Nummer 379 - Januar 2006 | Subkulturen

Subkulturen in Lateinamerika

Zwischen Überlebensstrategie und Abgrenzung

Manfred Liebel, Gabriele Rohmann

Wenn von Subkulturen die

Rede ist, scheint zunächst jeder zu wissen, was gemeint ist. Der Begriff wird auf alles angewendet, was nicht dem kulturellen Mainstream entspricht, und verharrt bei einer vagen Definition zwischen Teenager-Kultur und radikaler Absage.
Zum ersten Mal bezeichnete man 1947 in den USA die dortigen, so genannten „ethnischen Minderheiten“ als Subkulturen. Auch wenn Herkunft, Status, Sexualität und Religion die Entstehung von Subkulturen bis heute beeinflussen – interessant scheinen sie vor allem deshalb zu sein, weil sie sich jenseits dieser starren Klassifizierungen entwickeln.
Dabei handelt es sich jedoch nicht immer um freie, selbst gewählte Gruppenzugehörigkeiten. Subkulturen können gerade auch dadurch entstehen, dass bestimmte Menschen – sei es wegen ihrer sexuellen Orientierung, sei es aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage – von der gesellschaftlichen Teilhabe an der Mainstreamkultur ausgeschlossen werden und gezwungen sind, sich selbst zu organisieren. Der Artikel über die politische Organisation der TransvestitInnen in Buenos Aires von Vivian Szelinsky zeigt wie eine Gruppe sich gegen negative Fremdzuschreibungen zu wehren sucht. Auch in dem von Nils Brock, Oliver Commer und Thilo F. Papacek geführten Interview mit einer Hausbesetzerin aus Rio de Janeiro wird deutlich, dass Subkulturen auch als Antwort auf sozialen Ausschluss entstehen können. In den generationsübergreifenden Lebensgemeinschaften innerhalb der besetzten Häuser leben Menschen mit den verschiedensten sozialen Hintergründen zusammen, was nicht selten Raum für Konflikte schafft.
Subkulturelle Phänomene auf die Zugehörigkeit zu „ethnischen Minderheiten“ zu reduzieren, scheint folglich überholt und fragwürdig. Denn auch innerhalb von Minderheiten existiert häufig eine dominante Kultur neben vielen Subkulturen. Ein Beispiel dafür sind die cholos/as in Mexiko und den USA. Als transnationale Subkultur sind sie aus der chicano/a-Bewegung, der mexikanischen Minderheit in den US-Großstädten, hervorgegangen. Einen Einblick in die Geschichte des cholismo und die ihn bestimmenden Einflüsse gibt uns Ingrid Kummels in dieser Ausgabe.

Begrenzung und Abgrenzung

Subkulturen sind immer in die Struktur einer Gesellschaft eingebunden, sie stehen nicht außerhalb von ihr. Als solche nehmen sie auch an der herrschenden Kultur Teil, weisen jedoch in dieser ein eigenes, autonomes Terrain auf. Von dem von ihnen erkämpften gesellschaftlichen Raum aus können Subkulturen Kritik an herrschenden Verhältnissen formulieren und in die Mehrheitsgesellschaft tragen. Der rock subterráneo in Peru beispielsweise entstand als emanzipatorische Antwort auf die enttäuschten Hoffnungen nach dem Ende der Militärdiktatur und setzte sich gegen die Autoritäten des neuen demokratischen Staates zur Wehr. Ricardo Ramirez Castañeda setzt sich in seinem Artikel mit diesem Verhältnis von staatlicher Repression und kreativer Reaktion innerhalb der Rockbewegung Perus auseinander.
Subkulturen bieten eine eigene, sich vom Mainstream abgrenzende Lebenspraxis, die nicht selten einen Lebensmittelpunkt vor allem für marginalisierte Jugendliche darstellt, denen das herrschende System kaum Perspektiven bietet. Gerade für diese gesellschaftliche Gruppe stellen Subkulturen Überlebensstrategien dar, praktische Versuche, den Lebensrisiken zu begegnen und das Beste aus dem eigenen Leben zu machen. Sie vermitteln Jugendlichen, als ihren Hauptprotagonisten, das Gefühl, selbst handeln zu können und ihr Leben im Griff zu haben. In einer nicht selten als feindlich empfundenen Umwelt sind Subkulturen ebenso Ausdruck wie Bedingung dafür, dass die Jugendlichen sich als Menschen erfahren, die etwas „wert“ sind und über zumindest einen Teil ihres Lebens bestimmen können. In Gruppen, Banden und Bewegungen erkämpfen Jugendliche sich ein Stück der Definitionsmacht, die ihnen eine autoritäre, ungerechte und in vielem auch rassistische Gesellschaft bis heute verweigert. In diesen Kontext lässt sich auch die Repräsentationsform des Graffitis einordnen, der Alsino Skowronnek in Chile nachgeht. Ihre Ausprägung findet die Graffitikunst dank ihrer Bindung an den mexikanischen muralismo, der sich auch als subversive politische Ausdrucksform in Chile durchsetzte. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass es voreilig wäre, aus den äußerlich sichtbaren Ähnlichkeiten den Schluss zu ziehen, in den lateinamerikanischen Subkulturen werde nur etwas nachgeahmt oder nachgeholt, was in den USA oder in Europa längst erreicht sei.
Graffiti ist nicht nur eine Möglichkeit kultureller und individueller Artikulation, die SprayerInnen nehmen sich ganz einfach ein Stück öffentlichen Raums – von einer Mauer bis zu einem ganzen Stadtviertel – und reklamieren diesen für sich. So ist Graffiti auch Ausdruck von territorialen Ansprüchen, stellt doch gerade die Straße den primären und oft bevorzugten Lebensort vieler Jugendlicher dar. Hier lernen sie einen Großteil dessen, was sie für ihr Leben brauchen, hier fühlen sie sich frei und anerkannt und können ihre Bedürfnisse und Wünsche ausleben.

