SELFIE AUS DER HÖLLE
Die groteske Dystopie Medusa hält der ultrareligiösen Rechten Brasiliens den Spiegel vor
Religiöse Rächerinnen Jagd auf „Unmoralische“ und Herbeiträllern der Apokalypse (Foto: Anita Rocha da Silva,kinema21/Drop out Cinema)
„Hallo meine Schätze! Heute zeige ich euch, wie man ein perfektes christliches Selfie macht! Ganz wichtig: Das Handy dabei immer gerade halten. Denn von unten, das ist der Blick aus der Hölle – das wollen wir nicht! Und von oben erst recht nicht: Wer sind wir denn, dass wir Gottes Blick nachahmen?!?“ Influencerin Michele (Lara Tremouroux) ist in ihrem Element. „10 Arten, ein Selfie zu Gottes Ehren zu machen“ heißt die aktuelle Videoreihe, die die Teenagerin für ihre zahlreichen gläubigen Follower*innen begeistert filmt und online stellt. Doch Michele (die wohl nicht ganz zufällig so heißt, wie die Frau des kürzlich abgewählten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro) belässt es nicht dabei, ihre bigotten Ansichten in Online-Tutorials zu verbreiten. Nachts zieht sie sich eine Maske auf und wird zur Anführerin einer brutalen Mädchengang, die durch die Straßen patrouilliert. Dort verprügeln die Rächerinnen im Namen Gottes vermeintlich „unzüchtige“ oder „unmoralische“ Teenagerinnen und stellen sie mit Videos öffentlich bloß – ähnlich der Priesterin Medusa im griechischen Mythos. Die brach das Zölibat und wurde deswegen von der Göttin Athene entstellt und aus ihrem Tempel verbannt.
Es ist ein unwirkliches, dystopisches Brasilien, das Regisseurin Anita Rocha da Silveira in Medusa zeigen will und das sich dennoch erschreckend nahe an der Wirklichkeit bewegt. Der Staat befindet sich dort in einer Dauerkrise. Stromausfälle und Überschwemmungen sind an der Tagesordnung. Der Einfluss der religiösen Rechten auf das Privatleben der Menschen ist immens und hat sich mit einem extremen Schönheitskult verquickt, der körperliche Makel als Strafe Gottes brandmarkt. Das wird Micheles Freundin Mariana (Mari Oliveira) zum Verhängnis. Die macht zwar zu Beginn des Films so brav wie begeistert in ihrer Kirchengemeinde und natürlich auch in der prügelnden Straßenclique mit. Ein Schnitt im Gesicht sorgt aber bald dafür, dass sie auf dem Beziehungs- und Heiratsmarkt der streng von den Mädchen getrennten aber nach gleichem Muster aufgebauten Jungengang aller Chancen beraubt wird. Und nicht nur das: Sie verliert deswegen auch ihren prestigeträchtigen Job in einer Schönheitsklinik. In einem Krankenhaus für Komapatient*innen nimmt sie als Pflegerin eine neue, allerdings weniger glamouröse Anstellung an, mit der Absicht, nach der geheimnisvollen Ex-Schauspielerin Melissa zu suchen, die wegen ihres „unzüchtigen“ Lebenswandels öffentlich entstellt wurde und seitdem verschwunden ist.
