El Salvador | Nummer 599 - Mai 2024

Unschuldig hinter Gittern

Wie das Stigma der Armut in El Salvador zum bitteren Überlebenskampf führt

Das Leben von Juan* scheint in besonderer Weise vom Unglück verfolgt – und gleichzeitig ist es doch typisch für das Schicksal einer vergessenen und stigmatisierten Jugend aus vormals von den Banden kontrollierten Zonen in El Salvador. Davon, wie willkürlich und grausam der aktuelle Ausnahmezustand unter Nayib Bukele, psychisch und körperlich beeinträchtige Menschen und ihre Familien in besonderer Weise trifft, handelt der hier beschriebene Fall von Juan* und seiner Familie, der von der Autorin im Rahmen eines Besuchs vor Ort dokumentiert wurde.

Die Reportage enthält explizite Beschreibungen physischer Gewalt und ihrer psychischen Folgen.

*Alle Namen wurden aus Sicherheits­­gründen von der Redaktion geändert.

Von Antonia Rodriguez Sanchez, San Salvador
 Ungewisses Warten Familien von inhaftierten Personen bringen Essenspakete ins Gefängnis (Foto: Antonia Rodriguez Sanchez)

Seit mehr als zwei Jahren gilt in El Salvador der Ausnahmezustand. Mit der Begründung, die Bandengewalt bekämpfen zu wollen, hat der populistische Präsident Bukele essenzielle Bürgerrechte außer Kraft setzen lassen (siehe LN 586). Seither sind über 75.000 Personen, viele ohne Anklage und Prozess, in die sowieso schon überfüllten Gefängnisse gesperrt worden. Die Menschenrechtsorganisation Cristosal geht davon aus, dass sich darunter etwa 20.000 unschuldig Verhaftete befinden. Ein Beispiel ist der hier geschilderte Fall von Juan.

Juan kommt aus einer der ärmsten Gegenden El Salvadors an der Südküste des Landes. Seine Familie ließ sich hier nach den Friedensverträgen 1992 nieder. Ihre Herkunftsgemeinde im Südosten des Landes war Opfer von durch das Militär und Todesschwadronen verübten Massakern geworden, bei denen auch Juans Großeltern ums Leben kamen. Die Familie lebt an ihrem neuen Wohnort vom Fischfang und der Landwirtschaft. Ein Einkommen von weniger als fünf Dollar am Tag ist hier der Standard. Die Jugend versucht, in die USA zu migrieren, denn die Zukunftsaussichten sind düster. In vielen Orten ist eine Migrationsrate von über 40 Prozent üblich, so auch in der Gemeinde, in der Juan lebt. Das liegt nicht allein daran, dass es kaum Arbeit gibt, sondern auch an der Bandenkriminalität.

Juan ist 13 Jahre alt und gerade mit Freunden mit dem Fahrrad auf dem Rückweg von der Geburtstagsfeier eines Schulkameraden im Nachbardorf, als die Gruppe in eine Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Banden gerät. Im Feuergefecht wird genau einer der Jugendlichen getroffen: Juan. Die Kugel dringt durch den Rücken in seine linke Brust, nahe dem Herzen. Monatelang liegt er auf der Intensivstation, vergeblich versuchen Ärzt*innen, die Kugel zu entfernen und lassen sie schließlich im Körper, um kein weiteres Risiko einzugehen. 2016 erschießen Bandenmitglieder vor Juans Augen seine Tante, als diese ihnen kein Essen geben will. Wie Jahre zuvor bei Juan, werden auch in diesem Fall die verantwortlichen Täter nie ermittelt.

Flucht vor Gewalt und Vorverurteilung

Die Polizei versucht nur halbherzig, dem Bandenproblem in der Gegend Herr zu werden und nimmt dabei vor allem junge Menschen wie Juan ins Visier. Die Narbe, die sein Körper seit seinem 13. Lebensjahr trägt, wird ihm dabei immer wieder zum Verhängnis. Oft kommt er voller blauer Flecken nachhause und erzählt, die Polizei habe ihn wegen der Narbe für ein Bandenmitglied gehalten und ihn dafür bestrafen wollen.

