Land und Freiheit | Nummer 355 - Januar 2004

Von der Landwirtschaft im Erdölland

Die Agrarreform in Venezuela schreitet langsam voran

Die Landfrage gilt als ein zentraler Punkt der Regierung Hugo Chavez. Doch die Veränderung der historisch gewachsenen Verhältnisse gestaltet sich äußerst schwierig. Politische Entscheidungen scheitern an Interessenkonflikten und Blockadepolitik. Zudem fehlt der Landbevölkerung ein wirkungsvolles Sprachrohr.

Vilmar Schneider

In den letzten Jahren haben Polarisierung und Konfrontation die sozio-politische Szenerie Venezuelas bestimmt. Die Wahl 1998 und die Wiederwahl des ehemaligen Oberstleutnant Hugo Chávez Frias in das Präsidentenamt sowie die Reformen, die von seiner Regierung vorgeschlagen wurden, haben das Land gespalten. Die Agrarfrage spielt bei diesen Interessenskonflikten eine zentrale Rolle. Die Initiativen der Regierung in Sachen Agrarpolitik werden von weiten Teilen der ländlichen und städtischen Bevölkerung unterstützt. Auf der anderen Seite jedoch hat die Regierungspolitik Teile der Unternehmen, der traditionellen politischen Parteien und der GroßgrundbesitzerInnen gegen sich aufgebracht.
Die Polarisierung zwischen Regierung und Opposition hat die politische Entscheidungsfähigkeit extrem eingeschränkt, so dass Kompromisslösungen und die Umsetzung der Reformen verhindert werden.

Die Wurzel der Agrarfrage
In Venezuela ist der Grundbesitz stark konzentriert. Die Latifundien bringen kaum Erträge. Tausende von Familien sind vom Landbesitz ausgeschlossen und können sich deshalb nicht an der Produktion von Lebensmitteln beteiligen. Es wird geschätzt, dass 85 Prozent der in Venezuela konsumierten Lebensmittel importiert werden.
Dem Agrarzensus von 1998 zufolge gibt es 500.979 produktive Landparzellen, die zusammen 30 Millionen Hektar umfassen. Davon sind 0,98 Prozent Farmen, die größer als 1000 Hektar sind; auf diesen Latifundien konzentrieren sich 46,4 Prozent der kultivierbaren Fläche des Landes. Auf der anderen Seite bedecken Landparzellen, die kleiner sind als 10 Hektar, nur 16 Prozent der nutzbaren Fläche; 90 Prozent aller Agrarbetriebe sind solche kleinen Farmen. Anders ausgedrückt: fünf Prozent der LandbesitzerInnen kontrollieren 75 Prozent des Bodens.
Die ungleiche Verteilung von Grundbesitz hat historische und strukturelle Wurzeln. Die von Venezuela übernommenen Entwicklungsmodelle haben die Ungleichheit nur befördert. Der Übergang von einer Agrarwirtschaft zu einer Erdölwirtschaft, der in Venezuela im letzten Jahrhundert stattfand, hatte einen negativen Einfluss auf die Landwirtschaft und führte zu einer Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die urbanen und erdölproduzierenden Regionen des Landes.
In der Vergangenheit war die Landwirtschaft immer von staatlichen Subventionen abhängig. Aber die staatliche Unterstützung einiger landwirtschaftlicher Produkte hat weder die venezolanische Landwirtschaft entwickelt noch die ungleichen Besitzverhältnisse überwunden. Die unproduktiven Latifundien banden Land und Macht an sich und führten das Land in die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten.

