Über alles Gedachte und zu Erdenkende
José Manuel Prieto übt sich in der aussterbenden Kunst, einen Liebesbrief zu schreiben. Wenigstens den Entwurf lässt er uns lesen
Es ist wohl unvermeidlich: Wer Schriftsteller ist und aus Lateinamerika stammt, wird nach seiner politischen Meinung gefragt, ganz unabhängig davon, ob dies für seine Bücher von Bedeutung ist. Das hat seinen Grund. Gerade in Lateinamerika haben sich unzählige Schriftsteller politisch exponiert, sei es für Regierungen – als Botschafter zum Beispiel – oder gegen sie, als Guerilleros, Parteigänger, Publizisten. Kuba ist in dieser Hinsicht ein Extrem- und zugleich ein Sonderfall, denn das kubanische Revolutionsprojekt hat in höchstem Maße Solidarität wie Ablehnung von Intellektuellen und Schriftstellern hervorgebracht.
Bei José Manuel Prieto funktioniert der Reflex beim Publikum perfekt. Der kubanische Autor, der sich 1995 nach langjährigem Russlandaufenthalt dafür entschied, weder nach Havanna noch nach Miami, sondern nach Mexiko-Stadt zu gehen, ruft bei einer Berliner Lesung im September 2003 die entsprechenden Fragen hervor: Warum nicht Kuba? Welche Chance gibt er Fidel Castro noch? Wie beurteilt er die skandalöse Verhaftung des regimekritischen Lyrikers Raúl Rivera im Frühjahr 2003? Prieto allerdings verblüfft: Er antwortet knapp und an der Grenze zum Unhöflichen. Gesprächig wird er erst, als sich jemand für Liwadija interessiert, den Roman, aus dem er gerade vorgelesen hat.
Am Rande der Veranstaltung spreche ich ihn darauf an. Warum diese Einsilbigkeit, wenn es um Politik geht? Er äußert sich entschieden: “Wir reden hier über einen Roman. Er handelt von Liebesbriefen, von Literatur. Liwadija hat nicht im Geringsten mit Politik zu tun, ich habe nicht vor, damit eine politische Situation anzuklagen, ich möchte kein Plädoyer für oder gegen irgendetwas halten. Mir geht es darum, dass die Politik nicht auf der Literatur lastet, sie nicht schwer macht. Natürlich, ich habe meine politischen Ansichten wie jeder x-Beliebige” – und er wird sich später auf einer Podiumsdiskussion zur Lage in Kuba deutlich gegen Castros Regime aussprechen, insbesondere gegen die Massenverhaftungen und -verurteilungen im Frühjahr 2003 –, “aber wenn Sie einen Klempner brauchen, dann wollen Sie, dass er Ihre Wasserleitung in Ordnung bringt. Seine politische Meinung interessiert Sie normalerweise nicht besonders.”
Kein Griff zur Schublade
Die Identifikation über politische Positionen, die von anderen Schriftstellern gerade gesucht wird, möchte José Manuel Prieto vermeiden. Dabei erweckt auch Liwadija auf den ersten Blick den Anschein eines politischen Zeitromans. Der Ich-Erzähler J. ist Schmuggler im Osten Europas nach dem Ende der Sowjetunion. Er verhökert die Reichtümer des verblichenen Imperiums, er zelebriert die durchlässig gewordenen Grenzen und die illegale Variante des Geschäftemachens. J., ein Leichenfledderer? Ein Verwerter der sozialistischen Restposten, Avantgardist der ungebremsten Globalisierung? Es sieht so aus. J. handelt mit Überbleibseln der Roten Armee, verlegt sich dann aber auf die kleineren Formate: Sein größter Kunde, der Schwede Stockis sucht einen seltenen, vielleicht schon ausgestorbenen Schmetterling, den es im Wolga-Delta am Kaspischen Meer noch geben soll. Ein Plädoyer für den Erhalt der Artenvielfalt?