Dabei versucht Juan, das Beste aus dem Leben zu machen. Sein Vater, ein ehemaliger Guerillakämpfer, fährt neben der Fischerei ehrenamtlich einen Krankentransport. Juan und seine Schwester Maria* begleiten ihn oft während seiner 24-stündigen Bereitschaftsdienste und helfen bei den Einsätzen. Gemeinsam bringen sie kranke oder verletzte Personen ins Krankenhaus oder helfen Flutopfern. Regelmäßig bergen sie auch ermordete Bandenopfer aus dem nahegelegenen Fluss.

Irgendwann, da ist Juan 19, beschließt er, in die USA auszuwandern. Er hat jetzt einen kleinen Sohn, dem er eine bessere Zukunft bieten möchte. Außerdem hat er die Schikanen der Polizei satt. Als Zeichen seiner Verbundenheit zur Familie lässt er sich auf der Fluchtroute von einem Freund mehrere Tattoos stechen: Am Hals trägt er fortan den Namen seines Sohnes und einen Anker als Zeichen für seine Identifikation als Fischer. Auf der Brust prangt, eingerahmt von einem Herzen, der Name seiner Mutter und am Handgelenk trägt er die Namen der Töchter seiner Schwester Maria. Doch Juan kommt auf seinem Weg nach Norden nicht weit. Im Süden Mexikos greift ihn die Migrationsbehörde auf, sperrt ihn mehrere Wochen ins Gefängnis und schiebt ihn zurück nach El Salvador ab.

Am 14. Dezember 2021 hat Juan einen schweren Motorradunfall. Wochenlang kämpfen Ärzt*innen um sein Überleben. Er liegt im Koma und hat schwere Hirnschäden. Jeden Tag bei ihm: seine Schwester Maria. Sie ist es auch, die die Ärzte, als sie die lebenserhaltenden Geräte abstellen wollen, anfleht, noch drei Tage zu warten. Am dritten Tag erwacht Juan aus dem Koma. Er kann nicht laufen und erinnert sich an nichts. Maria kümmert sich nun täglich um ihn. Sie bringt ihm wieder das Laufen bei, wäscht ihn, füttert ihn mit flüssigem Maisbrei, dem einzigen, was er zu sich nehmen kann, und versucht, seine Erinnerungen zurückzuholen. Er erhält starke Medikamente und macht langsam Fortschritte.

Von der Intensivstation ins Gefängnis

Am 9. April 2022, da ist es gerade zwei Wochen her, dass der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, stehen plötzlich mehrere Soldaten vor dem Haus. Sie durchsuchen das Haus und finden Juan, der immer noch bettlägerig ist und sich nur unter großen Schwierigkeiten bewegen kann.
Die Soldaten zerren Juan ins Freie, nehmen ihm sein gesamtes Erspartes, 85 Dollar, weg und zerstören sein Handy, das ihm sein Vater kurz zuvor geschenkt hatte. Er hatte Kindervideos und Familienfotos darauf geladen, „um die Erinnerungen seines Sohnes zurückzuholen”, so der Vater.

Die Soldaten zertreten auch seine Medikamente und bewerfen ihn mit Essen. Dann nehmen sie ihn mit. Der Vater rennt mit den zertretenen Medikamenten hinterher, aber der Soldat sagt nur: „Dort, wo wir ihn hinbringen, gibt es keine Medikamente.” Dann lässt er auch den Vater verhaften. Als dieser seiner Frau Bescheid geben will, sagt der Soldat: „Wir haben keine Zeit, bis 0 Uhr brauchen wir sechs Verhaftungen, mit euch haben wir bisher nur drei.” Auf dem Weg werden drei Jugendliche aufgesammelt, die gerade Kies aus einem LKW laden. Die Soldaten fragen weder nach ihren Namen, noch erläutern sie ihnen den Grund der Verhaftung

