Stummer Schrei aus dem Maisfeld
Agrarchemikalien von Weltkonzernen greifen in Südamerika Umwelt und Gesundheit an
Auf den Generalversammlungen von Syngenta, Bayer, BASF, DowChemical und Monsanto werden erst beim Essen der Pausen-Häppchen die Agrarchemikalien Realität. Dann nämlich spielen die zuvor erwähnten Statistiken und Erfolgsrechnungen zum Geschäftsjahr 2012 keine Rolle mehr und die Aktionär_innen der Agrarchemieindustrie treten in physischen Kontakt mit ihren Produkten. Wieviel Glyphosat, 2,4D oder DDT wohl in den Käse- und Schinkencanapées steckt, die in Basel, Leverkusen und Ludwigshafen serviert werden? Was unsichtbar in den Organismus der Aktionäre gelangt, gehört auf dem Feld und in den Gewächshäusern der industrialisierten Landwirtschaft zum sichtbaren Alltag. Die dort eingesetzten Herbizide, Pestizide und Fungizide sollen all das töten, was das Wachstum von Soja, Mais und Baumwolle, aber auch von Äpfeln, Birnen, Erdbeeren oder Kiwis, einschränken könnte. Die Chemikalien, so sagen Vertreter_innen von Syngenta, einem weltweit agierenden Unternehmen im Agrargeschäft, haben bei korrekter Anwendung keinerlei Folgen für Mensch und Umwelt. Damit verschweigen die Konzerne nicht nur Studien, die das Gegenteil belegen, sie drücken gleichzeitig auch ihr Verständnis von Natur aus – worin Larven, Käfer und Wanzen keinen Platz haben. Für die Agrarchemieindustrie ist Natur, was Aktien für ihre Aktionär_innen sind: eine Geldanlage.
Doch Natur ist Lebensgrundlage. Was schon vor Jahrzehnten ein paar aufmerksame Bürger_innen erkannten – in den Medien nannte man sie Umweltschützer_innen – ist heute Teil des öffentlichen Bewusstseins. Deshalb können sich Hersteller_innen von gentechnisch verändertem Saatgut (GMO) und Agrarchemikalien wie Syngenta nicht mehr hinter den Fassaden ihrer Hauptsitze in Europa und Nordamerika verstecken und darauf hoffen, dass niemand etwas merkt. Zu offensichtlich ist ihr Anteil an der Zerstörung besagter Lebensgrundlage: sei es durch die Verseuchung fruchtbarer Böden, die Kontamination biologischen Saatguts durch GMO’s oder die Abholzung von Wäldern, um neue Landwirtschaftsflächen zu erschließen. Hinzu kommen die durch Patente erzwungenen Knebelverträge, bei denen Mais- oder Soja-Produzent_innen nur zwei Möglichkeiten haben: Sie erfüllen die Bedingungen der Herrstellerfirmen oder sie sind weg vom Fenster. Über dieses Vorgehen sind in Agrarexportländern wie Argentinien nur aufmerksame Bürger_innen informiert. Oder betroffene Bevölkerungsschichten, wie jene in Córdoba. Dort wehren sich seit Jahren die Bewohner_innen gegen das Sprühen von Glyphosat und Endosulfan vor ihrer Haustüre; im betroffenen Quartier kam es zu erhöhten Krebsraten und zu Missbildungen bei Neugeborenen. Im August vergangenen Jahres wurden schließlich ein Sojaproduzent und ein Pilot zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil sie gesundheitliche Schäden der Bevölkerung billigend in Kauf genommen hatten. Es war das erste Urteil dieser Art in Lateinamerika.
Ein paar Monate später drangen die Agrarchemikalien dann in die argentinische Hauptstadt vor. Wortwörtlich. Im Hafen von Buenos Aires explodierte kurz vor Weihnachten ein Container mit Thiodicarb, einem Insektizid von Bayer. Während Stunden lag eine dunstige Wolke über der Metropole. Ganze Stadtteile mussten evakuiert werden, Tausende klagten über Atemwegsprobleme, Halsschmerzen und Schwindelgefühl. Die Chemikalie war unterwegs nach Paraguay, in Europa ist Thiodicarb verboten.
Wenige Wochen später stand der Journalist Oscar Alfredo Di Vincensi filmend vor der Sprühmaschine des Sojaproduzenten Juan Manuel Zunino im Städtchen Alberti und forderte ihn auf, den gesetzlich festgeschriebenen Mindestabstand von 1000 Metern zu bewohntem Gebiet einzuhalten. Als sich der Journalist kurz wegdrehte, drückte Zunino auf das Gaspedal und fuhr mit der Sprühmaschine über den Kopf des Journalisten. Di Vincensi musste im Spital behandelt werden.
Konfrontationen wie jene in Alberti sind Alltag in manchen Regionen mit Monokulturanbau in Lateinamerika. Die Menschen, sofern informiert, kämpfen seit Jahren um ihr Land und ihre Gesundheit oder wenigstens um die Einhaltung von Gesetzen – auch wenn diese keinen Sinn machen. Wie will man das Sprühen von schädlichen Substanzen gesetzlich verankern? Konzerne wie Syngenta kennen diese politisch fragilen Strukturen mit ihren leicht korrumpierbaren Politiker_innen und verhalten sich ähnlich wie einst die Kolonialmächte: Sie verunsichern die lokale Bevölkerung mit Falschinformationen und beuten dann über ihre Vermittler_innen die Ressourcen aus.