Prieto siedelt Liwadija sehr wohl in diesem tagesaktuellen Ambiente an, aber im Grunde geht es doch um etwas anderes. Im Zentrum stehen eine abwesende Frau, die russische Prostituierte W., und ihre Briefe. J. lernt sie in Istanbul kennen, wo sie ohne Papiere zur Arbeit gezwungen wird. Er verliebt sich und “schmuggelt” sie im Frachtraum eines Schiffes in ihre Heimat zurück. Kaum in Odessa angekommen, macht sie sich aus dem Staub. Dann jedoch schreibt sie J. Briefe. Die sieben Kapitel des Romans, in denen J. jeweils einen Brief von W. erhält, sind zusammengenommen eine Art Entwurf für den Antwortbrief an W., den er mit den letzten Worten des Buches beginnen wird: “Liebe Warja”.
J. hat sich unterdessen ein Quartier auf der Krim gesucht und es in Liwadija gefunden, einem Vorort von Jalta, just neben jenem Palast Zar Nikolaus II., in dem 1945 die Alliierten ihre Nachkriegspläne besprachen. Hier findet er Ruhe, um sich in der Kunst des Briefschreibens zu üben – zur Anregung lässt er sich von einem Petersburger Buchhändler namens Wladimir Wladimirowitsch mit Ausgaben literarischer Briefwechsel versorgen –, um sich über sich selbst und seine Liebesgeschichte klar zu werden und die Gedanken schweifen zu lassen.
J.s Briefentwurf ist ein langer, dichter, fabulierfreudiger Text, der über alle Tagespolitik weit hinausgeht. Mühelos reiht sich Episode an Episode, knüpft Prieto mit hoher sprachlicher Eleganz ein Netz literarischer, historischer, philosophischer Beziehungen. Sei es das Obdachlosenasyl in Helsinki oder das Gespräch mit der Pensionswirtin in Liwadija, sei es eine Eifersuchtsszene in Istanbul, weil W. einen Kunden allzu liebevoll bedient, oder die ungeschickte Schmetterlingsjagd im Wolga-Delta – fast immer reicht dem Autor der Atem, und die wenigen holperigen Passagen sind schnell vergessen.
Dabei beeindruckt J.s Ernsthaftigkeit. Nicht metapherntrunkenes Imponiergehabe, sondern etwas so Altmodisches wie Selbst-Aufklärung ist sein Ziel – hier sucht einer seine Wahrheit. Er fällt sich selbst ins Wort, korrigiert sich, um schließlich mit der nötigen Klarheit an W. schreiben zu können – wobei er durch seine abenteuerliche Lebensgeschichte allerdings erst einmal hindurch muss.
Hier und da streut er Zitate aus den Briefen der Weltliteratur ein. Das ist nicht immer überzeugend und wirkt bisweilen wie eine Blütenlese – bis auf einen Brief: den letzten, der in voller Länge eingefügt ist. Es ist der Brief der Henriette Vogel an ihren Verlobten Heinrich von Kleist, geschrieben 1811, unmittelbar vor dem Selbstmord des Paares. Dieser Brief ist eine einzige Kette von Liebesworten: “Mein Heinrich, mein Süßtönender, mein Hyazinthbeet, mein Wonnemeer … meine Luft, meine Wärme, mein Gedanke …”, und er endet: “… wie über alles Gedachte und zu Erdenkende lieb ich Dich. Meine Seele sollst du haben. Henriette”. Hier ist die völlig sich hingebende Liebe in nichts anderes gefasst als einzelne Worte, hier werden Geschichten überflüssig und ist alles Fabulieren zu Ende.
Indem Prieto gerade diesen Brief ans Ende des Romans setzt, und indem er den Brief, den J. nun an W. schreiben wird, nur durch die Anrede zu erkennen gibt, verleiht er dem Roman eine unerhörte Radikalität: Das erzählende Schreiben selbst hebt er auf; hier, angesichts der Liebe bis auf den Tod, hat die Kunst eine Grenze. Warja erreicht er nicht durch einen Roman, nicht durch raffiniert erzählte Geschichten, sondern, wenn überhaupt, dann nur durch einen wirklichen Liebesbrief. Und es ist nicht etwa so, dass der Schluss auf den Anfang verweist, dass man sozusagen den Brief schon in der Hand hielte und der Roman selbst eigentlich der Brief wäre, den er bereits geschrieben hat – nein, wir kennen J.s Brief an W. nicht, das weiße Papier am Ende ist echt.