27 Tage sitzen Vater und Sohn in einem lokalen Gefängnis fest. Die Haftbedingungen verstoßen hier wie in vielen Gefängnissen El Salvadors gegen die Menschenrechte: Tagelang harren die Inhaftierten ohne Wasser und Essen aus. Über 200 Personen sitzen in Zellen, die für 70 Personen ausgelegt sind. Es steht nur eine Toilette zu Verfügung und die Personen schlafen auf dem kalten Betonboden, sofern sie nicht wegen Platzmangels stehen müssen. Die Kontrolle haben hier Bandenmitglieder und Gefängniswärter. Die Zellen sind mit imaginären Grenzen durchzogen, die die verfeindeten Banden voneinander trennen. In der Mitte ist die unschuldige Zivilgesellschaft untergebracht, die sich den Kommandos der Bandenanführer und der Gefängniswärter fügen müssen. Das Übertreten der Grenzen, zu langsames Laufen, jeglicher Fehler wird mit Schlägen bestraft. Alte oder körperlich beeinträchtigten Menschen werden besonders häufig Opfer von Gewalt. Teilweise müssen sie nach Aussagen ehemaliger Gefängnisinsassen stundenlang ohne Wasser unter der prallen Mittagssonne ausharren, werden geprügelt und beschimpft. „Wir haben jeden Tag Tote gesehen“, schildert Juans Vater die Zeit im Gefängnis. Er stellte sich, wann immer es ging, schützend vor seinen Sohn.

Juan ist inmitten dieser Hölle völlig orientierungslos, fleht seinen Vater um Wasser an und versteht nicht, wo er gelandet ist. „Das ist ein Militärcamp”, erklärt ihm sein Vater, „wenn wir den Test bestehen, werden wir als besonders tapfere Soldaten ausgezeichnet.” Juan und sein Vater bestehen den Test nur knapp. Als sie nach fast einem Monat die Freiheit wieder erlangen, sind sie abgemagert, haben alle möglichen Parasiten, offene Wunden und Foltermerkmale. Juan hat außerdem eine Gesichtslähmung davongetragen. Beide leiden seitdem unter starken Schlafstörungen, verlassen mitten in der Nacht schlaftrunken das Haus, um sich im Hof aufzustellen, wie sie es im Gefängnis mussten. Juan lebt nun bei seiner Schwester und macht gute Genesungsfortschritte. Aber er spricht sehr langsam, kann nichts riechen, verliert immer wieder das Gleichgewicht, humpelt und hat Schwierigkeiten, sich Dinge zu merken. Auch die Gesichtslähmung macht ihm zu schaffen und macht ihm das Essen schwer.

Verschollen hinter Gittern

Es ist der 31. Januar 2023. Juan hilft seinem Onkel, der am Haus einen Weg pflastert, da nähert sich eine Gruppe von Soldaten. Sie kommen aus Richtung einer nahegelegenen Kneipe und scheinen angetrunken zu sein. Sie fordern die Männer auf sich auszuziehen. Sie befinden sich gegenüber einer Schule, trotzdem müssen sie sich komplett nackt ausziehen. Als sie die Tattoos sehen, beginnen sie Juan als marero (Bandenmitglied) zu beschimpfen, stellen ihm Fragen. Weil er nicht sofort antwortet, packen sie seinen Kopf und schlagen ihn mehrmals gegen einen Baum.

Maria, die gerade im Haus duscht, hört den Lärm und rennt nur mit einem Tuch bekleidet raus. In der Hand hält sie den Freiheitsschein, den ihr Bruder bei Entlassung aus dem Gefängnis erhalten hat. „27 Tage sind zu wenig, der soll seine zwei Jahre absitzen”, entgegnet einer der Soldaten. Ein anderer droht ihr: „Geh wieder rein, oder wir nehmen dich auch mit.” Sie nehmen Juan fest. Eine Woche lang sitzt er in der Kellerzelle einer Polizeistation. Jeden Tag bringt Maria Essen für ihn, fleht die Polizisten um Hilfe an. Die sagen nur: „Da können wir nichts machen. Das Militär steht über uns.”