Konzentration von Landbesitz
Eine andere Folge der ungerechten Landverteilung und der fehlenden Entwicklungspolitik auf dem Lande war der Massenexodus der kleinbäuerlichen Bevölkerung und deren Proletarisierung. Im Jahre 2000 lebten 3,15 Millionen Bauern/Bäuerinnen in Venezuela. Das waren rund zwölf Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 1957 waren es noch 37 Prozent der Bevölkerung. Diese Zunahme der Konzentration von Landbesitz vollzog sich auch durch Gewaltakte gegen Kleinbauern/bäuerinnen und indigene Gruppen.
Seit 1960 hat das Land Gesetze geschaffen und Politiken definiert, die der zunehmenden Konzentration von Landbesitz und der landwirtschaftlichen Produktion entgegenwirken sollten. Am fünften März 1960 wurde das Ley de Reforma Agrária – das Landreformgesetz – erlassen. Seitdem, bis 1993, wurden etwa zwölf Millionen Hektar Land, hauptsächlich aus der öffentlichen Hand, an 138.347 Familien verteilt. Der größte Teil dieser Familien erlangte keinen gesicherten Rechtstitel über ihre Landparzellen, und der Staat versäumte es, ein Programm zu gestalten, dass technische Hilfe zur Verfügung stellte oder den Zugang zu Kleinkrediten ermöglichte. Die auf dem Latifundium basierende Struktur blieb unangetastet, da der Großteil der Flächen an GroßgrundbesitzerInnen verteilt wurde. Das landwirtschaftliche Modell der „Grünen Revolution“ begünstigte die kapitalintensive Landwirtschaft. Und die Politik der Strukturanpassungsmaßnahmen, die von IWF und Weltbank propagiert wurde, reduzierte die Möglichkeiten staatlicher Einflussnahme, und verstärkte zudem die Landflucht.

Agrarreform von Hugo Chávez
Die Regierung von Hugo Chávez setzte die Agrar- und Lebensmittelfrage in das Zentrum ihrer Agenda. Zur wichtigsten Aufgabe des landwirtschaftlichen Sektors wurde die Gewährleistung der Ernährungssicherheit und -souveränität erklärt. Von nun an wurde der Staat als das entscheidende Subjekt bei der Planung der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion verstanden. Bei der Umsetzung dieser Planung vollzog sich die staatliche Aktion auf drei Hauptebenen: Der Schaffung eines rechtlichen Rahmens, der institutionelle Unterstützung sowie der Umsetzung einer Umverteilung und Unterstützung für kleinbäuerliche Familien.
Dem derzeitigen verfassungsrechtlichen Agrarsystem in Venezuela liegen als zentrale Prinzipien der Antilatifundismus, die landwirtschaftliche Produktivität, die nachhaltige Landwirtschaft und die soziale Gerechtigkeit zu Grunde.

Das neue Agrargesetz
Ende 2001 wurde das Ley de Tierras y Desarrollo Agrario (Gesetz für Böden und landwirtschaftliche Entwicklung) erlassen. Es ist der Dreh-und Angelpunkt des neuen rechtlichen Rahmens, der die Landfrage in Venezuela regelt. Das Gesetz sieht die Verteilung von Land genauso vor wie einen integrierten Plan für die ländliche Entwicklung, der auf Kooperation aufbauen soll.
Als das neue Agrargesetz angenommen wurde, radikalisierten sich die Positionen der Viehzucht-und AgrarindustrieunternehmerInnen – genauso wie bei dem neuen Fischereigesetz. Sie wurden zu den Hauptträgern der Opposition in den letzten Jahren. Die Viehzüchtervereinigung Fedenga (Federación de Ganaderos) führt die Kritik an dem neuen Gesetz an; dabei beruft sie sich vor allem auf die Verteidigung des Eigentumrechts und der freien Initiative.
Die Menschenrechtsorganisation Provea (Programa Venezuelano de Educación-Acción en Derechos Humanos) sieht in dem neuen Gesetz einen Fortschritt im Sinne des Rechtes auf Land, glaubt aber, dass es noch verbessert werden könnte. Provea kritisiert zum Beispiel, dass das Gesetz dem Zentralstaat eine zu große Rolle zuspricht: Dieser Zentralismus beschränke die Ausführung des Gesetzes und die demokratische Partizipation bei der Entscheidungsfindung.
Die Bauernorganisation Asociación Acción Campesina sieht zwar die Notwendigkeit für eine Agrarreform, formuliert aber auch zahlreiche Kritiken am neuen Gesetz. Die Organisation widerspricht vor allem dem Entwicklungskonzept und der Ansicht, dass der Staat der Unternehmer und der Lieferant sein soll, während den eigentlichen Produzenten in den Konzepten der Regierung nur die Rolle des/der bloßen NutznießerIn zufällt.
Die starke Polarisierung zwischen Regierung und Oposition hat bislang jegliche rationale Debatte über das für und wider des neuen Gesetzes verhindert. Anfang 2002 hat die Nationalversammlung einen Revisionsprozess für das Gesetz beschlossen, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Am 20. November 2002 annullierte das oberste Verfassungsgericht zwei Artikel des Landgesetzes, die als verfassungswidrig angesehen wurden, womit sie den Forderungen der Viehzüchtervereinigung Fedenaga teilweise nachgab.
Seit das Ley de Tierras erlassen wurde, hat die Regierung sich dafür engagiert, einen institutionellen Rückhalt für das Gesetz zu schaffen. So wurde das Nationale Landinstitut INTI (Instituto Nacional de Tierras), das Nationale Institut für ländliche Entwicklung INDER (Instituto Nacional de Desarollo Rural) und die Nationale Landwirtschaftsvereinigung (Corporación Agraria Nacional) gegründet. Diese Institutionen konsolidieren sich noch und haben große Schwierigkeiten damit, ihre gesetzlich vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen.

