Kuba | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

“Wake up, Castro”

“Wake up, Castro”

Wenn Neysi und Jorge morgens aufstehen, um sich zur Universität von La Habana zu begeben, erwartet sie gewöhnlich kein Frühstück. Das ihnen zuste­hende tägliche Brötchen war wieder nicht in der Bodega zu haben, der Reis von gestern längst verdaut. In der Mensa der Universität wird es dafür gegen Mittag einen Schlag Soja-Reis-Brei geben, der zwar nicht besonders schmeckt, noch den Hunger völlig stillen kann, so aber doch wenigstens dieses schmerzliche Leeregefühl in der Magengegend behebt.

Chris Mallmann

Letztes Jahr noch legte mensch hin und wie­der die fünf Kilometer zur Aula zu Fuß zurück, wenn die spärlichen Busse, wieder einmal hoffnungslos überfüllt, nicht an­halten wollten. Heute ist wenigstens das besser geworden: Die Spezialperiode zu Friedenszeiten, welche seit dem Zusam­menbruch der Handelsbeziehungen mit der ehemaligen Sowjetunion herrscht, brachte für jedeN zehnteN KubanerIn ein Fahrrad. Jorge ist einer dieser Glückli­chen. Neysi soll bald schon ebenfalls ein Fahrrad erhalten. Und mit der Wohnung, die Jorge von seiner Mutter geerbt hat – der Vater lebt seit acht Jahren in den Ver­einigten Staaten – gehören sie bestimmt zu den am besten ausgestatteten kubanischen Ehepaaren, die mensch in Havanna heute kennenlernen kann – Angehörige der Poli­tikerkaste selbstverständlich ausgenom­men.
Der Nachbarin geht es da schon schlech­ter: Sie teilt sich die halb so große Woh­nung mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihren eigenen beiden kleinen Kindern. Verglichen mit denen von gegenüber geht es ihr blendend: Dort wohnen vier ganze Familien auf der gleichen Fläche. Auch die Tatsache, daß sie heute wieder mal gar nicht erst auf der Arbeit erscheinen muß – ist es der Strommangel oder sind es die fehlenden Materialien, die heute die Pro­duktion lahmlegen?- bewegt sie nicht be­sonders. Mit dem staatlichen Lohn von knapp 150 Pesos kann sie ohnehin nicht mehr viel kaufen. Die staatlichen Läden sind leer, die wenigen noch produzierten Güter werden unterschlagen und auf dem Schwarzmarkt zu weit überhöhten Preisen verkauft. Sie muß es wissen, schließlich kauft sie jeden zweiten Tag von einem Arbeiter der Industriebäckerei die glei­chen Brötchen, die dann in der Bodega an der Ecke fehlen. Mit dem selbstgemachten Käse, den der “campesino” aus der Vor­stadt ihr verkauft, belegt sie die kleinen Dinger und verkauft sie an der eigenen Haustür für 12 Pesos das Stück. Vom ei­genen Monatslohn könnte sie sich so ganze 12 1/2 Brötchen leisten….
Noch vor vier Jahren konnte mensch zum staatlich garantierten Minimum von 100 Pesos das Notwendigste erwerben. Jorge Rodriguez, Journalist aus Havanna, re­cherchiert seit vielen Jahren die Entwick­lung des Schwarzmarktes der Stadt. Ein von ihm aufgestellter Warenkorb mit neun Gütern – enthalten sind neben Grundnah­rungsmitteln nur Seife und Brennstoff – hatte sich bis Ende 1991 schon um das Siebenfache verteuert! Seither läßt sich die rasende Verteuerung kaum noch nach­vollziehen. Der Dollar steht mittlerweile auf dem Schwarzmarkt bei 120 Pesos, während er offiziell 1:1 angeboten wird. Am Dollar hängt nun jeder weitere Peso­preis. Fällt der Peso, verteuert sich jedes Gut auf der Straße. Als der Peso im Vor­feld der Maiversammlung von 100 auf 120 pro Dollar fiel, kosteten die belegten Brötchen unserer Nachbarin am selben Tag statt 10 nun 12 Pesos. Am 1. Mai verkündete Fidel dann verschiedene Re­formmaßnahmen.
Reformen als Ausweg?
Private Wirtschaftstätigkeit soll nun wie­der zugelassen werden, auch besteuert soll sie werden. Und mit den hohen Subven­tionen des kubanischen Staates geht es zu Ende. Wurde noch Ende der Achtziger der Liberalisierungskurs in Moskau verteufelt, so unternimmt Kuba heute zähneknir­schend vergleichbare Maßnahmen: Dem rapide größer werdenden Schwarzmarkt­system wird nachgegeben, weil ihm per Plan nichts entgegenzusetzen ist. Privati­sierung im großen Stil muß Kuba sich nicht erst in ein paar Jahren vom Interna­tionalen Währungsfonds vorschreiben las­sen. In Kuba privatisiert die KubanerIn selbst – will sie überleben, so bleibt ihr keine Alternative!
Neysi und Jorge haben das schnell begrif­fen. Während Jorge mit geschickten Ge­schäften die Rohstoffe auf der “bolsa negra”, Havannas Schwarzmarkt besorgt, fertigt Neysi von Hand hübsche Leder­sandalen. Da es in ganz Havanna keine im Land hergestellten Schuhe für kubani­sches Geld zu kaufen gibt, können diese dann mit reißendem Absatz für bis zu fünf offizielle Monatsgehälter losgeschlagen werden. Importierte Schuhe gibt es zwar zu horrenden Dollarpreisen in den staatli­chen Dollarläden, aber nicht jeder hat Verwandte in den USA oder das gleiche Schwarzmarktgeschick wie unsere Nach­barin oder eben Jorge und Neysi. “Luchar”, spanisch für kämpfen, nennt mensch diese Schwarzmarktbeschäftigung im heutigen Havanna. “Hacer un buen pan” beschreibt dann auch weniger die glückliche Arbeit des Bäckers, als den er­folgreichen Abschluß eines kleinen oder großen Geschäfts auf der “bolsa negra”. Die Kinder und Enkel der Revolutionäre von gestern kämpfen wieder, immer noch für das Gleiche: Ein menschenwürdiges Leben und etwas im Magen.
Trotz kriegerischer Anti-Markt-Parolen ist Kuba seit über 10 Jahren an einer Gene­ralüberholung der Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Mitteln interessiert. Von Seiten des Ostblocks ist Castros ein­wandfreie und linientreue Ideologie im­mer wieder in Frage gestellt worden, von Seiten des nördlichen, imperialistischen Nachbarn bekanntlich weniger. An seiner nationalistischen Grundeinstellung, der Liebe zum kubanischen Volk, zweifelten beide Seiten jedoch nie. Mit marktorien­tierten Reformen unternimmt Kuba nun einen Rettungsversuch. Höchste Zeit, so ist mensch versucht zu sagen, denn noch sind nicht alle Errungenschaften der Re­volution verspielt, noch besitzt die Füh­rung vielleicht genug Glaubwürdigkeit, um die zweifelsfrei harten An­pas­sungs­maß­nah­men durchzuführen. Der nationale Kon­sens wird dabei auf eine harte Probe ge­stellt werden; die Kubane­rInnen sind in­des Leid gewohnt.
Harte Zukunft
“Even if Castro wakes up tomorrow as a born-again capitalist” schreibt Eliana Cardoso in “Cuba after Communism”, wird der Übergang sehr hart. Die Privati­sierung via “bolsa negra” ist bereits in vollem Gange, da konnte nicht länger auf das Aufwachen der Herren der Nomen­klatura gewartet werden. Um die Markt­wirtschaft jedoch geregelt einzuführen, müßten dringend Reformen in der richti­gen Reihenfolge implentiert werden. Die Einführung eines Steuersystems stände da durchaus im Vordergrund, gleichrangig mit der notwendigen Liberalisierung der Produktionstätigkeit.
Einige WissenschaftlerInnen räumen Kuba gute Chancen ein, bei Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems trotz zu erwartender groß Anfangsschwierig­keiten, die Entwicklungserfolge hinüber­zuretten. Bei Aufhebung des Handelsem­bargos durch die USA und späterem NAFTA-Beitritt, so manche Wis­sen­schaft­lerInnen in den USA, könn­ten die Deviseneinnahmen Kubas inner­halb von fünf Jahren auf das fünffache, oder fast zehn Milliarden Dollar anstei­gen. Ver­glichen mit den Chancen der RGW-Bruderländer von gestern wären dies geradezu rosige Aussichten!

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