Die Geschichte von Medusa basiert auf realen Vorkommnissen, die sich in den letzten Jahren in Brasilien ereignet haben. 2015 machte der Fall einer 16-Jährigen Schlagzeilen, die mehrere Gleichaltrige für promiskuitiv hielten. In der Folge schnitten sie ihr die Haare ab und entstellten ihr das Gesicht. Wie Regisseurin Rocha da Silveira bei Recherchen herausfand, blieb dies kein Einzelfall. Vor allem im Umfeld von ultrarechten YouTuberinnen und ihren Followerinnen kam es immer wieder dazu, dass junge Frauen sich zusammenschlossen und Jagd auf „unmoralische“ Geschlechtsgenossinnen machten. In Medusa hat Rocha da Silveira die zwar absurd erscheinende, für ihre Gegner*innen aber brandgefährliche Hyperreligiosität durch knallige Farbgebung verfremdet. Der unterlegte 80er-Jahre-Synthie-Sound, in Mode gekommen durch die Serie Stranger Things, tut ein Übriges dazu. Vieles mag deshalb zu absurd und überzeichnet wirken, um wahr zu sein. So zum Beispiel eine Tanzperformance der Mädchen zu einem schnulzigen Song, in dem die Apokalypse herbeigeträllert wird. Doch wer sich tatsächlich mit Denk- und Verhaltensweisen der ultrareligiösen Rechten in Brasilien und anderswo auseinandersetzt, wird feststellen: Die Gruppe der Mädchen in Medusa ist keinesfalls weit entfernt von den realen Diskursen.
Rocha da Silveira sorgt mit Traumsequenzen, Schockeffekten und Fremdscham-Komik zwar dafür, dass Parallelen zu filmischen Vorbildern wie David Lynch oder dem Horroraltmeister Dario Argento offensichtlich werden. Das wirkt aber oft etwas gewollt und kann außerdem nicht über Schwächen beim Drehbuch hinwegtrösten. Nach starkem Start trägt die recht vorhersehbare und ohne große Konflikte verlaufende Geschichte den Film leider nicht über die vollen zwei Stunden. Das lässt ihn zwischendurch langatmig werden, was nicht hätte sein müssen. Denn einige vielversprechende Handlungsstränge werden nicht konsequent zu Ende geführt oder irgendwann einfach fallen gelassen. Auch hätte den meisten Figuren etwas mehr Kontur und weniger Klischeehaftigkeit gut zu Gesicht gestanden. Zudem mischt Medusa etwas zu viele Genres ineinander. Da sich der Film nicht zwischen Gesellschaftssatire, Horrorfilm und Coming-of-Age-Drama entscheidet und irgendwie ein bisschen von allem sein will, geht irgendwann die Richtung verloren. Punkten kann Medusa dafür beim gelungenen audiovisuellen Konzept: Farbgebung und Atmosphäre sind unkonventionell und sehr stimmig.
Das Hauptproblem von Medusa ist aber tatsächlich, dass die vorgebliche Dystopie in bestimmten sozialen Milieus Brasiliens bereits zur Realität geworden ist. Die Überzeichnung, die an vielen Stellen von der Wirklichkeit eingeholt oder manchmal gar überholt wird, verliert so ihren Biss, läuft sogar Gefahr, in Richtung Trash zu rutschen. Das will der Film bei aller Persiflage aber nicht sein – die zugrunde liegende, sehr reale Problemlage ist dafür zu ernst. Hinter einem berühmten Vorbild wie Margaret Atwoods bereits 1985 veröffentlichten Roman A Handmaid’s Tale (Der Report der Magd, bekannt auch durch die gleichnamige Fernsehserie), der die Vision einer religiös dominierten, frauenverachtenden Gesellschaft bis zum erschreckenden Ende denkt, bleibt Medusa deshalb weit zurück.
All das soll aber nicht bedeuten, dass die unter der Oberfläche gar nicht so christlich-fromme Gemeinschaft im Film geschont wird: Wer auf kräftige Breitseiten gegen religiös-rechte Fanatiker*innen steht, wird in Medusa sicherlich voll auf seine*ihre Kosten kommen. Mit etwas weniger Plakativität hätte der Film aber wohl noch mehr erreichen können. Vielleicht hätte es Medusa deshalb tatsächlich gutgetan, in der Gegenwart zu bleiben. Denn die war in Brasilien in den letzten Jahren schon mehr als ausreichend schockierend und absurd.
Medusa // Anita Rocha da Silveira // Brasilien 2021 // 128 Minuten // Der Film läuft in Deutschland seit dem 1. Dezember 2022 in ausgewählten Kinos