Brasilien | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Viel Licht und viel Schatten

Die Ereignisse im indigenen Brasilien überschlagen sich

Die 15.000 Makuxi, Wapixana, Ingarikó und Patamona konnten feiern: Ende April unterzeichnete der brasilianische Präsident Lula da Silva nach langem Hin und Her die Erklärung, die ihr Heimatterritorium „Raposa Serra do Sol“ im Bundesstaat Roraima zur geschützten „Area Indigena“ machte. Und auch die Gebiete der Awá- und Guarani-Kaiowá-IndianerInnen wurden nach langem Kampf den UreinwohnerInnen zurückgegeben. Währenddessen ist die Entwicklung für die indigene Bevölkerung Brasiliens andernorts bedrohlich: Ein kleiner, noch fast unbekannter Stamm steht möglicherweise vor der Ausrottung.

Jürg Endres

Es war ein Paradebeispiel für die schreckliche Lage der meisten Indigenen des Landes: Jahrelang wütete in Raposa Serra do Sol eine gewalttätige Einschüchterungskampagne der SiedlerInnen gegen die Indigenen, bei der im Laufe der Jahre mindestens 20 der UreinwohnerInnen getötet und hunderte verletzt wurden. Bewaffnete Männer terrorisierten im Auftrag der reichen Viehzüchter die eigentlichen EinwohnerInnnen und BesitzerInnen des Landes, ohne das Risiko einer Bestrafung einzugehen: Die Versprechen der Lula-Regierung, die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung in Zukunft strikter zu ahnden, wurden nie in die Tat umgesetzt. Auch sonst war Lula bislang für die Indigenen Brasiliens eine herbe Enttäuschung: Seine Wahlversprechen von 2002, die ein spezielles Notprogramm zur offiziellen Anerkennung der Indigenengebiete vorsahen, stießen damals bei den UreinwohnerInnen auf breite Zustimmung. Aber bislang wurden lediglich etwas über 50 Prozent des indigenen Landes vollständig anerkannt.
Um so überraschender war es, als der Präsident wenige Tage nach der Ratifizierung von Raposa Serra do Sol dann auch noch das Gebiet der Awá durch seine Unterschrift unter Schutz stellte. Der Stamm, der wahrscheinlich vor etwa 200 Jahren als Reaktion auf das immer weiter fortschreitende Vordringen europäischer Siedler sein sesshaftes Bauernleben zu Gunsten einer nomadischen Lebensweise als Jäger und Sammler aufgab, zählt nach jahrelangen Attacken durch Siedler heute nur noch etwa 200 Mitglieder. Rund 60 von ihnen leben immer noch tief im Regenwald verborgen und lehnen jeglichen Kontakt mit der Außenwelt ab.

Hoffnung auf Verbesserung

Am 20. Mai vollbrachte Lula auch noch ein drittes „Wunder“: Er ratifizierte Nhanderu Marangatu, die Heimat von 30.000 Guarani-Kaiowá Indigenen, als „Area Indigena“. Auch um dieses Gebiet hatten sich in den vergangen Jahrzehnten erbitterte Kämpfe und furchtbare Dramen abgespielt. Die Kaiowá waren in den Fünfziger Jahren gewaltsam aus diesem Gebiet – dem Herzstück ihres Landes, auf dem sich der für sie heilige Berg Marangatu befindet – vertrieben worden. Seither lebten sie unter unzumutbaren Bedingungen, zusammengepfercht auf nur 11 Hektar Land, was eine eigenständige Versorgung unmöglich machte. Ihre Selbstmordrate war eine der höchsten der Welt – eine Konsequenz aus dem Gefühl der Ohnmacht angesichts der Abhängigkeit von der mangelhaften Versorgung durch die Regierung. Einer der berühmtesten Indigenenführer Brasiliens, Marçal Tupa’i Guarani, wurde hier ermordet, nachdem er sich gegen diese Ungerechtigkeit ausgesprochen hatte.
Die Bestätigung Nhanderu Marangatus war von den drei jüngsten Ratifizierungen vielleicht die am wenigsten überraschende: Schon seit Monaten hatten sich schockierende Berichte über verhungerte Guarani-Kaiowá Kinder gehäuft. Mindestens 23 starben allein dieses Jahr in den im Elend versinkenden Reservaten an Unterernährung. Währenddessen bescherte das Land, das sie so dringend zum Überleben benötigten, der Agrarindustrie Rekorderträge an Soja, Zuckerrohr und anderen Rohstoffen. Menschenrechtsorganisationen wie Survival International, FIAN und Amnesty International hatten die Regierung wegen dieser Missstände immer wieder scharf kritisiert und durch das internationale Medieninteresse unter Druck gesetzt.
Die Ratifizierungen, die den Indigenen endlich ein Leben in relativer Sicherheit und Selbstbestimmtheit versprechen, sind zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Gerade für viele Guarani ist das Leiden aber noch lange nicht vorbei: Ihre Gemeinden in anderen Landstrichen kämpfen nach wie vor noch um eine Anerkennung ihrer angestammten Gebiete. So zum Beispiel in Guyra Roka und Paso Pirajú, wo noch nicht einmal Verhandlungen über die Anerkennung des Indigenlandes aufgenommen wurden und wo die IndianerInnen in ihrer Verzweiflung erst kürzlich eine sogenannte „Retomada“ begannen: Mit dem Mut derjenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, kehrten sie „illegal“ auf ihr Land zurück und stehen nun in ständiger Gefahr, von bewaffneten Angestellten der ViehzüchterInnen vertrieben oder umgebracht zu werden. Immerhin dürfte diesen Gemeinden die Ratifizierung Nhanderu Marangatus neuen Mut geben.

