Musik | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

Tragische Königin im Zirkuszelt

Violeta Parra prägte wie keine andere die nueva canción chilena

Die Geschichte der chilenischen Musik dieses Jahrhunderts wurde entscheidend von einer kleinen Frau mit rauher Stimme und leidenschaftlicher Seele geprägt: Violeta Parra. In ihrem rastlosen, von zehrender Armut und stillem Glück geprägten Leben suchte sie als Sängerin, Komponistin, Musikforscherin, Schriftstellerin und Künstlerin, das Beste der chilenischen Kultur zu bewahren in einer Zeit, die sich durch Ignoranz den eigenen kulturellen Wurzeln gegenüber auszeichnete.

Christian Harkensee

Violeta Parra wurde 1917 in einem kleinen Ort im Süden Chiles geboren. Als ihr Vater, ein verarmter Dorflehrer, wenige Jahre später starb, besann sich ihre Mutter ihrer früheren Arbeit als Sängerin und tingelte mit ihren zehn Kindern jahrelang durch Zirkusarenen, Bars und Musikkneipen, den “Peñas”. Mit 15 Jahren kam sie nach Santiago, und gemeinsam mit ihrer Schwester trug sie in den Bars der Stadt die alten, von der Mutter gelernten Volkslieder vor und griff aktuelle Musik auf. Die dreißiger Jahre in Chile waren die Dekade der “Primera Onda Folklorica”, der ersten Volkslied-Welle. Das Volkslied war zu jener Zeit die Musik der städtischen Arbeiter und der Landarbeiterfamilien, die wegen der wirtschaftlichen Rezession in die Städte geflohen waren. Mit zwanzig heiratete sie einen fast doppelt so alten Eisenbahnangestellten, der ihr die Musik verbot, und bekam ihre beiden Kinder Angel und Isabel. Fast zehn Jahre sollte es dauern, bis sie sich aus dem Drama dieser Ehe befreite.

Volkslieder vor der Vergessenheit bewahren

Sie nahm ihre Gitarre bei der einen und ihre Kinder bei der anderen Hand und reiste kreuz und quer durch das Land, sang und begann, Lieder, die ihr unterwegs begegneten, aufzuzeichnen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das ursprüngliche Volkslied in Chile vor der Vergessenheit zu bewahren. So sammelte sie mehr als 3000 Lieder und bekam dafür bei Radio Chilena gar eine eigene wöchentliche Sendung. Zu dieser Zeit entstanden auch ihre ersten selbst geschriebenen Lieder, die den traditionellen Rahmen der Volksmusik überschritten: Lieder voll zornigem Sarkasmus über die gesellschaftlichen Verhältnisse, zarte Liebeslieder, die jedes Klischee sprengten, eine Rückbesinnung auf die Rhythmen und Instrumente der Andenvölker. Violeta Parra war es, die fast vergessene Instrumente wie das Charango, die Zampona und die Quena wieder populär machte. 1954 wurde sie mit dem “Premio Caupolicán”, dem bedeutendsten Volksmusikpreis in Chile, ausgezeichnet.

Reisen für die Musik

Es folgten Jahre des Reisens, bis nach Europa, Skandinavien, und in die Sowjetunion. Allein in Paris blieb sie zwei Jahre, lernte dort Malraux und Sartre, Picasso und ihr großes Vorbild, Edith Piaf, kennen. Zurück in Lateinamerika, durchzogen ihre Wege auf der Suche nach Musik den ganzen Kontinent: Argentinien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Wieder in Santiago, erkrankte sie schwer, blieb monatelang ans Bett gefesselt, lernte in der Zeit Töpfern, Malen und Weben, entfaltete darin ein derartiges Talent, daß sie bei ihrem zweiten Paris-Aufenthalt im weltberühmten Musée du Louvre ausstellte – als erste lateinamerikanische Künstlerin trat sie ein in den Pantheon der europäischen Kultur, damals eine Sensation.
Als sie 1964 abermals nach Santiago zurückkam, begann die Morgendämmerung der zweiten chilenischen Folklorewelle, die ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Zusammen mit ihren Kindern Angel und Isabel gründete Violeta Parra 1965 die legendäre “Peña de los Parra” im Zentrum Santiagos, und diesmal waren es die jungen Menschen, Arbeiter, Studenten, Schüler, die diese neue Bewegung emporhoben, die zu Violeta Parra kamen, um zu lernen: Victor Jara, Patricio Manns, die jungen Musiker von Illapu, Inti Illimani und Quilapayún. Sie errichtete am Rande von Santiago ein altes Zirkuszelt, Hommage an ihre Kindheit, und nannte es ironisch “La Carpa de la Reina”, das Zelt der Königin.

Selbstmord an der Schwelle zum Weltruhm

Hier fand man sie an einem lauen Sommermorgen des Jahres 1967 tot in ihrem Bett: Das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Liebe zu dem Ethnologen Gilbert Favre, Geldsorgen, die Repressionen der Regierung Frei raubten ihr den Lebensmut, liessen sie sich selbst töten – an der Schwelle zum Weltruhm. Die Welle folkloristischer Musik, die Suche nach der Kraft der eigenen Wurzeln hatte den gesamten amerikanischen Kontinent erfaßt, für kurze Zeit die traditionellen kulturellen Grenzen überschritten. Posthum wurde ihr letztes Lied, interpretiert von der Nordamerikanerin Joan Baez, zu einem Welterfolg: “Gracias a la vida”.
In Chile selbst wurde sie zur Mutter des “Movimiento de la Nueva Canción Chilena”, der “Neuen Gesangsbewegung”, deren Schicksal sich eng mit dem Aufstieg und Fall von Salvador Allende, dem ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, verbinden sollte. Allende war es dann auch, der gemeinsam mit Pablo Neruda den Trauermarsch für Violeta Parra durch die Straßen Santiagos anführte: Einen “Marsch tausender Menschen des Protestes, des unendlichen Bedauerns, der Blumen und der Tränen” (Patricio Manns).

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