Schweigezonen
Interview mit den mexikanischen Journalisten Emiliano Ruiz Parra und Humberto Padgett León
Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist_innen weltweit. Inwieweit beeinflusst diese Situation Ihre Arbeit?
Emiliano Ruiz Parra: Viele Kollegen publizieren weit weniger, als sie wissen – nicht nur aus Angst ermordet zu werden. Gregorio (Jímenez, im Februar 2014 in Veracruz ermordet; Anm. d. Red.) zum Beispiel hat pro veröffentlichter Nachricht einen Euro verdient. Wenn man von einem Vollzeitjob nicht leben kann, beginnt die Versuchung, andere Angebote anzunehmen – und sich zum Beispiel gegen Bezahlung selbst zu zensieren. Die Eigentümer der Medien arbeiten sehr eng mit den lokalen Gemeindevorstehern zusammen und diese gehören in vielen Fällen dem Organisierten Verbrechen an. Kriminelle Vereinigungen finanzieren politische Kampagnen unter der Bedingung, bestimmte Bereiche der Kommunalpolitik, wie z.B. die Vergabe von Bauaufträgen, zu kontrollieren. Manchmal stellen sie aber auch direkt den Bürgermeisterkandidaten. Es gibt keine klaren Linien, wo das Organisierte Verbrechen aufhört und der mexikanische Staat anfängt. Die Journalisten, vor allem auf lokaler Ebene, befinden sich inmitten dieses verwirrenden Netzes aus Komplizenschaften.
Humberto Padgett León: In einem Fall hat ein Kartell in Michoacán nicht nur die Kandidaten aller Parteien gestellt, sondern auch eigene Medien gegründet. Den Journalisten mit einem monatlichen Einkommen von 100 Euro wurden die neuen Chefpositionen angeboten: „Du kannst die Inhalte auswählen und veröffentlichen, was du willst. Das Einzige, was du für mich tun musst, ist vom Abgeordneten A die Finger zu lassen und immer gegen den Abgeordneten B zu schreiben. Und du verdienst 1.000 Euro im Monat.“
In Zacatecas gibt es den Fall der Zeitung Imagen. Die Chefin der Zeitung erhielt konkrete Drohungen gegen sie und ihre Familie, weil sie bestimmte Artikel nicht veröffentlicht hatte. Es ging um eine Nachricht, laut der ein General der Armee das Sinaloa-Kartell bevorteilen würde. Die Veröffentlichung wurde von den rivalisierenden Zetas mit Morddrohungen eingefordert.
E.R.: Wegen dieser Umstände gibt es „Zonen des Schweigens“. Komplette Teile des Landes, wo man nicht weiß, was passiert.
Welche Landesteile sind das?
E.R.: Für lange Zeit war das Tamaulipas (Bundestaat an der Golfküste; Anm. d. Red.). Inzwischen weiß man, dass es dort Kämpfe gibt, weil sie dermaßen offen stattfinden. Aber zwei bis drei Jahre lang wurde außer vielleicht auf Twitter nichts über die dortigen Geschehnisse veröffentlicht. Viele Journalisten mussten die Region verlassen. Südlich von Tamaulipas, im Norden von Veracruz, wird ebenso wenig berichtet, was passiert. Und während der Aufstände der Bürgerwehren in Michoacán gelangte nichts davon in die Nachrichten – nicht weil es nicht wichtig war, sondern weil über diese Themen nicht geredet wird. Dies sind die drei Regionen, in denen das Schweigen am deutlichsten ist. Aber es gibt noch weitere.
Wie arbeiten Sie angesichts dieser Umstände bei Ihren Medien?
E.R.: In der Zeitschrift Gatopardo fühle ich mich wohl. Ich konnte dort bislang veröffentlichen, was ich wollte. Das einzige Manko ist vielleicht, dass ich freiberuflich arbeite und keine soziale Sicherheit habe. Deshalb muss ich auch für andere Zeitschriften schreiben und deren Aufträge erfüllen. Es gibt keine Zeitungen, in denen man sich in Ruhe auf ein Thema und einen Hintergrundtext konzentrieren kann, ohne sich um seine wirtschaftliche Situation sorgen zu müssen.
H.P.: Sinembargo ist ein digitales Medium. Das befreit uns von den Druckkosten, die den höchsten Anteil an den Produktionskosten eines Printmediums in Mexiko ausmachen. Und wir sparen uns das logistische Problem, eine Zeitung auszuliefern. Wir leben nicht von der Werbung der Regierung. Bis jetzt habe ich noch keine Situation erlebt, in der ich aufgefordert wurde, nicht über einen bestimmten Politiker oder eine Situation zu berichten.
Bei den Medien, für die ich früher gearbeitet habe, war das anders. Bei MX konnte die Regierung generell kritisiert werden, aber niemals direkt Felipe Calderón. Denn die Zeitschrift hat von den Anzeigen der Regierung gelebt. Einmal verweigerte Calderón uns ein Interview. Daraufhin haben wir als Titelfoto sein Gesicht gedruckt, in das wir unsere Fragen geschrieben hatten. Wegen der Vorwürfe des Wahlbetrugs 2006 fragten wir: „Werden Sie rechtmäßiger Präsident?“ Und wegen der Sonderbehandlung von Mitgliedern bestimmter Drogenkartelle: „Wer wird der narco dieser Legislaturperiode?“ Calderón wurde wütend und befahl seinem Pressechef Max Cortázar, die Werbung bei MX einzustellen. Zwei Nummern später konnte die Zeitschrift aus Geldmangel nicht mehr erscheinen. Der Leiter der Zeitschrift bat um ein Treffen mit Cortázar und letztlich bekamen wir wieder Anzeigen, aber Felipe Calderón durfte nicht mehr karikiert oder direkt angegriffen werden.
