“Wake up, Castro”
“Wake up, Castro”
Letztes Jahr noch legte mensch hin und wieder die fünf Kilometer zur Aula zu Fuß zurück, wenn die spärlichen Busse, wieder einmal hoffnungslos überfüllt, nicht anhalten wollten. Heute ist wenigstens das besser geworden: Die Spezialperiode zu Friedenszeiten, welche seit dem Zusammenbruch der Handelsbeziehungen mit der ehemaligen Sowjetunion herrscht, brachte für jedeN zehnteN KubanerIn ein Fahrrad. Jorge ist einer dieser Glücklichen. Neysi soll bald schon ebenfalls ein Fahrrad erhalten. Und mit der Wohnung, die Jorge von seiner Mutter geerbt hat – der Vater lebt seit acht Jahren in den Vereinigten Staaten – gehören sie bestimmt zu den am besten ausgestatteten kubanischen Ehepaaren, die mensch in Havanna heute kennenlernen kann – Angehörige der Politikerkaste selbstverständlich ausgenommen.
Der Nachbarin geht es da schon schlechter: Sie teilt sich die halb so große Wohnung mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihren eigenen beiden kleinen Kindern. Verglichen mit denen von gegenüber geht es ihr blendend: Dort wohnen vier ganze Familien auf der gleichen Fläche. Auch die Tatsache, daß sie heute wieder mal gar nicht erst auf der Arbeit erscheinen muß – ist es der Strommangel oder sind es die fehlenden Materialien, die heute die Produktion lahmlegen?- bewegt sie nicht besonders. Mit dem staatlichen Lohn von knapp 150 Pesos kann sie ohnehin nicht mehr viel kaufen. Die staatlichen Läden sind leer, die wenigen noch produzierten Güter werden unterschlagen und auf dem Schwarzmarkt zu weit überhöhten Preisen verkauft. Sie muß es wissen, schließlich kauft sie jeden zweiten Tag von einem Arbeiter der Industriebäckerei die gleichen Brötchen, die dann in der Bodega an der Ecke fehlen. Mit dem selbstgemachten Käse, den der “campesino” aus der Vorstadt ihr verkauft, belegt sie die kleinen Dinger und verkauft sie an der eigenen Haustür für 12 Pesos das Stück. Vom eigenen Monatslohn könnte sie sich so ganze 12 1/2 Brötchen leisten….
Noch vor vier Jahren konnte mensch zum staatlich garantierten Minimum von 100 Pesos das Notwendigste erwerben. Jorge Rodriguez, Journalist aus Havanna, recherchiert seit vielen Jahren die Entwicklung des Schwarzmarktes der Stadt. Ein von ihm aufgestellter Warenkorb mit neun Gütern – enthalten sind neben Grundnahrungsmitteln nur Seife und Brennstoff – hatte sich bis Ende 1991 schon um das Siebenfache verteuert! Seither läßt sich die rasende Verteuerung kaum noch nachvollziehen. Der Dollar steht mittlerweile auf dem Schwarzmarkt bei 120 Pesos, während er offiziell 1:1 angeboten wird. Am Dollar hängt nun jeder weitere Pesopreis. Fällt der Peso, verteuert sich jedes Gut auf der Straße. Als der Peso im Vorfeld der Maiversammlung von 100 auf 120 pro Dollar fiel, kosteten die belegten Brötchen unserer Nachbarin am selben Tag statt 10 nun 12 Pesos. Am 1. Mai verkündete Fidel dann verschiedene Reformmaßnahmen.
Reformen als Ausweg?
