Kolumbien | Nummer 297 - März 1999

Stiller Exodus

Die Flüchtlingszahlen in Kolumbien haben neue Rekordwerte erreicht

Während man sich in Kolumbiens Politikerkreisen eine Friedenspfeife nach der anderen anzündet, wird eine der schwerwiegendsten Folgen des militärischen Konfliktes weitgehend übergangen. Die fast täglichen Massaker der Paramilitärs und die bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Guerilla lösen in den betroffenen Regionen Fluchtbewegungen aus, die die Zahl der Flüchtlinge auf mittlerweile über 1,5 Millionen vergrößert haben. Ganze Landstriche werden so systematisch entvölkert.

Tommy Ramm

Ein seltener Empfang für die Angestellten der US-amerikanischen Botschaft in Bogotá: Dutzende Flüchtlinge aus dem Süden der Provinz Bolívar besetzten im Juli 1998 den Eingang des Geländes, um auf ihre katastrophale Lage aufmerksam zu machen. Kein unpassender Ort, schließlich machten sie nordamerikanische Unternehmen für die Flucht verantwortlich.
Ihr Pech bestand darin, daß sie ihre Häuser auf einem Stück Erde mit großen Goldvorkommen gebaut hatten, an dem nordamerikanische Unternehmen wie Corona Goldfields oder Archangel Interesse zeigten. Zum zweiten Problem wurde für sie, daß sie zu den Minenarbeiterfamilien gehörten, die zu über 85 Prozent gewerkschaftlich organisiert waren. Mit welchen Mitteln diese Gesellschaften um Eigentumsrechte und Konzessionen zu kämpfen gewillt waren, bekam als erstes die Gemeinde Rioviejo zu spüren: Paramilitärische Milizen tauchten auf, köpften einen Minenarbeiter, spielten mit seinem Kopf Fußball und spießten ihn auf mit den Worten: „Wir sind gekommen, um dieses Gebiet von Euch für die Unternehmen zu säubern, damit sie in dieser Bergregion investieren können.“ Das Ziel solcher Aktionen: Die Menschen sollen fliehen, bis nahezu das ganze Gebiet von seinen Bewohnern verlassen ist und neu verteilt werden kann (zum „paramilitärischen Projekt“ siehe auch LN 286).
Seit dem Beginn des „schmutzigen Krieges“ Anfang der achtziger Jahre ist die Zahl der Flüchtlinge im Land hochgeschnellt. Nach Zahlen des Beratungsbüros für Menschenrechte und Flüchtlinge CODHES betrug die Zahl der Flüchtlinge von 1985 bis 1995 knapp eine Million und ist in den letzten drei Jahren auf über 1,5 Millionen angewachsen. Ex-Präsident Samper kann allein in seiner vierjährigen Regierungsperiode (1994-1998) einen Rekord von 730.000 Vertriebenen verbuchen. Nach einer Untersuchung der kolumbianischen Bischofskonferenz sind mehr als 50 Prozent aller Flüchtlinge Minderjährige und knapp 60 Prozent Frauen oder Mädchen. Kolumbien ist nach dem Sudan das Land mit der zweithöchsten Anzahl von Binnenflüchtlingen weltweit.

Zwischen den Fronten

Da die militärischen Konflikte fast ausschließlich auf dem Land ausgetragen werden, ist die dortige Bevölkerung permanentes Opfer von Drohungen, Übergriffen und Massakern. Kleine Orte, die friedlich und nahezu von der Außenwelt abgeschnitten existierten, werden zu politischen Schlachtfeldern. Oft beginnt es ganz harmlos: Irgendwann kommt die Guerilla für einige Tage in einen Ort. Sie hält politische Sitzungen ab, um die Bevölkerung von ihren Zielen zu überzeugen. Die Campesinos verkaufen oder schenken den Besuchern ein Schwein oder eine Kuh zum Schlachten und geben ihnen Unterkunft. Daß niemand die Teilnahme verweigert, dafür sorgt schon die Angst vor Denunziation. Zudem sind die Konsequenzen in diesem Moment noch nicht abzusehen. Haben die Paramilitärs von der Anwesenheit der Guerilla Wind bekommen, besetzen sie einige Tage später ihrerseits den Ort, ermorden zur Vergeltung „subversive“ Bauern oder verüben regelrechte Massaker an der Bevölkerung. Daß die Guerilla ihrerseits nicht zimperlich mit Zivilisten umgeht, läßt sich nicht leugnen. Allerdings agieren die paramilitärischen Milizen, deren enge Kontakte und Zusammenarbeit mit der Armee ein offenes Geheimnis sind, weitaus rigider und brutaler. Sie werden für etwa 80 Prozent der Massaker verantwortlich gemacht, die mittlerweile fast täglich landesweit von ihnen verübt werden. Die Menschen, fast immer einfache Bauern, stehen zwischen den Fronten der agierenden Parteien – also Guerilla, Armee und Paramilitärs – und haben außer Flucht kaum eine Möglichkeit, sich dem Konflikt zu entziehen.
Neben der „politischen Auseinandersetzung“ mit der Guerilla spielen wirtschaftliche Hintergründe eine mindestens ebenso große Rolle bei Vertreibungen, die von Paramilitärs geplant durchgeführt werden. Das betrifft vor allem wirtschaftlich interessante Landesteile, wie den Chocó an der Grenze zu Panama, wo ein interozeanischer Kanal geplant ist und zudem riesige Rohstoffvorkommen vermutet werden, und das Tiefland des mittleren Magdalena in Zentralkolumbien mit seinen Erdöl-, Gold- und Uranressourcen. Beide Regionen gehören zu den Zonen, aus denen am häufigsten militärische Auseinandersetzungen und Massaker an der Zivilbevölkerung gemeldet werden.

Keine Existenzberechtigung

Inzwischen sind riesige Flüchtlingslager entstanden, die an afrikanische Verhältnisse erinnern. Dort hoffen die Menschen auf Hilfe oder Zusagen seitens der Regierung, daß sie wieder in ihre Heimatorte zurückkehren können. Solche Garantien werden immer wieder gegeben, sind aber völlig unrealistisch. Bauern aus der Ortschaft Coco Tiquiso/Bolívar bekamen das schmerzlich zu spüren: Eine Woche nach ihrer Rückkehr wurden drei von ihnen umgebracht und 20 Häuser niedergebrannt. Dieser paramilitärische Überfall löste in dieser Region eine neuerliche Flucht der Bevölkerung aus.
Aufgrund solcher Aussichten ist nicht einmal jeder zehnte von den Flüchtlingen bereit, in seine Heimatgemeinde zurückzukehren. Sie sind gezwungen, sich eine neue Existenz aufzubauen. Die größte Anziehungskraft strahlen deshalb die Metropolen aus, wo die Entwurzelten bessere und sicherere Bedingungen erwarten. Größtes Auffangbecken ist die Hauptstadt Bogotá und ihr Umland. Laut CODHES kommen täglich über 35 Familien in die Hauptstadt, im Jahr 1998 insgesamt fast 55.000 Personen. Da die Familiensolidarität in Kolumbien sehr stark ist, suchen viele der Flüchtenden Verwandte auf, in der Hoffnung, daß sie ihnen helfen können. Die fatale Folge ist, daß die Familien stark anwachsen und verarmen, weil es für die ehemaligen Bauern in der Stadt so gut wie keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.
Die einzige Chance Geld zu verdienen liegt im informellen Sektor. Das Straßenbild im Zentrum Bogotás ist geprägt von Menschen, die von Bauchläden leben oder Schuhe putzen. Über 50 Prozent der arbeitenden kolumbianischen Bevölkerung sind aber in diesem Sektor beschäftigt. Das Gros der Flüchtlinge bleibt somit arbeitslos oder chronisch unterbeschäftigt, was die soziale Situation in der Stadt weiter verschlechtert und die städtische Kriminalität forciert. Ein Dekret des Bürgermeisters, das die Vertreibung der StraßenverkäuferInnen durch die Polizei aus dem Stadtzentrum vorsieht, verschärft die Situation noch.
Weitere Hürden für eine Integration der MigrantInnen sind fehlende Dokumente und Ausweise, die die Neuankömmlinge bisher nicht brauchten oder nie beantragt hatten. Zudem sind die Kinder nicht registriert. Das erleichtert den staatlichen Behörden den Umgang mit den Flüchtlingen. Sie werden einfach ignoriert: Ein Kind, das nie irgendwo registriert wurde, existiert amtlich auch nicht. Die meisten Menschen lassen sich an den Peripherien der Stadt nieder. Besonders im Süden sind in den letzten Jahren riesige Armenviertel entstanden.

Uneffektive Hilfe

Für die staatlichen Behörden werden die Flüchtlinge dann zum Störfaktor, wenn sie organisiert auftreten und auf ihre Lage aufmerksam machen wollen. Mißliebige Vorkommnisse wie die Botschaftsbelagerung werden kurzerhand als Guerillaaktion gebrandmarkt. Zwar wurde im Juli 1997 mit dem Gesetz 387 ein Nationaler Hilfsplan für die Flüchtlingsbevölkerung verabschiedet, der die Menschen unterstützen soll, aber die Umsetzung ist gekennzeichnet von den typischen Erscheinungsformen in kolumbianischen Behörden: extreme Bürokratie, schlechte Koordination und Korruption.
Ein nationaler Fonds wurde ebenfalls eingerichtet, der den Kauf von Hilfsgütern ermöglichen und den Flüchtlingen finanzielle Unterstützung geben sollte. Das Ergebnis war, daß für sechs Personen umgerechnet nur etwa 20 Mark für zwei Wochen zur Verfügung standen und daß Hilfslieferungen für immense Summen in betroffene Gebiete gesendet wurden, die sich später aber als Fiktion herausstellten und nur auf dem Papier existierten. Das Geld verschwand auf irgendwelchen Privatkonten.
César Casas vom Jesuitendienst, der in Barrancabermeja mit Flüchtlingen arbeitet, stuft die staatlichen Hilfspläne als nutzlos ein: „Für offizielle Statements ist nur die Höhe der Geldsumme wichtig, die eingesetzt wurde, und nicht, was damit gemacht wird.“ Für ähnlich uneffektiv hält er die internationale Hilfe. „Es gibt einige Projekte der Europäischen Union, die sich aber meist in sinnlosen Hilfslieferungen von Dingen erschöpfen, die in den Industrielagerhallen übrig sind. Da werden containerweise Schuhe geschickt, die keinem passen oder nur aus Einzelexemplaren ohne den zweiten Schuh bestehen.“
Für Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich mit den Flüchtlingen beschäftigen, ist es äußerst schwierig, den Menschen zu helfen. Zum einen können sie selbst zur Zielscheibe der Paramilitärs werden, zum anderen wollen sich die Bauern nicht von Außenstehenden helfen lassen. Besonders schwierig ist es bei psychologischer Hilfe, die für viele der Betroffenen notwendig wäre, da sie von der erlebten Gewalt traumatisiert sind, ihre emotionale Schädigung in die Familie hineintragen und so auch ihre Kinder, die einen enormen Prozentsatz der Flüchtlinge ausmachen, in Mitleidenschaft ziehen. Etwas einfacher haben es da die Kirchen, die aufgrund der Religiosität der Betroffenen schnelleren Zugang finden.
„Sie haben Angst, sich in der Öffentlichkeit als Flüchtling zu outen, da sie dadurch ihre Sicherheit gefährdet sehen. Abgesehen davon sehen sie keine Möglichkeit, ihre Lage zu ändern. Was sie heute sind, werden sie auch in zehn Jahren noch sein“, erläutert César Casas den Grund, warum es so schwierig ist, die Flüchtlinge zu organisieren und das Problem öffentlich zu machen.
Im Fall eines Flüchtlingsviertels in Barrancabermeja läßt sich das verdeutlichen. Hier gibt es seit 15 Jahren den Versuch seitens der Kirche, eine Gemeindeorganisation zum Aufbau des Viertels zu schaffen. Bisher ist nur eine kleine Gruppe entstanden, der es nicht gelingt, die demotivierte Mehrheit für ihre Pläne zu gewinnen. Für die städtische Bevölkerung genießen die Flüchtlinge zudem den Ruf als Verbrecher oder Guerilleros. Mit solch einem Stigma tritt man in Kolumbien besser nicht öffentlich auf, da es zur Gefahr für das eigene Leben werden kann. Besetzungsaktionen wie die eingangs geschilderte erfordern unter diesen Umständen umso mehr Mut.

Konfliktmetropole Barrancabermeja

Erschwerend kommt hinzu, daß die EinwohnerInnen von Barrancabermeja müde sind von den Problemen, die hier nicht zuletzt durch die Migration auftreten. Die Stadt am Rio Magdalena ist schließlich zum Aushängeschild für den kolumbianischen Konflikt avanciert. Mit ihren Raffinerien bildet sie das Zentrum der Erdölindustrie und ist mit den Ölfeldern und Viehzuchtgebieten im Umland wirtschaftlich bedeutend. In diesem Gebiet des mittleren Magdalena hat sich der militärische Konflikt in den letzten Jahren derart zugespitzt, daß bereits Tausende Menschen nach Barrancabermeja geflohen sind, wo sie Arbeit zu finden hoffen.
Dabei ist die Stadt mit ihren knapp 300.000 EinwohnerInnen Schauplatz von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Paramilitärs, da es hier traditionell starke soziale Bewegungen gibt, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Im Gebiet des Magdalenatals entstanden in den achtziger Jahren die ersten paramilitärischen Verbände Kolumbiens, die den ungehinderten Handel mit dem Erdöl durchsetzen und dafür Guerillabewegungen sowie soziale Organisationen zerstören sollten. Besonders die Erdölarbeitergewerkschaft USO war in der Folgezeit permanenter Repression ausgesetzt.
Der Zeitung El Tiempo zufolge ist im letzten Jahr durchschnittlich alle vier Tage eine Bombe in Barrancabermeja explodiert, über 370 Menschen sind ums Leben gekommen. Es herrscht ideologischer und wirtschaftlicher Krieg. Die Stadt ist gleichzeitig Ziel und Ausgangspunkt von Flüchtlingskolonnen geworden. Erst zwischen Juli und Oktober 1998 gab es einen neuerlichen Exodus von über 10.000 Menschen nach Barrancabermeja, der die Stadt an den Rand einer Versorgungskrise gebracht hat.

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