Sie weist darauf hin, dass Personen von Rechts wegen nicht zweimal mit der gleichen Anschuldigung verhaftet werden können, woraufhin der Grund von „Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung” in „Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung” geändert wird. Eines Tages gibt ihr ein Polizist zu verstehen, dass Juan gerade in einen Transportwagen gebracht werde, um ihn in ein Gefängnis zu bringen. Sofort rennt Maria zum Transporter, der im Innenhof steht, ruft seinen Namen und blickt durch einen Spalt plötzlich in Juans Augen. Sie halten sich an den Händen. Juan weint und fleht „Bitte hilf mir! Dort werden sie mich töten.” „Das war der schlimmste Moment”, erinnert sich Maria. „Das ist der Moment, der sich immer wieder vor meinem inneren Auge abspielt, denn er wusste, was ihn erwarten würde und ich konnte ihm nicht helfen.”

Ein Jahr und vier Monate sind inzwischen vergangen. Gesehen oder gehört hat die Familie seit diesem Tag nichts mehr von Juan. Jeden Monat fährt Maria mit ihrer Schwester ins mehrere Stunden entfernte Haftzentrum, wo Juan angeblich inhaftiert ist, und bringt ein Essenspaket dorthin. Die Familie muss dafür jeweils über 120 Dollar aufbringen. Ein Lebenszeichen bekommt sie nicht.

Unter Juans Abwesenheit leidet besonders stark sein mittlerweile sechsjähriger Sohn. Auch sein Vater findet keine Ruhe, muss ständig an die Bedingungen während der 27 Tage in Haft denken. Er versucht seine Hilflosigkeit zu bekämpfen, indem er anderen Gemeindemitgliedern hilft, die unschuldig inhaftiert waren und mittlerweile freigekommen sind. Er begleitet sie zu Arztterminen und bietet ihnen für einige Tage Obhut, wenn die Familie in der Zwischenzeit weg, das Haus unbewohnbar oder der mentale Zustand zu kritisch ist, um allein zu sein.

Als Maria Anfang 2023 kurz nach Juans zweiter Verhaftung im lokalen Menschenrechtsbüro um Informationen zu seinem Gesundheitszustand bat, sagte man ihr, sie solle in einem Jahr zurückkommen. Dreizehn Monate später, es ist Februar 2024, fragt sie wieder nach. „Kommen Sie wieder, wenn die Prozesse beginnen, also in zwei bis drei Jahren”, lautet die Antwort.

Juans Leben und das seiner Familie scheint in besonderer Weise vom Unglück verfolgt – und gleichzeitig ist es doch typisch für das Schicksal einer vergessenen und stigmatisierten Jugend aus vormals von den Banden kontrollierten Zonen in El Salvador. Häufig reicht für eine Festnahme ein Tattoo oder die Herkunft aus einer ehemals durch die Banden dominierten Zone aus. Insbesondere die verarmte Jugend läuft Gefahr, willkürlich verhaftet zu werden. Immer mehr Jugendliche wandern deshalb in die USA aus.

In den Gefängnissen kommt es nachweislich zu massiven Menschenrechtsverletzungen, sowie Folter und außergerichtlichen Tötungen. Mithilfe eines Anwalts, der sich Juans Fall unentgeltlich angenommen hat, hat die Familie Ende März 2024 ein Habeas Corpus-Gesuch eingereicht. Ein Habeas Corpus-Antrag ist ein Rechtsmittel, das verlangt, Auskunft über den Verbleib und das Wohlergehen einer inhaftierten Person zu erhalten und dass diese unverzüglich einem Haftrichter vorgeführt wird. Aber auch hier wartet die Familie seit Wochen vergeblich auf Antwort.

Heute ist Juan 25 Jahre alt. Die Hoffnung, dass er, trotz seines kritischen Gesundheitszustands noch am Leben ist, hat seine Familie nie aufgeben.

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