Die mexikanischen Medien hängen fast alle von der Werbung der Regierung ab, selbst die größten. Kritik an Politikern heißt also Kritik am größten Kunden. Wenn man die Titelseiten von gestern oder auch aus den letzten zehn bis 50 Jahren überprüft, sieht man das: Der Protagonist der Nachrichten ist ein Politiker, der ein Mexiko regiert, das nicht existiert – ein Mexiko, das die Menschen- und Frauenrechte respektiert, das die einkommensschwachen Menschen fördert, das seine Umwelt schützt und gute Bildung gewährleistet.
Herr Padgett, wie recherchieren Sie in Mexiko zu einem so heiklen Thema wie dem Organisierten Verbrechen?
H.P.: Ein Teil meiner Arbeit basiert auf der Analyse von Dokumenten. Seit acht Jahren arbeite ich an einer systematischen Zusammenstellung von gerichtlichen Ermittlungen. Diese Dokumente sind unter Verschluss, aber ich habe verschiedene Quellen gefunden, die mir den Zugang ermöglichen. Es sind Dokumente, die laufende Prozesse gegen Drogenhändler in Mexiko und den USA von 1959 bis 2013 auf allen Ebenen der kriminellen Strukturen beschreiben. Das heißt Prozesse gegen capos („Paten“), Geldwäscher, Importeure und Exporteure, Auftragskiller, Drogenkuriere… Das sind 60.000 Seiten Dokumente, die ich fotografiert habe. Ein anderer Teil meiner Arbeit findet in Drogenkonsum- oder -produktionsregionen statt.
Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um nicht bedroht oder angegriffen zu werden?
H.P.: Ich habe immer über alle Drogenkartelle gleichermaßen geschrieben. Es gibt keins, über dessen Verbindung zur Politik ich nicht geschrieben hätte. Das ist einerseits unter dem Aspekt ausgewogener Information angebracht, aber auch eine Sicherheitsmaßnahme. Denn man sieht, dass ich keine Gruppe bevorteile. Ich habe nie Geld akzeptiert oder etwas publiziert, das mir von einem Politiker zugespielt wurde. Auch das hat eine ethische und eine praktische Dimension.
Wenn ich für Recherchen reise, befolge ich ein Sicherheitsprotokoll. Ich reise grundsätzlich tagsüber und benutze keine auffälligen Autos. Ich gehe nachts nicht mehr aus – inzwischen auch nicht mehr in meiner Heimatstadt. Ich nehme keine Drogen, da mich dies der Gefahr aussetzt, verhaftet zu werden. Und dann könnte man mir einen Fall anhängen. Außerdem kenne ich das Leid, das der Handel mit Marihuana in meinem Land anrichtet.
Ich habe meine Informanten noch nie über das, was ich später über sie schreibe, getäuscht. Mein Wort muss gelten. Nach der Veröffentlichung muss ich meiner Quelle noch ins Gesicht sehen können. Diese Maßnahmen haben mich in eine privilegierte Position gebracht, um über diese Themen zu schreiben. Ich wurde noch nie bedroht.
Herr Padgett, haben Sie über Ihre Beschäftigung mit dem Organisierten Verbrechen Ansätze gefunden, wie dem Problem begegnet werden könnte?
H.P.: Verschiedene. Der größte Fehler ist die Straflosigkeit der Politiker und Beamten, die in das Organisierte Verbrechen verwickelt sind. Zudem wird das Problem sicherheitspolitisch aufgefasst, obwohl es vielmehr um Sozial- und Wirtschaftspolitik gehen sollte. Ein Bauer, der Mais oder Bohnen anpflanzt, ist leicht vom Organisierten Verbrechen zu korrumpieren, wenn der ihm garantierte Abnahmepreis unter den Produktionskosten liegt. Ich kenne Bauern, die Marihuana anpflanzen und sie haben nichts mit dem Stereotyp des mexikanischen Drogenhändlers zu tun. Sie sind keine gewalttätigen Personen, leben nicht in übermäßigem Reichtum und haben keine Gürtel mit Diamanten. Es sind Menschen, die ihren Söhnen eine bessere Bildung oder ihrer Frau professionelle medizinische Versorgung bieten können, weil sie Marihuana anbauen. Sie haben ein jährliches Einkommen von 5.000 bis 7.000 Euro. Sogar aus der mexikanischen Perspektive sollte dies kein Betrag sein, für den sich jemand einem solchen Risiko aussetzt und seine Freiheit, sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzt. Aber wir sind eine extrem ungleiche Gesellschaft und die Ungleichheit ist eine Bedingung, die das Organisierte Verbrechen fördert.
Infokasten
Humberto Padgett León hat Journalismus an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) studiert. Er arbeitet zu Feminiziden, Korruption sowie Organisierter Kriminalität und deren Verbindungen zu Staatsbeamt_innen. Derzeit ist er Redakteur des Internetportals www.sinembargo.mx.
Emiliano Ruiz Parra hat Hispanistik an der UNAM sowie Politische Theorie in London studiert. Als Journalist arbeitet er zu Kirche, Politik und Migration in Mexiko. Als freier Journalist veröffentlicht er regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Gatopardo. In letzter Zeit setzt er sich außerdem als Aktivist für die Pressefreiheit in Mexiko ein.
Emiliano Ruiz Parra und Humberto Padgett León sind die aktuellen Preisträger des Walter-Reuter-Medienpreises. Er wird jährlich von der Deutschen Botschaft in Mexiko in Zusammenarbeit mit weiteren deutschen Institutionen vergeben.