Kampf um die Existenz

Aus den Negativ-Schlagzeilen ist Brasilien wegen seiner Indigenenpolitik ohnehin noch lange nicht. Es spielt sich derzeit tief in den Wäldern Amazoniens noch ein anderes Drama ab, das in den letzten Wochen für große internationale Aufmerksamkeit sorgte und zunehmend das eben erst so mühsam gewonnene Bild einer aktiv für IndianerInnen engagierten Lula-Regierung ins Wanken zu bringen droht. Dort gefährden immer weiter vordringende Kettensägen und Bulldozern den Standort eines kleinen, noch nicht kontaktierten Indigenenstamm. Holzfäller dringen in die Heimat der Indigenen von Rio Pardo, ein, während jene selbst jeden Kontakt mit Fremden meiden. Dieser kleine Stamm, dessen Namen die Welt noch nicht einmal kennt, kämpft um seine Existenz. Möglicherweise handelt es sich bei der Gruppe um die letzten Überlebenden ihres Volkes. Vielleicht sind sie verwandt mit einem der zahlreichen Nachbarstämme, von denen sie baixinhos (die kleinen Menschen) oder cabeças vermelhas (die Rotköpfe) genannt werden. Seit den 80er Jahren wurden sie immer häufiger gesichtet und Gerüchte über sie häuften sich. Die Arara-IndianerInnen der Gegend berichten, dass sie sie in der Nacht bei ihren Dörfern gehört hätten, wo sie Tierlaute nachgeahmt hätten. SiedlerInnen, Gold- und EdelsteinschürferInnen stießen auf ihre verlassenen Häuser. Der staatlichen Regierungsbehörde für Indianerangelegenheiten, FUNAI, liegt Beweismaterial vor, das darauf schließen lässt, dass bewaffnete Holzfäller Jagd auf die IndianerInnen machen.
Viele Indizien deuten darauf hin, dass die IndianerInnen ständig auf der Flucht sind. Ihre verlassenen Gemeinschaftshäuser enthalten wichtige, zurückgelassene Gebrauchsgegenstände: Pfeile, Körbe mit Nüssen und Hängematten aus Pflanzenfasern. Spuren von Anpflanzungen gibt es nicht, was darauf hinweist, dass die Indigenen ihren Lebensunterhalt auf ihrer ständigen Flucht nur durch Jagen und Sammeln bestreiten. Man befürchtet, dass unter einem solchen andauernden Druck die Frauen keine Kinder mehr bekommen werden, was die Überlebenschancen des Stammes weiter verringern würde.
Im Mai 2001 erwirkte FUNAI eine gesetzliche Verfügung, die den Zugang zum indigenen Gebiet Rio Pardo untersagt. Dies bedeutet, dass ein Gebiet von 166.000 Hektar für die Indigenen reserviert ist, solange FUNAI damit beschäftigt ist, ihre Aufenthaltsorte und die Zahl ihrer Mitglieder herauszufinden. Trotzdem strömen Holzfäller, BodenspekulantInnen und SiedlerInnen in das Gebiet und die Auseinandersetzung um Land der Indigenen wird härter. Eine Gruppe von Holzfirmen hatte schon mehrmals die Aufhebung der gesetzlichen Verfügung zum Schutz des Gebietes durchgesetzt. Das letzte Mal gelang ihnen dies im März 2005, allerdings wurde jene Aufhebung zwei Monate später vom zuständigen Richter wieder rückgängig gemacht. In dieser kurzen Zeit hatten Firmen jedoch bereits die Gelegenheit ergriffen, eine Straße und Wege in das Rio Pardo – Gebiet zu bauen, was die Bedrohung der Indianer um ein Vielfaches vergrößert hat.
In einem Wettlauf gegen die Zeit hat FUNAI nun beschlossen, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als Kontakt mit dem Stamm aufzunehmen, der sich nun von allen Seiten mit Gewalt und Krankheiten konfrontiert sieht, gegen die seine Mitglieder keine Abwehrkräfte haben. Sydney Possuelo, der Leiter der Abteilung für nicht kontaktierte Indianer bei FUNAI, sagt: „Die Indigenen werden ausgerottet werden, wenn wir nicht sofort handeln.“
Die brasilianischen Gerichte und die Regierung sind nun gefordert, auf der Einhaltung der Verfassung zu bestehen, die den indigenen Völkern ihre Landrechte garantiert und das Gebiet schnellstens zu demarkieren und zu ratifizieren. Wenn es den Behörden nicht gelingt die Rio-Pardo-Indianer zu schützen und die Holzfäller aufzuhalten, wird ein weiterer brasilianischer Stamm bald nur noch Geschichte sein – noch bevor die Welt dessen Namen erfahren konnte.

Mehr Informationen unter:
www.survival-international.de
www.fian.org
www.amnesty.org


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