Brasilien | Nummer 363/364 - Sept./Okt. 2004

UNO nimmt Wohnverhältnisse in Recife unter die Lupe

Der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen Miloon Kothari besuchte Brasilien

Anfang Juni schickten die Vereinten Nationen ihren Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen in mehrere Städte Brasiliens. Sein Bericht wird für die jeweilige Wohnungsbaubehörde wenig schmeichelhaft ausfallen.

Jan Schikora

Miloon Kotharis Urteil war frustrierend: Die Elendsviertel in der Nordost-Metropole Recife gehörten zu den schlimmsten, die er bislang weltweit gesehen habe. Dabei fehle es nicht an finanziellen Mittel, sondern am politischen Willen, um das Wohnproblem ohne externe Hilfe in den Griff zu kriegen.
Miloon Kothari, ein indischer Architekt, ist seit 2000 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf angemessenes Wohnen. Vom 30. Mai bis 13. Juni besuchte der UN-Beauftragte Brasilien. Begleitet wurde er von dem Anwalt Nelson Saule Júnior, der von brasilianischen Menschenrechtsorganisationen zum Nationalen Berichterstatter für das Recht auf Unterkunft berufen wurde.

Schockierende Umstände auf engstem Raum

Kothari, der Recife am 10. Juni besuchte, nahm offizielle Termine mit VertreterInnen der kommunalen und bundesstaatlichen Ebene wahr. Er besuchte dabei ein Gemeinschaftsprojekt beider staatlicher Ebenen im Wasser– und Abwasserbereich. Das bewog ihn zunächst zu der Meinung, die von der Arbeiterpartei PT geführte Stadtregierung von Recife und die konservative PMDB-Landesregierung nähme sich des Themas vergleichsweise engagiert an. Zu einer gänzlich anderen Einschätzung gelangte der UN-Berichterstatter allerdings wenig, als er gemeinsam mit Vertretern der Zivilgesellschaft die Elendsquartiere Vila Imperial und Água Fria besuchte.
Regelrecht geschockt zeigte sich der ansonsten sachlich wirkende Khotari nach dem Besuch von Vila Imperial. Die auf engstem Raum errichteten provisorischen Unterkünfte aus Pappe, Blech und Holz für 154 Familien liegen am Rande eines der zahlreichen Viadukte des einstigen „Venedigs der Neuen Welt“. Pläne der Stadtverwaltung, die Familien umzusiedeln, liegen bislang auf Eis. Die Unterkünfte, so Khotari nach dem Besuch, gehörten zu den schlimmsten, die er bislang weltweit gesehen habe.

Improvisiertes Überleben

Kaum anders gestaltet sich die Situation in Água Fria. Dort halten rund 160 Familien der Obdachlosen-Bewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST) seit gut einem Jahr ein schmales öffentliches Terrain besetzt, auf dem sie in drei Reihen notdürftig Hütten aus Brettern, Pappe und Wellblech errichtet haben. Die Stromversorgung ist improvisiert, Müllabfuhr und Abwasserentsorgung gibt es nicht. Durch die Mitte zweier Reihen von Bretterbuden, den Hauptweg, zieht sich ein stinkendes, giftgrünes Rinnsal. Nachts wimmele es von Ratten und Kakerlaken, so eine Anwohnerin.

80.000 Wohnungen zu wenig

Vertraut man den Schätzungen der in diesem Bereich sehr engagierten lokalen Nichtregierungsorganisationen, so liegt das Defizit allein in der Stadt Recife bei mindestens 80.000 Wohnungen. Landesweit, so Nelson Saule Júnior, haben rund 11,7 Prozent der Bevölkerung, oder gut 20 Millionen Menschen, entweder überhaupt keine oder keine angemessene Unterkunft und leben wie die Leute von Vila Imperial in prekärsten Verhältnissen.
In einer vorläufigen Empfehlung sprach sich der UN-Berichterstatter für eine bessere Abstimmung der verschiedenen staatlichen Ebenen aus. Trotz zahlreicher guter Projektansätze seien diese räumlich meistens stark begrenzt oder nicht nachhaltig. So werden beispielsweise nach Wahlen Projekte der Vorgänger aus politischem Kalkül häufig nicht fortgeführt. Zudem müssten grundsätzlich mehr Ressourcen in den Wohnungsbau gesteckt werden anstatt in teure Infrastrukturprojekte im Touristikbereich. Bei der Aufnahme von Krediten beim Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank, so Kothari weiter, müsse die brasilianische Regierung darauf hinwirken, dass bei aller Haushaltsrigidität der notwendige Spielraum eingeräumt werde, um den sozialen Wohnungsbau zu subventionieren.

Verstärkter internationaler Druck

Während seiner Reise hatte Kothari neben Recife auch die Wohnsituation in São Paulo, Brasília, Formosa, Alcântara, einer Kleinstadt bei São Luís, Rio de Janeiro, Fortaleza und Salvador und der indigenen Gemeinden in Bertioga untersucht. Auf der Grundlage seiner Beobachtungen wird er einen Bericht anfertigen. Diesen wird er bei der 61. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission zum 5. April des nächsten Jahres offiziell vorstellen. Beurteilt wird dann, inwiefern der brasilianische Staat seiner Pflicht nachkommt, das in Art. 11 des UN-Abkommens über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte festgelegte Recht eines/r Jeden auf eine angemessene Unterkunft zu garantieren beziehungsweise geeignete Umsetzungsmaßnahmen trifft (Art. 2, I). Brasilien hatte das Abkommen 1992 ratifiziert.

Kasten:
Das Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST)
Die Obdachlosenbewegung des Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST) ist in Brasilien eine relativ junge Bewegung. Sie wurde Ende der 90er Jahre gegründet und ähnelt nicht nur namentlich, sondern auch in Bezug auf Ausrichtung und Methodik zum Großteil der Landlosenbewegung MST – Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra. Die rapide Verstädterung Brasiliens der letzten Jahrzehnte hat geschätzte 15-20 Millionen Obdachlose hervorgebracht. Zugleich stehen in den bra silianischen Großstädten infolge einer verfehlten Stadtentwicklung, Grundstücksspekulation und anderer Missstände zahlreiche Häuser in zentraler Lage leer, Grundstücke liegen brach. Das MTST führt Obdachlose zusammen, um die systematische Besetzung dieser Häuser und Grundstücke durchzuführen und damit die Stadtverwaltungen dazu zu bewegen, sich des Wohnraumproblems konkret anzunehmen.

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