Private Wirtschaftstätigkeit soll nun wieder zugelassen werden, auch besteuert soll sie werden. Und mit den hohen Subventionen des kubanischen Staates geht es zu Ende. Wurde noch Ende der Achtziger der Liberalisierungskurs in Moskau verteufelt, so unternimmt Kuba heute zähneknirschend vergleichbare Maßnahmen: Dem rapide größer werdenden Schwarzmarktsystem wird nachgegeben, weil ihm per Plan nichts entgegenzusetzen ist. Privatisierung im großen Stil muß Kuba sich nicht erst in ein paar Jahren vom Internationalen Währungsfonds vorschreiben lassen. In Kuba privatisiert die KubanerIn selbst – will sie überleben, so bleibt ihr keine Alternative!
Neysi und Jorge haben das schnell begriffen. Während Jorge mit geschickten Geschäften die Rohstoffe auf der “bolsa negra”, Havannas Schwarzmarkt besorgt, fertigt Neysi von Hand hübsche Ledersandalen. Da es in ganz Havanna keine im Land hergestellten Schuhe für kubanisches Geld zu kaufen gibt, können diese dann mit reißendem Absatz für bis zu fünf offizielle Monatsgehälter losgeschlagen werden. Importierte Schuhe gibt es zwar zu horrenden Dollarpreisen in den staatlichen Dollarläden, aber nicht jeder hat Verwandte in den USA oder das gleiche Schwarzmarktgeschick wie unsere Nachbarin oder eben Jorge und Neysi. “Luchar”, spanisch für kämpfen, nennt mensch diese Schwarzmarktbeschäftigung im heutigen Havanna. “Hacer un buen pan” beschreibt dann auch weniger die glückliche Arbeit des Bäckers, als den erfolgreichen Abschluß eines kleinen oder großen Geschäfts auf der “bolsa negra”. Die Kinder und Enkel der Revolutionäre von gestern kämpfen wieder, immer noch für das Gleiche: Ein menschenwürdiges Leben und etwas im Magen.
Trotz kriegerischer Anti-Markt-Parolen ist Kuba seit über 10 Jahren an einer Generalüberholung der Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Mitteln interessiert. Von Seiten des Ostblocks ist Castros einwandfreie und linientreue Ideologie immer wieder in Frage gestellt worden, von Seiten des nördlichen, imperialistischen Nachbarn bekanntlich weniger. An seiner nationalistischen Grundeinstellung, der Liebe zum kubanischen Volk, zweifelten beide Seiten jedoch nie. Mit marktorientierten Reformen unternimmt Kuba nun einen Rettungsversuch. Höchste Zeit, so ist mensch versucht zu sagen, denn noch sind nicht alle Errungenschaften der Revolution verspielt, noch besitzt die Führung vielleicht genug Glaubwürdigkeit, um die zweifelsfrei harten Anpassungsmaßnahmen durchzuführen. Der nationale Konsens wird dabei auf eine harte Probe gestellt werden; die KubanerInnen sind indes Leid gewohnt.
Harte Zukunft
“Even if Castro wakes up tomorrow as a born-again capitalist” schreibt Eliana Cardoso in “Cuba after Communism”, wird der Übergang sehr hart. Die Privatisierung via “bolsa negra” ist bereits in vollem Gange, da konnte nicht länger auf das Aufwachen der Herren der Nomenklatura gewartet werden. Um die Marktwirtschaft jedoch geregelt einzuführen, müßten dringend Reformen in der richtigen Reihenfolge implentiert werden. Die Einführung eines Steuersystems stände da durchaus im Vordergrund, gleichrangig mit der notwendigen Liberalisierung der Produktionstätigkeit.
Einige WissenschaftlerInnen räumen Kuba gute Chancen ein, bei Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems trotz zu erwartender groß Anfangsschwierigkeiten, die Entwicklungserfolge hinüberzuretten. Bei Aufhebung des Handelsembargos durch die USA und späterem NAFTA-Beitritt, so manche WissenschaftlerInnen in den USA, könnten die Deviseneinnahmen Kubas innerhalb von fünf Jahren auf das fünffache, oder fast zehn Milliarden Dollar ansteigen. Verglichen mit den Chancen der RGW-Bruderländer von gestern wären dies geradezu rosige Aussichten!