Im 16. und 17. Jahrhundert wurde das Silber von Potosí ausgebeutet, im 18. und 19. Jahrhundert Nahrungsmittel wie Fleisch oder Getreide und nun all das, was heute potenzielle Geldanlage ist: Gold, Kupfer, Eisen, Lithium, Wasser, Fleisch, Getreide oder Öl. Den Herrschenden im Norden – früher stammten sie aus Königreichen oder Ländern, heute aus multinationalen Großkonzernen – ist dabei jedes Mittel Recht. Auch der Verkauf von Produkten, die in Europa verboten sind. Hauptsache, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsenen Machtverhältnisse können aufrechterhalten bleiben. Ein bisschen Anarchie wie in Alberti kommt da gerade recht. Sie lenkt von den Hintergründen ab. Und die sind bemerkenswert.
Die Meeresbiologin Rachel Carson fragte bereits 1962 in ihrem Buch „Silent Spring“: „Wie nur konnte ein intelligentes Wesen ein paar unerwünschte Arten von Geschöpfen mit einer Methode bekämpfen, die auch die gesamte Umwelt vergiftet und selbst die eigenen Artgenossen mit Krankheit und Tod bedrohte?“. Sie bezieht sich damit auf DDT, das zu dieser Zeit weltweit am meisten eingesetzte Insektizid. DDT stammte aus dem Hause Syngenta (damals J.R. Geigy AG), Entdecker Paul Hermann Müller war 1948 dafür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden.
Wenige Jahre später waren die negativen Folgen von DDT unübersehbar, etwa das Fischsterben durch verseuchtes Grundwasser. Zudem gelangte die Chemikalie durch ihre lange Halbwertszeit in die Nahrungsmittelkette und tötete nicht nur Larven, Käfer und Wanzen, sondern auch Nagetiere und Vögel, die die kontaminierten Tiere fraßen. In den USA, so schreibt Carson, blieben ganze Landstriche stumm zurück. Außerdem lagerte sich DDT im menschlichen Fettgewebe ab und gelangte so auch in die Muttermilch. Die Chemikalie wurde nach langen Protesten Anfang der 1970er Jahre in den meisten westlichen Industriestaaten verboten. Offiziell. Inoffiziell wird DDT nach wie vor gehandelt und eingesetzt. Zumindest außerhalb Europas.
Dieser Widerspruch zwischen Aufstieg und Fall einer Chemiekalie scheint Teil der Strategie von Syngenta zu sein: Zuerst wird ein neues Produkt auf den Markt gebracht, ohne es vorher auf seine Langzeitwirkung untersucht zu haben. Dann wird es als Allheilmittel verkauft, um es nach ein paar Jahren, wenn der Schaden unüberseh- und die Empörung in der Bevölkerung unüberhörbar geworden ist, verbieten zu lassen. Was mit DDT geschah, geschah später mit Paraquat (Syngenta) und Endosulfan (Bayer) – zumindest offiziell.
Inoffiziell wird gehandelt und gesprüht, was das Überleben im globalisierten Kapitalismus ermöglicht. Die Allheilmittel heißen heute 2,4-D (Monsanto) oder Glyphosat (Cilag, Schaffhausen, später Monsanto) und haben ähnliche Folgen wie früher DDT. 2,4-D war Bestandteil des im Vietnamkrieg eingesetzten Entlaubungsmittels Agent Orange. Zu Glyphosat liegen Studien von Forscher_innen aus Argentinien, Frankreich und zuletzt Deutschland vor, die dessen negative Konsequenzen auf Mensch und Umwelt belegen. Und wer diesen nicht glaubt, dem sei eine Reise in eine der Monokulturen zwischen Pakistan, Burkina Faso und Argentinien empfohlen. Die Bezeichnung „versteckter Genozid“, wie betroffene Argentinier_innen die Situation bezeichnen, erscheint dann plötzlich nicht mehr so unglaublich.
Es spricht nicht für den Fortschritt des von Rahel Carson beschriebenen „intelligenten Wesens“, wenn es vierzig Jahre nach DDT noch immer auf Produkte setzt, die seine eigene Lebensgrundlage gefährdet. Und es spricht nicht für das Funktionieren einer Zivilgesellschaft, wenn Firmen wie Syngenta, Bayer oder BASF – die drei größten Produzenten von Pestiziden weltweit – ihre Hauptsitze in Ländern haben, in denen Werte wie Demokratie, Umwelt oder Menschenrechte hochgehalten werden, ohne dass sich dort Widerstand regt wie in Cordoba oder Alberti. Umwelt-Bewusstsein scheint zwar vorhanden. Doch eine breite öffentliche Diskussion über die herrschenden Produktionsmethoden in der Landwirtschaft – also über einen wesentlichen Teil der menschlichen Lebensgrundlage – findet möglicherweise erst statt, wenn das „intelligente Wesen“ merkt, dass man Geld nicht essen kann.