Zwischen Identität und Illegalität

Graffiti ist nur eines von vielen Symbolen der Bedeutungspraxis subkultureller Welten. Daneben tragen auch Kleidung, eine eigene Sprache, Tattoos, etc. zur Identitätskonstruktion vieler Subkulturen bei. Doch gerade diese erfahren verschiedene Bedeutungen und Interpretationen. Während sie für die Mitglieder einer Subkultur als kollektives Symbol einer Identität dienen, verbinden Außenstehende damit nicht selten Kriminalität und subversive Gefahr. Das Unangepasste wird als Bedrohung wahrgenommen. Der Prozess der Herausbildung einer Identität und deren Artikulation wird häufig in die Illegalität abgedrängt. Dass Subkulturen beizeiten tatsächlich notgedrungen mit Kriminalität verwoben sind, verdeutlicht Madelene Schering in ihrem Beitrag über den mexikanischen narcocorrido. Entstanden ist dieser im Milieu des der Populärkultur zuzuordnenden corrido. Als Subkultur innerhalb dieses Musikstils stehen die MusikerInnen des narcocorrido im Sold lokaler Drogenmafias und bewegen sich stets auf dem schmalen Grad zwischen den internen Strukturen des Drogenbusiness und der Verfolgung durch die staatlichen Organe.

Entgrenzung an der Peripherie

Die Symbolik, die die Subkulturen in den unteren Klassen auszeichnet, lässt sich jedoch nicht auf eine „symbolische Praxis“ reduzieren, ihre Expressivität und Magie sind nicht allein als eine „imaginäre Praxis“ zu verstehen. Tatsächlich verschiebt sie ein Stück weit die Grenzen der Macht zugunsten der Jugendlichen, die bisher machtlos und marginalisiert waren. Dies gilt nicht nur für die männlichen Jugendlichen. Auch wenn viele Subkulturen noch von diesen monopolisiert und dominiert werden und insofern bis zu einem gewissen Grad die herrschenden machistischen Strukturen reproduzieren, öffnen sie doch auch neue öffentliche Handlungsräume für junge Frauen, die davon mit zunehmendem Selbstbewusstsein Gebrauch machen.
Das Phänomen der Subkulturen ist und bleibt ambivalent. Zum einen bieten diese einen Raum für einen häufig marginalisierten Teil der Gesellschaft, indem die Frage nach der Identität oder identitätsstiftenden Prozessen einen zentralen Platz einnimmt. Sie setzen sich mit der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, von Sichtbarkeit und Unerreichbarkeit des Reichtums auseinander, suchen eigene Wege zwischen dem Globalen und Lokalen, bringen „hybride“ Formen von Kultur hervor, die es weder in der Vergangenheit gab, noch mit den ihnen aufgedrängten „modernen“ Lebensstilen identisch sind. In diesen Zusammenhang lässt sich auch das transnationale Phänomen der artesanos/as stellen, die eine freiheitliche Lebensform hervorgebracht haben, indem sie globale Prozesse wie den Tourismus für sich nutzbar machen und lokal – auf ökonomische wie politische Weise – verwerten. In seinem Artikel vermittelt Börries Nehe einen Einblick in die Philosophie und Lebensrealität dieser heterogenen Gruppe.
Die Auswahl der in diesem Schwerpunkt versammelten Themen stellt selbstverständlich nur einen kleinen Teil der Vielfalt lateinamerikanischer Subkulturen dar. Gerade in einem Kontinent, in dem der Großteil der Menschen von der Teilhabe an Reichtum und nicht selten auch von politischer Gestaltungsmöglichkeit ausgeschlossen ist, bieten Subkulturen Möglichkeiten, Alternativen zu herrschenden Verhältnissen zu entwickeln und sich gegen diese zur Wehr zu setzen. Die Forschung jedoch, wie auch die europäische Öffentlichkeit, haben Lateinamerikas Subkulturen bis heute wenig Bedeutung beigemessen. Dies ist ein guter Grund für die Lateinamerika Nachrichten, sich mit einem Schwerpunkt diesem Thema zu widmen.

Im Januar 2006 erscheint eine Aufsatzsammlung über Jugendkulturen Mexikos von Manfred Liebel & Gabriele Rohmann (Hrsg.): Entre Fronteras. Grenzgänge. Jugendkulturen in Mexiko. Archiv der Jugendkulturen e.V., Berlin 2006, 20,- Euro

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren