Argentinien | Nummer 387/388 - Sept./Okt. 2006

Super-Kirchner mit Sondervollmachten

Den argentinischen Präsidenten hält nichts auf

Jährliche Wachstumsraten von neun Prozent, stetige Überschüsse im Staatshaushalt, Sympathiewerte bei den Umfragen um die 75 Prozent, die Militärspitze ausgetauscht, im Obersten Gerichtshof aufgeräumt und sich an die Spitze der Menschenrechtsbewegung gestellt. Der argentinische Präsident Néstor Kirchner könnte nach drei Jahren Amtszeit zufrieden sein und sich gelassen auf eine Wiederwahl 2007 vorbereiten. Die jüngste Wahlumfrage bescheinigt ihm einen Sieg im ersten Wahlgang. Trotzdem arbeitet Kirchner seit seinem Amtsantritt im Mai 2003 unermüdlich am Ausbau seiner Macht.

Jürgen Vogt

“Man lässt mich nicht regieren.” Das Lamento des argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner steigert sich proportional zu seinem Machtzuwachs. Kurz nach seinem Stoßseufzer gewährte ihm das Parlament Anfang August unbegrenzt so genannte Supervollmachten. Die Regierung kann nun auf unbestimmte Zeit den Staatshaushalt ohne Befragung und Zustimmung des Parlamentes nach den eigenen Wünschen ändern.
1994 wurde in Argentinien das Amt des Kabinettchefs eingerichtet. Einen Premierminister gibt es nicht. Schon seit 1997 ist es dem Kabinettchef per Gesetz erlaubt, die einzelnen Posten im Staatshaushalt zu verschieben. Beispielsweise die Ausgaben im Bildungsbereich zu Lasten der Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Allerdings musste diese Erlaubnis bisher jedes Jahr mit der Vorlage des neuen Haushaltsentwurfes vom Parlament verlängert werden. Doch nun ist es per Gesetz für unbegrenzte Zeit erlaubt, Posten zu verschieben. Zusätzlich kann der Kabinettschef jetzt auch die laufenden Ausgaben des Haushalts zu Lasten der veranschlagten Investitionen erhöhen. Dem Parlament bleibt nur noch die Abstimmung über die gesamte Höhe des Haushalts und damit der Neuverschuldung. Allerdings ist auch der derzeitige Kabinettschef Alberto Fernández Präsident Kirchner direkt unterstellt und wurde von ihm ernannt. Damit kontrolliert der Präsident indirekt die Verteilung des Haushalts.
Jedes Jahr flammte die Diskussion um die von Opposition und Presse so genannten superpoderes neu auf. Kirchner war das jährliche Zustimmungsgebettel im Kongress schon seit langem Leid. Vor einigen Wochen hatte er dann die Änderung des Artikels auf den Weg gebracht. „Es ist ein Finanzgesetz, dass die Mehrzahl der Provinzregierungen bei sich bereits anwenden,“ verteidigte Kirchner sein Vorhaben. Ein Argument, dass viele oppositionelle Provinzgouverneure zum Schweigen brachte.
Bereits zwei Wochen vor der eigentlichen Verabschiedung des Gesetzes konnte die Exekutive zudem eine Neuregelung bei den Notstandsdekreten durchsetzen. Dass Präsidenten in Argentinien mit Dekreten regieren ist nicht neu. Kirchner kommt in seiner dreijährigen Amtszeit bereits auf über 200. Bisher war die Frage, wie das Parlament Dekrete des Präsidenten behandeln soll, offen. Eine entsprechende Initiative war stolze zwölf Jahre lang liegen geblieben. Bis vor einigen Monaten ein Senator darauf drängte, der Kongress möge doch endlich beschließen, dass er über die Präsidentendekrete abzustimmen habe.
Plötzlich hatte es die Regierung Kirchner ebenfalls eilig. Am 20. Juli stimmte der Kongress zu, dass die Dekrete von beiden Kammern zwar behandelt werden müssen, aber sie dennoch in Kraft sind und bleiben bis der Kongress über sie befunden hat. Ein Präsident, der im Kongress eine Erörterung seiner Verordnungen verhindern kann, ist auf eine parlamentarische Sanktionierung nicht mehr angewiesen. Damit hat Kirchner ebenfalls die Haushaltskontrollfunktion des Parlaments umgangen, denn sämtliche Erhöhungen des laufenden Haushaltes erfolgen in Argentinien per Dekret. Im Jahr 2005 hatte Kirchner mit Verordnungen des Kabinettchefs den Haushalt ohne Zustimmung des Parlaments um 20 Prozent erhöht.

Rausschmiss gleich Integration?

Kirchner scheint nichts mehr aufzuhalten. Nachdem er mit Hilfe seiner Frau die „Schlacht um die Provinz Buenos Aires“ bei den Parlamentswahlen im Oktober 2005 gewonnen hat, ist das Lager der parteiinternen Opposition in Auflösung begriffen. Nicht wenige sind zu Kirchner übergelaufen. Cristina Fernández de Kirchner gewann 2005 überlegen die Wahl zur Senatorin. Seinen einstmaligen Widersacher hat Kirchner verdrängt: Amtsvorgänger Eduardo Duhalde hat sich nach der Schlappe aus der Politik zurückgezogen.
Es war danach nur eine Frage der Zeit bis Kirchner den von Duhalde übernommenen Wirtschaftsminister Roberto Lavagna entlassen würde. Lavagna war die einzige noch eigenständige Figur in Kirchners Kabinett. Nachdem er im November das Kartell ähnliche Auftreten der Unternehmen kritisierte, die staatliche Aufträge erhalten, und ihnen Preisabsprachen vorgeworfen hatte, war das Maß voll. Die Vergabe der Aufträge fällt in das Ressort von Planungsminister Julio De Vido, der am Kabinettstisch umstritten ist, jedoch gute Beziehungen zum Präsidenten pflegt. Der setzte Lavagna kurzerhand vor die Tür. Kirchners Integrationsvermögen ist dennoch unbestritten.
Inzwischen sind einige führende Personen aus der ruhiger gewordenen Arbeitslosen-Protestbewegung der Piqueteros im Dienste des Staates beschäftigt. Prominentestes Beispiel ist Luis D’Elía, heute Unterstaatssekretär für sozialen Wohnungsbau. Die argentinischen Medien sprechgen von offiziellen, sprich regierungstreuen Piqueteros und den piqueteros duros, dem „harten“ Teil der Bewegung, wenn Demonstrationen und Straßensperren für beziehungsweise gegen die Regierungspolitik stattfinden.

Kirchners persönliche Netzwerke

Noch hat Néstor Kirchner nicht verkündet, ob er im Oktober 2007 zur Wiederwahl antritt. Doch wer die politische Karriere des 56-Jährigen kennt, zweifelt nicht daran. Kirchner war 1987 in Santa Cruz Bürgermeister der Provinzhauptstadt Río Gallegos geworden. 1991 gewann er dort erstmals die Gouverneurswahl. Er blieb zwölf Jahre im Amt, nachdem er sich durch die Änderung der Provinzverfassung die Wiederwahl ermöglicht hatte.
Seine Schwester Alicia war zunächst in der Stadt, dann in der Provinz und schließlich ab Mai 2003 als Ministerin für den sozialen Bereich und damit für die Verteilung der Sozialbeihilfen zuständig. Seit Dezember 2005 sichert sie als Senatorin die Provinz Santa Cruz. Das Amt der Senatorin hatte bis dahin Kirchners Ehefrau Cristina inne, die jetzt Senatorin der Provinz Buenos Aires ist. Als Kirchner noch Bürgermeister in Río Gallegos war, leitete Cristina den Rat für Planung und Beratung, danach wurde sie Abgeordnete des Provinzparlaments von Santa Cruz und erklomm den Posten der Vizeparlamentspräsidentin. Heute streitet sie für ihren Mann im Senat.
Von Anfang an dabei war auch Planungsminister Julio De Vido. Er kümmerte sich schon in Santa Cruz um die Verteilung der öffentlichen Aufträge und ist Kirchners notwendiger Mann für das Grobe. Bei ihm laufen alle Genehmigungen und Konzessionen der in- und ausländischen DienstleisterInnen zusammen. Er bestimmt, welche Unternehmen Staatsaufträge für Infrastrukturmaßnahmen bekommen. Er hat den Stempel und es heißt, mit den „Stempelgebühren“ fülle er die Wahlkampfkasse.
De Vidos Planungsministerium war eines der ersten, das von den superpoderes profitierte. Ende August stockte der Kabinettschef mit gut 200 Millionen Euro den Haushaltposten des Planungsministers auf. Das Geld soll für weitere Infrastrukturprogramme wie Straßenbau und Kanalisation, aber auch für den Wohnungsbau ausgegeben werden. Damit hat sich De Vidos Finanzvolumen im Jahr 2006 per Regierungsbeschluss bereits zum fünften Mal erhöht und stieg von 2,8 auf gut 3,3 Milliarden Euro. Profitiert hat auch Bildungsminister Daniel Filmus. Er kann nun gut 20 Millionen zusätzlich für die Universitäten ausgeben.

Opposition am Rande der Spaltung

Eine wirkliche Opposition steht Néstor Kirchner nicht gegenüber. Die zweitstärkste politische Kraft, die sozialdemokratische Radikale Bürgerunion UCR, zerfleischt sich gerade selbst. Geschickt hat Kirchner den Spaltpilz gesät. Im Mai machte er den Vorschlag zur Bildung einer concertación plural nach chilenischem Vorbild: ein Mitte-Links-Bündniss aus Sozialdemokraten, Sozialliberalen und gemäßigten Sozialisten. Damit hält er nicht nur die letzten konservativen Widersacher in den eigenen, peronistischen Reihen in Schach, auch die UCR bringt er damit an den Rand einer Spaltung. Denn der so genannte Kirchner-Flügel der UCR macht sich bereits zum Überlaufen bereit. Promineste Figur ist der radikale Gouverneur der Provinz Mendoza, Julio Cobos.
Dieser unterstützt seit langem Kirchners Politik und wird bereits offen als zukünftiger Vizepräsidentschaftskandidat für die Wahlen 2007 gehandelt.
Die UCR selbst hat sich gerade auf ihrem Parteikongress Ende August auf eine Unterstützung der Kandidatur des parteilosen und ehemaligen Wirtschaftsministers Roberto Lavagna festgelegt. Cobos und der Kirchner-Flügel waren erst gar nicht zum Parteikongress angereist. Drei Tage nach dem Kongress erhielt Cobos in Mendoza Besuch von Kirchner und De Vido. Im Beisein des Gouverneurs verkündete der Präsident die Finanzierung weiterer Infrastrukturprogramme in der Provinz Mendoza. Und auf seine im September geplante Reise in die USA hat Kirchner den Gouverneur Cobos als Begleiter schon mal vorsorglich eingeladen.

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