Brasilien | Nummer 492 - Juni 2015

Streik macht Schule

Bei Protesten gegen eine geplante Gesetzesinitiative wurden durch massive Polizeigewalt rund 200 Menschen verletzt

In Brasilien streiken seit März in zehn Bundesstaaten tausende Lehrer*innen. Das Lehrpersonal fordert Gehaltserhöhungen sowie eine bessere Schulausstattung und wehrt sich gegen Renteneinschnitte. Die zunehmende Repression gegen die Streikenden gipfelte Ende April in einem Gewaltexzess.

Niklas Franzen

2.323 Gummigeschosse, 1.094 Schockgranaten, 300 Tränengasbomben, dazu mehr als 200 Verletzte. So liest sich die traurige Bilanz einer Demonstration von streikenden Lehrer*innen in der südbrasilianischen Millionenstadt Curitiba. Am 29. April waren rund 10.000 Lehrkräfte in die Hauptstadt des Bundesstaates Paraná gezogen, um gegen eine geplante Gesetzesinitiative zu demonstrieren, durch die massive Rentenkürzungen befürchtet werden. Während im Gebäude der Regierung Paranás der umstrittene Gesetzesentwurf 252/12 mit 31 zu 21 Stimmen verabschiedet wurde, warteten draußen über 5.000 Polizist*innen auf den Demonstrationszug. Kurz nachdem die Lehrer*innen und ihre Unterstützer*innen den Platz vor der Landesregierung erreicht hatten, explodierten die ersten Tränengasbomben. Innerhalb von Minuten verwandelte sich das Areal in ein Schlachtfeld, die Krankenhäuser füllten sich mit den teils schwer verletzten Demonstrierenden. Auch Medienvertreter*innen wurden Ziel der Polizeigewalt: Ein Polizeihund biss sich im Bein eines Kameramannes fest, der den Angriff während einer Liveschaltung filmte.
Die Bilder der Gewaltorgie wanderten durch die Medien und lösten landesweit Empörung aus. Auch Präsidentin Dilma Rousseff kritisierte den Polizeieinsatz. Nicht nur linke Bewegungen forderten in den folgenden Tagen lautstark einen Rücktritt des Gouverneurs Beto Richa. Beim Heimspiel des Fußballteams Coritiba FC skandierte das Stadion mehrmals „weg mit Beto Richa“ und Ultragruppen erklärten sich auf Bannern solidarisch mit den streikenden Lehrer*innen.
Trotz der Kritik weist Richa, Politiker der rechtsgerichteten Partei PSDB und Gouverneur des Bundesstaates Paraná, die Verantwortung für die Gewalteskalation von sich. Noch am Abend der Ereignisse verteidigte der Gouverneur in einem Schreiben den Polizeieinsatz mit der „Radikalität und Irrationalität“ der Lehrer*innen. Weitere Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Politikers kamen auf, als im Internet ein „Selfie“ eines angeblich durch Demonstrierende verletzten Polizisten auftauchte. Die vermeintlichen Blutflecken entpuppten sich schnell als aufgemalte Farbkleckse und das Foto erntete Spott in sozialen Netzwerken. Umso ernster fiel hingegen die Beurteilung jenes 29. Aprils aus. Als „geplantes Massaker“ bezeichneten viele die Ereignisse im Anschluss.
Auslöser der Proteste war der Gesetzesvorschlag der konservativen Landesregierung, mit dem die Rentenkassen reformiert werden sollen: In Zukunft soll nicht allein der Bundesstaat, sondern auch die noch tätigen Lehrer*innen bei der Altersversorgung zur Kasse gebeten werden. Davon verspricht sich die Regierung Paranás Einsparungen von umgerechnet 520 Millionen Euro. Das Lehrpersonal befürchtet massive Renteneinschnitte. „Das Projekt raubt Geld unserer Altersvorsorge, um die Konten der Regierung aufzubessern“, sagte Luiz Fernando Rodrigues von der Lehrer*innengewerkschaft APP-Sindicato. Bereits Anfang des Jahres streikten Lehrkräfte in Paraná 29 Tage lang gegen ein ähnliches Projekt und besetzten kurzzeitig sogar den Regierungssitz. Als Antwort auf die jüngste Verabschiedung des Gesetzes kündigte der APP-Sindicato einen erneuten Streik an. Obwohl die Justiz diesen Ende Mai als illegal bezeichnete, beschlossen die Lehrer*innen einstimmig, den Streik weiterzuführen und den Arbeitskampf zu intensivieren. Jedoch geht auch die Regierung von Paraná in die Offensive: Gouverneur Richa forderte, die Konten der Gewerkschaft einzufrieren und droht mit drakonischen Strafen, sollte die Arbeit nicht bald wieder aufgenommen werden. Auch in anderen Bundesstaaten streiken Lehrer*innen öffentlicher Schulen: In São Paulo, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Brasiliens, beschloss die Gewerkschaft APEOESP bereits am 16. März die Arbeit niederzulegen. Im längsten Lehrer*innen-Streik in der Geschichte São Paulos fordert das Lehrpersonal Lohnerhöhungen von 75,33 Prozent bis 2020. Zudem besteht es auf kleineren Klassen und einer besseren Schulausstattung. Die Bedingungen an den öffentlichen Schulen Brasiliens sind katastrophal. „Uns fehlen die grundlegendsten Dinge wie Trinkwasser oder Schreibpapier“, erzählt der Lehrer Glovis. Auch Juliano Lima berichtet: „Die gespielte Besorgnis der Regierung unseres Bundesstaats über die Bildung geht einher mit Kürzungen in unserem Sektor. Niedrige Löhne, überfüllte Klassen und das Fehlen von grundlegender Ausstattung sind einige der Probleme, denen wir gegenüberstehen“, so der 33-jährige Geschichtslehrer aus São Paulo.
Daten der APEOESP zufolge beteiligten sich zu Beginn fast 60 Prozent, rund 136.000 Lehrer*innen, am Streik. Auch viele Schüler*innen solidarisierten sich und gingen gemeinsam mit ihren Lehrer*innen auf die Straße. Immer noch kommt es an fast jedem Wochenende in der Megametropole zu Demonstrationen gegen den Notstand an den Schulen mit mehreren tausend Teilnehmer*innen. Trotz der breiten Unterstützung weigerte sich Gouverneur Geraldo Alckmin lange Zeit, den Streik anzuerkennen. Verhandlungen lehnt der Politiker der rechten PSDB mit der Begründung ab, dass der Streik „in keiner Weise Sinn“ ergebe. Er sei erst im Juli zu Gehaltsverhandlungen bereit. Es scheint, als versuche die Regierung São Paulos, den Streik „auszusitzen“ – teilweise auch mit Erfolg: Viele Lehrer*innen haben keinen Anspruch auf Lohnentschädigungen und waren deshalb gezwungen, die Arbeit aufgrund des ausbleibenden Gehaltes wieder aufzunehmen. Die APEOESP musste so einen Rückgang der Streikbeteiligung auf 30 Prozent feststellen, die Regierung des Bundesstaats spricht sogar von nur noch fünf Prozent Streikbeteiligung.
Die traditionellen Medien schüren unterdessen Stimmung gegen den Streik und machen die Lehrer*innen für den Unterrichtsausfall verantwortlich. Das Medienimperium Globo sendet mehrmals täglich Bilder von Schüler*innen, die den Tränen nahe vor verschlossenen Schultoren stehen, oder fokussiert sich bei Reportagen auf interne Auseinandersetzungen unter den Streikenden.
Trotz der medialen Negativberichterstattung ist das gesellschaftliche Verständnis für den Streik groß. Die extrem prekären Bedingungen an öffentlichen Schulen sind fast allen Brasilianer*innen bekannt. Während sich große Teile der Mittel- und Oberschicht teure Privatschulen leisten können, sind sozial schwache Brasilianer*innen auf die öffentlichen Schulen angewiesen. Die fehlenden Mittel und die schlechte Bezahlung der Lehrer*innen machen eine gute Schulausbildung und damit auch Aufstiegschancen praktisch unmöglich. „Unsere Elite hat niemals gute Bildung für alle angestrebt, sondern sie zum Privileg gemacht“, erklärt Lima. Auch die chronische Unterbezahlung der Lehrkräfte ist kein Geheimnis: Im internationalen Vergleich landet Brasilien bei der Bezahlung seiner Lehrkräfte auf den untersten Plätzen. Viele verdienen so wenig, dass sie einen zweiten Job benötigen, um überhaupt überleben zu können.
Die Gewerkschaften geben sich indes kämpferisch und machen Sparpolitik und fehlende Verhandlungsbereitschaft der Regierungen ihrer Bundesstaaten für den Unterrichtsausfall verantwortlich. Auch für die kommenden Wochen sind erneut in mehreren Bundesstaaten Streiks in der öffentlichen Bildung angekündigt. Soziale Bewegungen und linke Intellektuelle fordern darüber hinaus eine grundlegende Reform des brasilianischen Bildungssystems. Soziale Ungleichheit werde in der selbst proklamierten pátria educadora („Erziehungsland“) durch die Bildung zementiert, heißt es. Wie schon der weltbekannte brasilianische Pädagoge Paulo Freire feststellte: „Das Volk zu lehren die Welt kritisch zu sehen, ist immer eine Praktik, die diejenigen gefährdet, die ihre Macht auf der Unschuld der Unterdrückten begründen “

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