock gleich. Alle anderen Ausdrucksformen, wie der reichhaltige andine Fusion-Rock, wurden „ausgeschlossen”.
Außerdem manifestierte sich die Radikalisierung in Klassenunterschieden, besonders innerhalb der Strömungen des Punk und des Hardcore. „Misiopunk” stand gegen den „Pitupunk” („arme Punks“ und „reiche Punks”).
Erstere stammten aus den einfachen Stadtvierteln mit indigener und Mestizenbevölkerung. Gruppen wie Eutanasia hatten billige Instrumente, aber Lieder voll Bedeutung. Die anderen waren Jugendliche aus der Mittelklasse, Weiße, ausgebildet in privaten Schulen, mit Geld und verfeinertem Stil, wie die Hardcore Gruppe G-3.
Von diesem Radikalismus versuchte der Leuchtende Pfad zu profitieren, der den Rock zwar als ausländisch, imperialistisch und kleinbürgerlich ablehnte, aber dennoch versuchte, die unzufriedenen Jugendlichen in seine Reihe zu ziehen. Innerhalb der Bewegung kursierten kommunistische Ideen. Der gewalttätige Diskurs der Bewegung war der Antiterrorpolizei verdächtig. Daher fing sie an, die Bewegung zu überwachen. Einige subterráneos wurden verhaftet und die Konzerte wurden manchmal von der Polizei aufgelöst, wenn die Lieder das System mit subversiver Gewalt ablehnten.

Die dritte Generation

Die Spaltung und interne Isolierung der verschiedenen Ausdrucksformen der subterráneos führte zu ihrer Schwächung. Viele der Anhänger verließen die Bewegung, da sie nicht den Freiraum fanden, der anfangs vorhanden war. Andere trennten sich ob der politischen Radikalisierung. Die Angst vor gewaltsamer staatlicher Repression war Teil des täglichen Lebens. Die Straße und jedwede Ausdrucksform oder öffentliche Aktivität konnten gefährlich sein.
Mit der Verschärfung der ökonomischen Krise in den 80er Jahren wurde es schwieriger, Bänder zu produzieren und Konzerte zu organisieren. Die Bewegung war nur noch ein Schatten ihrer selbst und schien zum Verschwinden verurteilt. Nur wenige Bands blieben aktiv.
In den Jahren 1993 und 1994 erschienen neue Gruppen wie Pateando Tu Kara, Autonomía, Dictadura de Conciencia, Irreverentes, Desastre social, Perú no existe. 1995 kam es zur Wiedervereinigung von Leuzemia. Die Bewegung tauchte kraftvoll wieder auf, bei jedem Konzert spielten neue Gruppen.
Es waren die Jahre der Diktatur von Alberto Fujimori. Die öffentlichen Universitäten waren besetzt durch das Militär, die öffentliche Meinung manipuliert. Der Staat verletzte die Menschenrechte und war korrupt. Der musikalische Diskurs war nun besser ausgearbeitet, mit mehr politischen Elementen des Anarchismus, kritisch und gleichzeitig mit eigenen Konzepten.
Die direkten Attacken einiger Gruppen gegen die Regierung und die Beteiligung an kulturellen Protestveranstaltungen wurden üblich. So zielte El asesino de la ilusion (Der Mörder der Illusion) auf Fujimoris autoritäre Herrschaft ab (s. unten).

Der Ausgleich

Der rock subterráneo entwickelte sich als ein Ausdruck von Gegenkultur, als eine Antwort gegen das System, gegen die etablierte Ordnung: der liberalen Demokratie und des Kapitalismus. Er drückte eine rohe und realistische Weltsicht aus und war im Grunde sehr pessimistisch gegenüber der Zukunft.
Gegenwärtig ist der rock subterráneo in der jugendlichen Populärkultur präsent, er behält seine marginale Stellung und seine Antihaltung bei. Heute verfügt er über mehr Entwicklungsmöglichkeiten: Unabhängige Plattenlabel veröffentlichen die Musik neuer Gruppen und die Platten der alten. Es gibt mehr Zeitschriften und „Fanzines“, der rock subterráneo wird in TV-Programmen und Radios gespielt. Das Publikum hat sich ebenfalls erweitert. Es sind nicht mehr nur die marginalisierten Jugendlichen. Es gibt mittlerweile mehr weibliche Fans und Gruppen. Musik und Diskurs sind viel weiter ausgearbeitet und verfeinert, die Themen sind jedoch weniger kritisch.
Als Gegenkultur wollte der subterráneo revolutionär sein, er gab vor, die Gesellschaft verändern zu wollen. Dies war zumindest in den 80ern und 90ern klar. Es bleibt zu fragen, ob er noch immer revolutionär sein will? Wird nicht das gleiche geschehen wie mit der Hippiekultur und Elementen des Punk, die als Modeerscheinung durch den Kapitalismus kommerzialisiert wurden?

Texte:
In „Sucia Gente Gaga” äußerten sich Eutanasia über die pitucos

veo pasar por las calles
miles de niñitos engreídos
que caminan y no te miran
solo hablan tonterías bah!
en sus casas no hacen nada
son adorno de vanidad
de familias orgullosas
mierda de alta clase social

Durch die Straßen sehe ich
Tausende verwöhnte Kinder ziehen
Gehen und schauen dich nicht an
Sie reden nur dummes Zeug, pah!
Zu Hause machen sie gar nichts
Sind Schmuckstücke der Eitelkeit
Stolzer Familien
Scheiße der sozialen Oberschicht

Text 2:

sucio policía verde,
actúas por conveniencia
sucio policía verde,
defiendes la decadencia

el honor no es tu divisa
tu divisa es la corrupción
abusas de tu autoridad
porque en la otra mano
llevas la pistola

Schmutziger grüner Polizist,
Du handelst aus Zweckmäßigkeit
Schmutziger grüner Polizist,
du verteidigst die Dekadenz

Ehre ist nicht deine Devise
Deine Devise ist die Korruption
Du missbrauchst deine Autorität,
Denn in der anderen Hand trägst du die Pistole

Das Motto der peruanischen Polizei ist „Ehre ist deine Devise”

„Klaustrophobie” von Pateando Tu Kara:

despierta mayoría, claustrofobia!
la propiedad privada, claustrofobia!
es un objetivo, claustrofobia!
que podemos destruir, fobia!
la autonomía y la autogestión
son nuestras vías
en pos de una liberación
proclamamos otra organización

Wach auf Mehrheit, Klaustrophobie!
Der private Besitz, Klaustrophobie!
Ist ein Ziel, Klaustrophobie!
Das wir zerstören können, Phobie!
Autonomie und Selbstverwaltung
Sind unsere Wege
Gegen eine Liberalisierung
Proklamieren wir eine andere
Organisation

„El asesino de la ilusión” von Leuzemia

las tardes de muertos
eclipsan el bar
y los deudos callaran
su rabia y todo es por ti
pagando las noches
de fusilamiento
gente desaparecerá…
¿en donde mierda están?
so pretexto de vida
so pretexto de paz
so pretexto de amar
so pretexto de luchar
mentiras nada más!

Die Nachmittage der Toten
verfinstern die Bar
Und die Verwandtschaft verschweigt
ihre Wut und alles ist wegen dir
Die Nächte der Erschießungen bezahlen
Leute werden verschwinden…
In welcher Scheiße stecken sie?
Unter dem Vorwand des Lebens Unter dem Vorwand des Friedens
Unter dem Vorwand der Liebe
Unter dem Vorwand des Kampfes
Nichts als Lüge!

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