Der Plan Ezequiel Zamora
Im Februar 2003 hat die Regierung Venezuelas den Plan Zamora eingeleitet. Dieser Plan sieht eine massive Landverteilung an Kleinbauern/bäuerinnen vor, sowie Investitionen in Kredite, Bildung, Vertrieb, Häuserbau und Wasser- und Energieinfrastruktur. Der INTI zufolge sind von Februar bis August diesen Jahres 1.171.925 Hektar Land an 47.292 Personen verteilt worden. Laut Ricaurte L.Leonett, dem Präsidenten der INTI, ist das Ziel der Regierung, bis Dezember diesen Jahres noch 2 Millionen Hektar Land, 200 Traktoren und 50 Milliarden Bolivares an Krediten zu verteilen.
Die verteilten Flächen stammen ausschließlich aus Staatsbesitz. Bis jetzt ließ die Regierung die Latifundien unangetastet. Dennoch entwickelten sich Konflikte zwischen den privaten GroßgrundbesitzerInnen, dem Staat und der Landbevölkerung.

Herausforderungen an die Agrarreform in Venezuela
Der Agrarreformprozess geht voran, aber mit Schwierigkeiten. Die Reform beschneidet die Interessen und Privilegien derer, die sie sich über Jahrhunderte bewahren konnten. Diese Kräfte haben bereits bewiesen, dass sie zu allem bereit sind, um die Agrarreform zu verhindern. Sie schrecken auch vor einem Staatsstreich nicht zurück. Die Aktionen der Opposition haben schon manche Initiative der Regierung untergraben.
Trotz aller Fortschritte bleiben viele weitere Missstände bestehen. Der exzessive staatliche Zentralismus hat die demokratische Partizipation bei der Entscheidungsfindung eingeschränkt. Wichtige soziale Akteure, die bereit waren bei einer Agrarreform mitzuarbeiten, wurden von der Regierung einfach ignoriert. Eine breitere Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Kräften bei dem Prozess der Landreform würde unter anderem die staatlichen Interventionen besser qualifizieren und außerdem einen größeren gesellschaftlichen Rückhalt für die Agrarreform bedeuten.
Ein weitere Herausforderung für die Durchsetzung der Agrarreform ist die fehlende starke und organisierte Campesino-Bewegung. Die Regierung sieht sich keinem starken Wortführer in der ländlichen Bevölkerung gegenüberstehen. Die kleinbäuerlichen Organisationen sind noch zu klein und zu regional begrenzt. Die einflussreichste Campesino Organisation ist die Nationale Campesino Koordination „Ezequiel Zamora“. Sie besteht aus 22 Campesino- und indigenen Organisationen. Sie verbindet das Ziel, die Agrarreform zu beschleunigen und die Landflucht stoppen zu wollen. Dabei ist sie stark von der aggressiven Reaktion der Kräfte betroffen, die gegen eine Agrarreform eingestellt sind. In den letzten vier Jahren sind über 120 Campesino-AktivistInnen von Auftragsmördern getötet worden. Diese Verbrechen sind nicht bestraft worden.
Die Beendigung des Latifundiums, wie sie von dem Agrargesetz vorgesehen ist, setzt für die nächsten Jahre eine Enteignungspolitik im gesellschaftlichen Interesse voraus. Dies deutet auf eine weitere Verschärfung der Spannungen auf dem Land hin. Eine große Herausforderung für eine Regierung, die sich im permanenten Kampf um ihr politisches Überleben befindet.

Der Autor ist Koordinator für Südamerika bei der FIAN (FoodFirst Informations- und Aktionsnetzwerk)

Übersetzung: Thilo F. Papacek

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