Meine Seele sollst du haben, nicht meine Kunst
Mit dem radikalen Schluss ist auch ein Spiel ausgespielt, das Prieto im gesamten Roman unter der Oberfläche getrieben hat: Liwadija ist eine grandiose Hommage an Vladimir Nabokov, den russisch-amerikanischen Schriftsteller, der wie Prieto zwischen den Kontinenten und Sprachen gelebt und seinen Ort in der Literatur gesucht und gefunden hat. Nicht nur, dass Liwadija im Original 1999 erschien, im hundertsten Geburtsjahr Nabokovs, nicht allein, dass der sich selbst ins Wort fallende Stil und die episodenhafte, zufällig wirkende, aber genauestens komponierte Handlung an den Verfasser des Pnin und der Lolita erinnern – in unzähligen mehr oder weniger versteckten Anspielungen ist Liwadija ein Buch der Verehrung Nabokovs, dessen Romane Prieto übrigens selbst ins Spanische übersetzt hat. Zu den auffälligeren Anspielungen gehören selbstverständlich die Jagd nach Schmetterlingen, die Nabokovs Hauptnebeninteresse waren, und jener Petersburger Buchhändler, der Nabokovs Vor- und Vatersnamen trägt; Nabokov wurde in Petersburg geboren. Von diesem Buchhändler erhält J. ein Buch über Schmetterlinge, verfasst von einem gewissen W. Sirin – unter diesem Pseudonym veröffentlichte Nabokov in den zwanziger und dreißiger Jahren in Berlin seine ersten Romane.
Nabokov, nach Hause geschmuggelt
Als Nabokov mit seiner Familie 1917 vor der Oktoberrevolution floh, fand er zunächst Unterschlupf auf der Krim – in Gaspra, nur wenige Kilometer von Liwadija entfernt. Hier erhielt Vladimir Nabokov Briefe von seiner Geliebten, auf die er jedoch nie antwortete. Schließlich musste die Familie auch von der Krim fliehen – von Sewastopol über Istanbul und Marseille nach England, auf einem Frachtschiff.
Eine besonders weit reichende Parallele wurde in der deutschen Fassung unnötigerweise unkenntlich gemacht: W. (die erst im letzten Wort des Romans als Warja erscheint, sonst immer nur als Abkürzung) wird im spanischen Original V. geschrieben. “V” heißt aber auch jener ominöse Erzähler in Nabokovs erstem englischsprachigen Roman Das wahre Leben des Sebastian Knight, der sich schließlich als Knights Doppelgänger entpuppt; auch in Liwadija ist immer wieder von Doppelgängern die Rede. Der Verlag hat sich für die traditionelle Transkription mit “W” entschieden, besser hätte er die neuere verwendet, nach der beispielsweise Tschechow “Cechov” geschrieben wird.
Alles dies ein Spiel für Eingeweihte? Ich denke, nicht. Am Schluss von Liwadija liefert Prieto den Schlüssel, indem er Nabokov namentlich auftauchen lässt. Er macht das Spiel kenntlich und beendet es. Im Einklang mit dem Verzicht auf das Fabulieren, von dem die Rede war, ist das ein notwendiger, zwangsläufiger Schritt: Der Brief an Warja wird erst möglich, wenn J. auch die literarischen Kunstgriffe, das kluge Spiel, beiseite gelassen hat.
Und warum gerade Nabokov? Vorsichtig ließe sich nach einer geistigen Verwandtschaft zwischen beiden Exilierten fragen. Nabokov war für seine Kritik an der Sowjetführung genauso bekannt wie für seine Abscheu gegenüber den sentimentalen Exil-Monarchisten, die vor allem um ihren verlorenen Besitz trauerten. Nabokovs Vater war liberaler Duma-Abgeordneter, dessen Traum eines nichtzaristischen, bürgerlich-demokratischen Russland durch die Oktoberrevolution zunichte gemacht wurde. Ohne den Vergleich zu sehr zu strapazieren – dies könnte auch als eine politische Verortung des in Mexiko, also weder in Miami noch in Havanna lebenden José Manuel Prieto verstanden werden. Schwer wird der Roman dadurch nicht.
José Manuel Prieto: Liwadija. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004, 353 Seiten, 22,90 Euro.